Seit gut einer Woche stehen die Vorwürfe in der Flugblatt-Affäre gegen den Chef der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, im Raum. Seitdem hat er sich mehrfach geäußert, allerdings immer wieder Raum für Spekulation gelassen.
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Seit gut einer Woche stehen die Vorwürfe in der Flugblatt-Affäre gegen Hubert Aiwanger im Raum.

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Flugblatt-Affäre: Welche Rolle spielt Aiwangers Kommunikation?

Seit gut einer Woche stehen die Vorwürfe in der Flugblatt-Affäre gegen den Chef der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, im Raum. Seitdem hat er sich mehrfach geäußert, allerdings immer wieder Raum für Spekulation gelassen.

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Als am vergangenen Samstag alles brodelt und kocht, da bleibt einer still, der sonst nicht verlegen ist, selbst zu brodeln und zu kochen: Hubert Aiwanger. Der Bericht der Süddeutschen Zeitung ist da noch nicht lange öffentlich: Aiwanger soll ein antisemitisches Flugblatt verfasst haben. Dass die Sache später noch eine andere Wendung nehmen wird, ist noch nicht klar.

Aiwanger - anstatt Stellung zu nehmen - zieht sich an diesem Tag erst einmal aus der Öffentlichkeit zurück. Die Eröffnung des Augsburger Herbstplärrers sagt er ab. Auf dem Nachrichtendienst "X", ehemals Twitter: Funkstille.

Am späten Nachmittag lässt Aiwanger über einen Sprecher mitteilen: "Ich habe das fragliche Papier nicht verfasst und erachte den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend. Der Verfasser des Papiers ist mir bekannt, er wird sich selbst erklären." Kurz darauf räumt Aiwangers Bruder Helmut ein, das Flugblatt verfasst zu haben.

Welche Rolle spielt Aiwangers Kommunikation?

Diese ersten Stunden in der Flugblatt-Affäre sind beispielhaft für das, was sich in den kommenden Tagen immer wieder wiederholen wird. Es ist ein Gemisch aus Vorwürfen und Gegenvorwürfen, Schweigen, öffentlichem Druck und schließlich Aussagen Aiwangers, die erneut Fragen aufwerfen. Welche Rolle also spielt die Kommunikation von Hubert Aiwanger selbst in der Flugblatt-Affäre?

Krisenkommunikation muss klar sein

In der Krisenkommunikation brauche es immer eine klare Linie, sagt Frank Roselieb, der geschäftsführende Direktor des Instituts für Krisenforschung in Kiel. Er beobachtet schon lange, wie sich Politiker in bestimmten Krisen verhalten – und welche Konsequenzen das hat. Zur Flugblatt-Affäre sagt er: "Da wäre es die Aufgabe von Aiwanger gewesen, seine Kernbotschaft noch klarer zu formulieren und in Dauerschleifen noch deutlicher zu wiederholen." Das aber vermisse er bei den Freien Wählern und Hubert Aiwanger. Bis heute.

Hat Aiwanger gelogen?

Die Kommunikation von Hubert Aiwanger beginnt noch bevor die Vorwürfe überhaupt öffentlich werden. Am 17. August schickt die Süddeutsche Zeitung laut eigenen Angaben das erste Mal einen Fragenkatalog an den Chef der Freien Wähler. Die Journalisten erkundigen sich nach verschiedenen Vorwürfen. Ein Sprecher weist sie nach Angaben der SZ pauschal zurück. Dass Aiwanger das Flugblatt nicht geschrieben habe, ist die einzige Aussage, die es damals gibt.

Am Samstag, nach der Veröffentlichung, räumt Aiwanger hingegen einen Teil der Vorwürfe ein. Es sei ein Flugblatt in seiner Tasche gefunden worden. Er sei zum Direktor gerufen worden. Er habe ein Referat zur Strafe halten müssen. Seine Kritiker werfen ihm daraufhin vor, zuvor gelogen zu haben. Aiwanger sagt in einem Interview mit der Zeitung "Welt" später, der Sprecher habe nicht gelogen: "Wir haben eine Antwort auf mehrere Fragen geschickt, von denen einige falsche Behauptungen beinhaltet hatten."

Wahrhaftigkeit in der Krisenkommunikation

"Wir unterscheiden in der Krisenkommunikation immer zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit", sagt Frank Roselieb. Die Aussage von Aiwanger sei damals sachlich richtig gewesen: Er habe das Flugblatt nicht verfasst. "Aber sie war eben nicht wahrhaftig. Das heißt, es fehlte der Zusatz, dass er das Flugblatt sehr wohl kannte und mutmaßlich auch in seinem Schulranzen hatte." Schon zu Beginn hätte Aiwanger sein Bedauern stärker zum Ausdruck bringen müssen, meint Roselieb.

Raum für Spekulation

Bis zu einer öffentlichen Entschuldigung wird es von da an aber noch einige Tage dauern. Stattdessen werden immer mehr Vorwürfe bekannt und Aiwangers Äußerungen lassen Raum für Spekulationen.

Dem Bayerischen Rundfunk sagt ein ehemaliger Schulkamerad: Aiwanger habe den Hitlergruß gezeigt. Die Süddeutsche Zeitung berichtet von den Aussagen einer früheren Schulfreundin: Aiwanger habe Hitlers "Mein Kampf" in der Schultasche getragen.

Aiwanger sagt Mittwochabend: "Es ist auf jeden Fall so, dass in der Jugendzeit das ein oder andere so oder so interpretiert werden kann, was als 15-Jähriger hier mir vorgeworfen wird. Aber auf alle Fälle, ich sage: seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte, kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund." Später wird er korrigieren: Er sei nie Antisemit oder Extremist gewesen.

In der Krise ist Aufklärung gefordert

Die Frage ist, ob die Affäre anders beurteilt würde, wenn sich Aiwanger von Anfang an klar geäußert hätte. Wenn er, anstatt zu reagieren, proaktiv mit den Vorwürfen umgegangen wäre. Wenn er von Anfang an Reue und Bedauern zum Ausdruck gebracht hätte. Roselieb sagt: "In der Sprache der Krisenkommunikation muss ein Politiker immer versuchen, vor die Lage zu kommen." Er sollte sich also bei der Aufklärung nicht treiben lassen, sondern selbst Beiträge zur Aufklärung leisten.

Es geht auch um Glaubwürdigkeit

Allerdings: Wie kann Aufklärung aussehen in einem Fall, der mehr als 35 Jahre zurückliegt, der emotional und politisch aufgeladen ist? In dem Beweise kaum mehr vorhanden sind und Zeugen in Zweifel gezogen werden? In dem Fall geht es also im Kern um die Frage, wie glaubwürdig Hubert Aiwanger auftritt.

Roselieb sagt: Aiwanger sei in einer "Lose-lose-Situation". Egal, was er sage, es werde ihm kaum helfen. Denn Aiwangers Verhalten in den vergangenen Jahren habe dazu geführt, dass die nun diskutierten Vorfälle in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit eben nicht verjährt seien. "Sie leben vielmehr - überspitzt formuliert - als Grenzüberschreitung in der heutigen Person Hubert Aiwanger weiter."

Zwischen Klarheit und Populismus

Tatsächlich fallen die Vorwürfe gegen Aiwanger bei einigen auf einen Resonanzboden. Aiwanger ist ein Politiker, der "dem Volk auf den Mund schaut", nur selten ein Blatt vor den Mund nimmt und sich am Rande dessen bewegt, was einige als sagbar empfinden.

Zum Beispiel 2021: Söder wollte damals mehr Freiheiten für Geimpfte. Aiwanger kündigte Widerstand an. Sonst drohe eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in eine Apartheidsdiskussion kommen." Oder kürzlich, bei einer Demo in Erding: Ob die Politiker in Berlin eigentlich "den Arsch offen" hätten, schrie Aiwanger in die Menge. Und: Man müsse sich die Demokratie zurückholen.

Aiwangers Anhänger sagen dazu: Er sage, was sie denken. Aiwangers Kritiker sehen Populismus. Beide Gruppen dürften auch die derzeitige Debatte unterschiedlich bewerten – und unterschiedliche Anforderungen an die Aufarbeitung haben.

Entschuldigung und Vorwürfe

Am Donnerstagnachmittag tritt Hubert Aiwanger dann noch einmal vor die Presse. Der Termin ist kurzfristig anberaumt. Aiwanger, für ihn untypisch, liest von einem Blatt.

"Ich bereue zutiefst", sagt er, "wenn ich durch mein Verhalten in Bezug auf das in Rede stehende Pamphlet oder weitere Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit Gefühle verletzt habe. Meine aufrichtige Entschuldigung gilt zuvorderst allen Opfern des NS-Regimes, deren Hinterbliebenen und allen Beteiligten an der wertvollen Erinnerungsarbeit." Aiwanger weist zurück, Hitler-Reden vor dem Spiegel einstudiert zu haben. Andere Vorwürfe könne er aus seiner Erinnerung "weder vollständig dementieren noch bestätigen". Am Ende sagt er: "Ich habe den Eindruck, ich soll politisch und persönlich fertiggemacht werden."

Kurz darauf legte er in einem Interview mit der Zeitung "Welt" nach und warf der SZ eine Kampagne vor. Heute im Bierzelt sagte er: Das Flugblatt sei scheußlich, keine Frage. Und: er habe in seiner Jugend "Scheiß und Mist" gemacht. Aber, so Aiwanger: "Ich finde es nicht akzeptabel, dass aus dem jugendlichen Alter Dinge hervorgegraben werden – so ärgerlich sie sind – und zu sagen: 'Jetzt musst du über die Klinge springen.' Wenn diese Maßstäbe Einzug halten, dann Gnade uns Gott."

Gut eine Woche später die gleichen offenen Fragen

Aiwanger fahre das Modell "Entschuldigung, aber...", sagt Roselieb. "Zum einen schwächt es das zuvor Gesagte natürlich ab." Zum anderen mache das Nebenkriegsschauplätze auf, die dem Thema neue Nahrung geben.

Gut eine Woche nach der Veröffentlichung stehen also noch immer die gleichen Fragen im Raum: Was ist passiert? Was sagt das über Hubert Aiwanger aus? Und wie geht es weiter?

Etwas mehr Klarheit sollen 25 Fragen geben, die Aiwanger im Auftrag Söders beantworten soll. Bis zu diesem Freitagabend könnte das geschehen. Ob der Fragebogen nach der vergangenen Woche allerdings tatsächlich Klarheit bringen wird: fraglich.

"Letztlich", sagt Roselieb, "entscheiden in der Demokratie immer die Wähler, ob sie den Freien Wählern weiter vertrauen und auch weiter hinter Aiwanger stehen."

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