Minister Hubert Aiwanger verlässt die Michaelismesse, während Ministerpräsident Markus Söder (CSU, hinten) nach seiner Ankunft am Riesenrad steht
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Minister Hubert Aiwanger verlässt die Michaelismesse, während Ministerpräsident Markus Söder (CSU, hinten) nach seiner Ankunft am Riesenrad steht

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Fall Aiwanger: Hubert gibt sich gelassen, Helmut legt nach

Bayerns Vize-Ministerpräsident Aiwanger spielt offene Fragen zu dem antisemitischen Flugblatt herunter, seine Verteidigung übernimmt wieder Bruder Helmut. Die Fragezeichen aber bleiben. Die Opposition macht Druck, in der CSU nimmt die Unruhe zu.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Hubert Aiwanger (Freie Wähler) bemüht sich um Normalität - ganz so, als hätte er nicht das wohl turbulenteste Wochenende seiner politischen Karriere hinter sich. Bei seiner Ankunft bei der Michaelismesse im unterfränkischen Miltenberg lächelt der bayerische Vize-Ministerpräsident breit, grüßt freundlich, zieht seinen Trachtenjanker an und verkündet: "Jetzt muss ich mich erst schön machen für Euch." Vor den wartenden Journalisten schwindet das Lächeln aus seinem Gesicht, er weicht ihnen aber nicht aus, bleibt vor den Kameras und Mikrofonen stehen.

Den Fragen aber weicht er dann aus. Erwartungsgemäß interessieren sich die Reporter für offene Details rund um das 35 Jahre alte antisemitische Flugblatt aus Aiwangers Schulzeit, das ein politisches Beben im Freistaat ausgelöst hat. Doch der Wirtschaftsminister ist der Meinung: "Das ist jetzt nicht die aktuellste Thematik." Trotz des Wirbels der vergangenen Tage, trotz der anhaltenden Kritik will Aiwanger seine Sicht der Dinge nicht schildern.

Ob er das Flugblatt damals verteilt habe, fragt ein BR-Reporter. Aiwanger lacht kurz, wendet den Kopf ab und sagt: "Nächste Frage." Er sage zu der Thematik "nichts mehr, derzeit nichts". Der BR-Reporter hakt nach: Wie ist es denn möglich sei, dass das Flugblatt damals in seinem Schulranzen gefunden worden war? Aiwanger spielt die Bedeutung dieser Frage, über die viel diskutiert wird, herunter: "Glauben Sie mir, das ist gar nicht so wichtig, wie Sie meinen." Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ist da anderer Meinung: Er will von seinem Vize Aiwanger persönlich Antworten auf offene Fragen und hat für Dienstagvormittag zu einem Sonder-Koalitionsausschuss geladen.

Aiwanger hatte Flugblatt in der Schultasche

Die "Süddeutsche Zeitung" hatte am Freitag berichtet, dass an Aiwangers Schule, dem Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg, ein antisemitisches Flugblatt aufgetaucht war. Darin ist vom "Vergnügungsviertel Auschwitz" die Rede, es geht um einen fiktiven "Bundeswettbewerb" mit dem Titel "Wer ist der größte Vaterlandsverräter?" Als erster Preis wird "ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz" genannt, vierter Preis ist ein "einjähriger Aufenthalt in Dachau".

Laut "SZ" wurde der Elftklässler Aiwanger dafür vom Disziplinarausschuss der Schule zur Verantwortung gezogen. Auch der "Münchner Merkur" schrieb unter Berufung auf Zeitzeugen von damals, der Verdacht sei schnell auf den 16 oder 17 Jahre alten Hubert gekommen, weil der in der Klasse als Hitler-Imitator aufgefallen sei. In Aiwangers Schulmappe seien die Lehrer auf die Kopiervorlage gestoßen.

Nach fast 24-stündigem Schweigen räumte Aiwanger am Samstag ein, dass in seiner Schultasche "ein oder wenige Exemplare" des Flugblatts gefunden worden seien und er daraufhin zum Direktor einbestellt worden sei. Unter Druck habe er akzeptiert, ein Referat zu halten, teilte Aiwanger mit. Ob er einzelne Exemplare weitergegeben habe, sei ihm "heute nicht mehr erinnerlich". Zugleich betonte er aber, das "ekelhafte und menschenverachtende Papier" nicht verfasst zu haben. Den Namen des Urhebers kenne er, nenne er aber nicht: "Weder damals noch heute war und ist es meine Art, andere Menschen zu verpfeifen." Kurz darauf verkündete Aiwangers älterer Bruder Helmut im Gespräch mit der Mediengruppe Bayern: "Ich bin der Verfasser dieses in der Presse wiedergegebenen Flugblatts."

Unruhe beim Koalitionspartner CSU

Aus CSU-Kreisen sind große Vorbehalte gegen diese Erklärung zu hören. Es herrscht eine gewisse Sorge und Ratlosigkeit, wie die Partei so kurz vor der Landtagswahl im Oktober mit Aiwanger umgehen soll. Für die CSU, die eigentlich mit Aiwangers Freien Wählern erneut koalieren möchte, steht dabei viel auf dem Spiel. Mit großer Spannung wird daher der Koalitionsausschuss erwartet, zu dem Söder die Freien Wähler um Aiwanger einbestellt hat.

Bereits am Morgen machte Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) unmissverständlich klar, dass sich die CSU mit Aiwangers bisheriger Erklärung nicht zufriedengibt. Nur Aiwanger könne die vielen offenen Fragen beantworten. "Wir erwarten, dass dies zeitnah geschieht." Die Vorwürfe seien zu ernst, "als dass sich ein stellvertretender Ministerpräsident nur schriftlich äußert und entscheidende Fragen unbeantwortet lässt". Er müsse sich im Koalitionsausschuss "persönlich und umfassend erklären".

Nach Meinung von Landtagsvizepräsident Karl Freller (CSU) ist das "Verteilen" eines solchen Flugblatts "nahe am Verfassen". Auch bei der Urheberschaft, zu der sich Aiwangers älterer Bruder bekannt hatte, seien noch Fragen offen, sagte er dem Deutschlandfunk. Dieses Pamphlet sei "so unsäglich und widerwärtig", dass man nicht von einem dummen Jugendstreich sprechen könne, betonte Freller, der auch Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten ist.

Opposition macht Druck

Die Opposition macht weiter Druck auf Söder. Der Ministerpräsident müsse jetzt "Klartext" reden, sagt Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann. Aiwanger sei nicht mehr tragbar. Auch die Co-Vorsitzende Katharina Schulze sieht den Ball jetzt bei Söder: Er müsse sagen, ob er sich eine Zusammenarbeit mit Aiwanger als Koalitionspartner und Vize-Ministerpräsident weiter vorstellen könne. "Allein der Anschein von Antisemitismus in der bayerischen Staatsregierung schadet dem Ansehen Bayerns in der Welt."

Söder verweist auf Sondertreffen

Nachdem sich Söder am Samstag öffentlich zu den ersten Berichten zum Fall Aiwanger geäußert hatte, schweigt er seither dazu. Er kommt etwas später als Aiwanger ebenfalls zur Michaelismesse in Miltenberg, seinem Vize begegnet er aber nicht, weil dieser das Volksfest kurz nach der Ankunft des Ministerpräsidenten wieder verlässt. In Söders Rede kein Wort zur aktuellen Debatte. Und als Journalisten anschließend fragen, sagt er knapp: "Morgen dann. Da haben wir unsere Sitzung, das wissen Sie doch."

Bruder verteidigt erneut Aiwanger

Auf Aiwangers Twitter-Kanal tut sich bis zum Nachmittag - wie schon am Wochenende - nichts. Eine ungewohnte Ruhe. Die Verteidigung des Ministers übernimmt erneut sein älterer Bruder. Wie schon am Samstag überrascht auch heute Helmut Aiwanger mit einem Interview. Auf die Frage, warum sein Bruder Flugblätter in seiner Schultasche gehabt habe, sagte er der Mediengruppe Bayern: "Ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Aber ich glaube, dass Hubert sie wieder eingesammelt hat, um zu deeskalieren." Das wirft angesichts von Hubert Aiwangers Statement vom Samstag - demzufolge sich der Minister nicht mehr erinnert, ob er das Flugblatt verteilt hat - Fragen auf.

Verfasst haben will Helmut Aiwanger das Pamphlet wegen seiner schwierigen Schulzeit. "Ich wollte mich irgendwie wehren und meine Lehrer so richtig auf die Palme bringen", sagt er der Mediengruppe Bayern. Die Gewalttaten der Nazis und der Holocaust seien ihm bekannt gewesen. "Ich wusste, dass es ein menschenverachtendes Verbrechen war, über das man keine Witze macht." Er distanziere sich "damals wie heute" von diesem "unsäglichen Inhalt".

Rufe nach vollständiger Aufklärung

Beantwortet sind durch diese nachgeschobene Erklärung die offenen Fragen längst nicht. Weit über die Grenzen des Freistaats hinaus pochen Politiker und jüdische Spitzenvertreter auf vollständige Aufklärung - unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster.

Die Frage, inwieweit Aiwanger das Flugblatt zumindest verteilt hat, dürfte am Dienstag im Koalitionsausschuss von CSU und Freien Wählern eine zentrale Rolle spielen. Ob sich die CSU mit Aiwangers Bruder als Entlastungszeugen zufriedengibt, bleibt abzuwarten. Dass die Staatskanzlei in diesem Fall nicht mitteilt, wer an der anschließenden Pressekonferenz teilnimmt, bietet Raum für Spekulationen.

Aiwanger-Plakat in seiner Heimatregion
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Aiwanger-Plakat in seiner Heimatregion

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