Hubert Aiwanger bei seinem Pressestatement am Donnerstag
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Hubert Aiwanger bei seinem Pressestatement am Donnerstag

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Hubert Aiwanger als Schüler: "Unauffällig" oder antisemitisch?

Rechtsradikales Flugblatt, Juden-Witze, Hitlergruß: Einen Teil der Vorwürfe weist Hubert Aiwanger zurück, andere bestätigt er, manches weiß er nicht mehr. Mitschüler und Lehrer haben unterschiedliche Erinnerungen – offen reden wenige. Ein Überblick.

Über dieses Thema berichtet: report MÜNCHEN am .

Jubel, Applaus und "Hubert"-Rufe bei seinen Auftritten im Bierzelt, draußen holen ihn schnell wieder Antisemitismus-Vorwürfe, kritische Fragen und Rücktrittsforderungen ein: Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) erlebt die wohl turbulentesten Tage seines politischen Lebens. Die Anschuldigungen zu seinem Verhalten als Schüler vor dreieinhalb Jahrzehnten dominieren seit einer Woche die politische Debatte in Bayern.

Gerade einmal 105 Sekunden dauerte Aiwangers Pressestatement am Donnerstag – und der Minister schlug in wenigen Sätzen den Bogen von Bedauern hin zum Gegenvorwurf einer politischen Kampagne. Einen Teil der Anschuldigungen streitet er ab, andere räumt er ein, an manches kann er sich nach eigenem Bekunden nicht erinnern.

BR-Reporterinnen und Reporter sprachen in den vergangenen Tagen mit vielen früheren Mitschülern und Lehrern über ihre Zeit mit Aiwanger am Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg Ende der 1980er Jahre. Nur ein kleinerer Teil von ihnen war bereit, sich offen zu äußern. Während einige den jungen Hubert als unauffälligen Jugendlichen beschreiben, halten andere an ihren Vorwürfen fest. Welche Anschuldigungen stehen bisher im Raum? Was sagt Hubert Aiwanger? Warum sind die Vorwürfe gerade jetzt öffentlich geworden? Ein Überblick.

Vorwürfe: Juden-Witze und Hitlergruß

Nachdem es tagelang nur anonyme Anschuldigungen gegen Hubert Aiwanger gegeben hatte, äußerte sich am Dienstagabend erstmals ein ehemaliger Mitschüler vor einer Kamera: Mario Bauer, der von der 7. bis zur 9. Jahrgangsstufe mit Aiwanger in einer Klasse war, anschließend eine Stufe unter ihm. Im Interview für das ARD-Politikmagazin "report München" schilderte Bauer, dass Aiwanger in der Schule ab und zu "den Hitlergruß" gezeigt und "Hitler-Reden imitiert" habe. Auch habe er öfter Witze über Juden und das KZ Auschwitz erzählt.

Unabhängig davon sagte ein weiterer Ex-Mitschüler BR24, rund um den gemeinsamen Besuch einer KZ-Gedenkstätte habe Aiwanger einen Witz über Juden erzählt, "der mir als sehr abstoßend in Erinnerung geblieben ist". Namentlich genannt werden will der Mann zum Schutz von Angehörigen nicht, er gab aber eine eidesstattliche Versicherung ab. Den judenfeindlichen Witz hat er der BR24-Redaktion wiedergegeben, wollte ihn wegen dessen Heftigkeit aber nicht veröffentlich sehen. Aiwangers politische Haltung war nach Einschätzung des Ex-Mitschülers "damals auf jeden Fall deutlich rechts der CSU angesiedelt und von nationalsozialistischem Gedankengut geprägt".

Ex-Mitschüler: "Ganz normaler Typ"

Auch andere Schulkameraden schilderten ihre Erinnerungen, zum Teil auch weitere Vorwürfe – der BR verwendet für seine Berichte in diesem Fall aber ausschließlich Aussagen, die die Zeugen offen erzählen und/oder mit einer eidesstattlichen Versicherung bekräftigen.

Namentlich geäußert hat sich mit Christian Augsburger noch ein Kollegstufen-Kamerad Aiwangers, der mit ihm aber lange Jahre nicht in einer Klasse war und auch keine Abi-Kurse mit ihm belegte. Er habe Aiwanger erst mehrere Jahre später bei einem späteren Praktikum näher kennengelernt, erzählte er. "Ich habe ihn als einen sehr ruhigen und korrekten Mitschüler sowie fleißigen Mitpraktikanten erlebt. Ein ganz normaler Typ eben." Zu den Vorwürfen anderer Mitschüler könne er nichts sagen, da er davon nichts mitbekommen habe. Ein weiterer Schulkamerad, jünger als Hubert Aiwanger, er besuchte nie die gleiche Klasse, erlebte ihn aber im Schulbus. Seiner Erinnerung nach war er "nicht rechts", habe keinen Hitlergruß gemacht, sondern sei unauffällig gewesen.

Die Säureattacke

Auch Lehrerin Gudrun Arnold, die dem BR eine Bestrafung Hubert Aiwangers in einem ganz anderen Fall schilderte, bekam nach eigenen Angaben nichts von einer rechtsradikalen Orientierung mit. Arnold war Kunstlehrerin und versicherte dem BR eidesstattlich, dass sie von Hubert Aiwanger in der neunten Klasse von hinten mit einer ätzenden Flüssigkeit bespritzt worden sei. Die Substanz habe Löcher in ihre Kleidung geätzt. Auch eine zweite Lehrerin soll betroffen gewesen sein. "Gott sei Dank wurde mein Gesicht nicht getroffen", sagte Arnold. "Ich war durch den Vorfall geschockt."

Die Strafe für Hubert Aiwanger sei ein Direktoratsverweis gewesen. Die Eltern hätten die Kleidung ersetzen müssen. Hubert Aiwanger ließ eine Anfrage von BR24 mit Bitte um Stellungnahme dazu unbeantwortet.

Das rechtsradikale Flugblatt

Ausgelöst hatte das politische Beben vor einer Woche ein Bericht der "Süddeutschen Zeitung" über ein rechtsradikales Flugblatt, das im Schuljahr 1987/88 am Burkhart-Gymnasium in Niederbayern aufgetaucht worden war. Der Elftklässler Hubert Aiwanger sei vom Disziplinarausschuss der Schule zur Verantwortung gezogen worden und habe als Strafe ein Referat über den Nationalsozialismus halten sollen. In der Hetzschrift, die dem BR vorliegt, geht es um einen fiktiven "Bundeswettbewerb" mit dem Titel "Wer ist der größte Vaterlandsverräter?". Als erster Preis wird "ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz" genannt, vierter Preis ist ein "einjähriger Aufenthalt in Dachau". Zudem ist vom "Vergnügungsviertel Auschwitz" die Rede.

Angestoßen hatte die Berichterstattung ein früherer Lehrer. Dem BR versicherte er seine Aussagen an Eides statt, möchte aber anonym bleiben. "Hubert Aiwanger saß im Vorzimmer des Direktorats als einziger Beschuldigter", erinnerte er sich. Zunächst habe der Schüler im Sekretariat seine Unschuld beteuert, dann habe der damalige Direktor unter vier Augen mit ihm gesprochen. Da in Hubert Aiwangers Tasche Flugblätter gefunden worden seien, "galt er als überführt". Aus Sicht der Lehrer damals sei es "eine Ein-Mann-Aktion" gewesen. Deswegen habe der Disziplinarausschuss, dem er angehört habe, eine Strafe gegen Aiwanger verhängt.

Keiner der Schulkameraden, mit denen der BR gesprochen hat, erinnert sich daran, damals etwas von dem Flugblatt mitbekommen zu haben. Ein Schüler hatte das Papier in seine historische Arbeit aufgenommen, die prämiert wurde und in mehreren Bibliotheken - auch in der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem - aufbewahrt wird. Er hatte das Flugblatt nach eigenem Bekunden nicht selbst gefunden, sondern es von seinem Lehrer erhalten.

Was sagt Hubert Aiwanger zum Flugblatt?

Fast 24 Stunden nach Veröffentlichung des ersten Berichts reagierte Aiwanger per Pressemitteilung: "Ich habe das fragliche Papier nicht verfasst und erachte den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend", teilte der Freie-Wähler-Chef vor einer Woche mit.

Einen zentralen weiteren Vorwurf räumte er dagegen ein: In seiner Schultasche seien "ein oder wenige Exemplare" gefunden worden. "Daraufhin wurde ich zum Direktor einbestellt. Mir wurde mit der Polizei gedroht, wenn ich den Sachverhalt nicht aufkläre." Als Ausweg sei ihm angeboten worden, ein Referat zu halten. "Dies ging ich unter Druck ein." Ob er einzelne Exemplare des "ekelhaften" Papiers weitergegeben habe, sei ihm "nicht mehr erinnerlich".

Kurz darauf überraschte Aiwangers älterer Bruder Helmut im Gespräch mit der Mediengruppe Bayern mit der Aussage: "Ich bin der Verfasser dieses in der Presse wiedergegebenen Flugblatts." Vom Inhalt distanziere er sich und bedauere die Folgen. Geschrieben habe er es aus Wut darüber, dass er in der Schule durchgefallen sei.

Wie reagiert Aiwanger auf weitere Vorwürfe?

Bei seinem Pressestatement am Donnerstag sprach Hubert Aiwanger erstmals von "Verfehlungen" in seiner Jugend: "Ich bereue zutiefst, wenn ich durch mein Verhalten in Bezug auf das in Rede stehende Pamphlet oder weitere Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit Gefühle verletzt habe. Meine aufrichtige Entschuldigung gilt zuvorderst allen Opfern des NS-Regimes, deren Hinterbliebenen und allen Beteiligten an der wertvollen Erinnerungsarbeit."

Zugleich gab Aiwanger an, er könne sich nicht erinnern, je einen Hitlergruß gezeigt zu haben. "Ich habe keine Hitler-Reden vor dem Spiegel einstudiert." Zum Vorwurf, judenfeindliche Witze erzählt haben, sagte der Minister: Er könne das aus seiner Erinnerung weder vollständig dementieren noch bestätigten. "Sollte dies geschehen sein, so entschuldige ich mich dafür in aller Form."

Warum wurden die Vorwürfe erst jetzt bekannt?

Der Ex-Lehrer schilderte dem BR, dass Aiwangers umstrittene Rede auf einer Demonstration in Erding im Juni der Auslöser gewesen sei, nach all den Jahren mit der Presse zu sprechen: "Wenn ein durch demokratische Wahlen in höchste Staatsämter Gekommener behauptet, Leute wie er müssten die Demokratie zurückholen, dann heißt das, wir hätten keine Demokratie."

Der Ex-Mitschüler, der vom Juden-Witz auf Klassenfahrt erzählt hatte, teilt BR24 mit, er habe jahrelang "nicht genug Gründe" gesehen, seine Erinnerungen öffentlich zu teilen. Jeder könne sich in der Jugend mal "auf dem falschen Gleis bewegen" und sich ändern. "Erst die für mich uneinsichtig wirkenden Reaktionen der Aiwanger-Brüder auf das Flugblatt haben mich dazu bewegt, einen kleinen Beitrag zur Wahrheitsfindung zu leisten." Er selbst habe keine politischen oder finanziellen Nutzen von seinen Aussagen, betont der Mann. "Außerdem bin ich weder Mitglied einer Partei, noch hege ich Hubert Aiwanger gegenüber Neid- oder Rachegefühle."

Wie reagieren die Zeugen auf Aiwangers Stellungnahme?

Aiwanger beklagte in den vergangenen Tagen mehrfach eine "Schmutzkampagne" gegen ihn, man wolle ihn persönlich und politisch fertig machen. "Dies war nie meine Intention", betont der Ex-Mitschüler. "Wäre eine ehrliche, entschuldigende Reaktion von Huber Aiwanger bereits unmittelbar nach Veröffentlichung des 'SZ'-Artikels erfolgt, hätte ich keinen Anlass gesehen, BR24 meine Erinnerungen preiszugeben". Er akzeptiere "die Entschuldigung von Hubert" und wünsche sich von ihm eine "menschenfreundliche Politik für alle Menschen jeglicher Herkunft und Gesinnung, die in Bayern leben".

Der pensionierte Lehrer stört sich am Wort "Schmutzkampagne". Dazu sei zu fragen, "wer den 'Schmutz' in die Welt gesetzt" habe, sagt er mit Blick auf das Flugblatt. Erkennbar werde ein Strategiewechsel: Über den Inhalt und die "Gewaltphantasien" des Flugblatts werde nicht mehr geredet. "Als böse Buben werden jetzt die hingestellt, die den "Schmutz' aufgedeckt haben."

Keine Schuldokumente vorhanden

Offizielle Schul-Dokumente werden bei der Aufklärung des Falls wohl nicht helfen können. Nach Auskunft des aktuellen Schulleiters des Burkhart-Gymnasiums seien dort keine Unterlagen zum Fall Aiwanger im Schuljahr 1987/88 vorhanden, teilte das Kultusministerium mit. Auch an der Dienststelle des Ministerialbeauftragten für die Gymnasien in Niederbayern gebe es keine Unterlagen zu der Angelegenheit. Das stehe im Einklang mit den vorgegebenen Aufbewahrungsfristen. Weitere Prüfungen müssten gegebenenfalls noch abgewartet werden. "Das Staatsministerium steht mit der Schule in Kontakt", hieß es.

Wie geht es weiter?

Bei einem Krisentreffen von CSU und Freien Wählern hatte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) seinen Minister am Dienstag aufgefordert, rasch und umfassend 25 Fragen zu allen Vorwürfen schriftlich zu beantworten. Am Freitagabend gingen die Antworten laut Staatskanzlei ein, zum Inhalt war zunächst nichts bekannt. Auf dieser Grundlage will Söder eine "glaubwürdige Diskussion darüber führen (...), wie wir das bewerten". Es dürfe kein Verdacht übrig bleiben. Wie schnell der Ministerpräsident eine Entscheidung über das weitere Vorgehen treffen wird, ist offen.

Unabhängig davon haben die Landtagsfraktionen von Grünen, SPD und FDP gemeinsam eine Sondersitzung des Landtags zu dem Thema beantragt. Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) wird daher für nächsten Donnerstag eine Sitzung des sogenannten Zwischenausschusses einberufen. Dieses Gremium war zur Behandlung dringlicher Angelegenheiten in der parlamentarischen Pause bis zur Landtagswahl am 8. Oktober eingesetzt worden. Die Oppositionsfraktionen wollen, dass Aiwanger dem Landtag Rede und Antwort steht.

Im Video: Statement von Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger

Hubert Aiwanger
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Bayerns Wirtschaftsminister Aiwanger hat für mögliche Verfehlungen in seiner Jugend um Verzeihung gebeten.

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