13.05.2023, Bayern, Amberg: Hubert Aiwanger (Freie Wähler), Wirtschaftsminister von Bayern und Parteichef der Freien Wähler auf einer Pressekonferenz.
Bildrechte: dpa-Bildfunk/Daniel Löb

13.05.2023, Amberg: Hubert Aiwanger (Freie Wähler), Wirtschaftsminister von Bayern und Parteichef der Freien Wähler auf einer Pressekonferenz.

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Fall Aiwanger: Fakten, Widersprüche, Rätsel

Ein antisemitisches Flugblatt wirbelt die bayerische Politik auf. Es wurde dem stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger zugeschrieben. Verfasst habe es aber sein Bruder. Eine Analyse.

Über dieses Thema berichtet: Nachrichten am .

War es wirklich Helmut statt Hubert? Welche Rolle spielte Hubert Aiwanger (Freie Wähler) selbst? Wie schwierig ist der Fall für Markus Söder (CSU)?

Was steht im Flugblatt?

Im Schuljahr 1987/88 ist an Aiwangers Schule, dem Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg, ein antisemitisches Flugblatt aufgetaucht. Es liegt dem BR vor. Darin ist vom "Vergnügungsviertel Auschwitz" die Rede, es geht um einen fiktiven "Bundeswettbewerb" mit dem Titel "Wer ist der größte Vaterlandsverräter?" Als erster Preis wird "ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz genannt", vierter Preis ist ein "einjähriger Aufenthalt in Dachau". Zunächst wurde das Flugblatt Hubert Aiwanger zugeschrieben. Dann bekannte sich sein älterer Bruder Helmut als Urheber.

Wie überzeugend ist Aiwangers Erklärung?

Die Darstellungen von Hubert und Helmut Aiwanger ergänzen einander und sind plausibel. Ein Beweis sind sie nicht. Und sie werfen Fragen auf (siehe unten). Stand jetzt, gibt es einander widersprechende Aussagen und Indizien. Was wirklich war, weiß nur ein kleiner Kreis um die Brüder Aiwanger. Gut möglich, dass die Öffentlichkeit nie erfährt, wer das Papier wirklich geschrieben hat.

Warum war das Flugblatt im Schulranzen?

"Ein oder wenige Exemplare" des Pamphlets wurden in Hubert Aiwangers Ranzen "gefunden", wie Aiwanger selbst schreibt. Aber warum wurde es eigentlich gesucht? Gab es einen Verdacht gegen den Gymnasiasten? Warum waren die Flugblätter überhaupt im Ranzen? Wollte Aiwanger sie verteilen? Oder hat er sie seinem Bruder weggenommen, um die Verteilung zu verhindern? Aiwanger selbst ist "nicht mehr erinnerlich", ob er "einzelne Exemplare weitergegeben" habe.

Welche Fragen sind noch offen?

Warum steht unten auf dem Flugblatt: "Wir hoffen auf zahlreiche Teilnahme"? Das klingt nicht nach dem Projekt eines Einzelnen. War es doch ein Gemeinschaftswerk? Oder steht dort "Wir", weil auch fiktive Bundeswettbewerbe nun mal kein Solo-Projekt sind. Dagegen spricht, dass es beim "Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte", der Anlass des Flugblatts war und verhöhnt werden sollte, um "den Preis des Bundespräsidenten" ging. Also eines Einzelnen.

Offen ist nach wie vor auch, ob Hubert Aiwanger das Referat, das ihm als Strafe auferlegt wurde, tatsächlich gehalten hat. Er schreibt, ihm sei das Referat "als Ausweg" "angeboten" worden: "Dies ging ich unter Druck ein." Heißt, Aiwanger erklärte sich bereit, ein Referat zu halten. Lieferte er auch?

Warum hat Aiwanger seine Erklärung so spät geliefert?

Der SZ gegenüber hatte Aiwanger den Vorwurf bestritten, er habe das Flugblatt verfasst. Er habe "so etwas nicht produziert", ließ er seinen Sprecher ausrichten. Den Hinweis auf die Urheberschaft seines Bruders lieferte er erst einen Tag nach der Veröffentlichung des SZ-Berichts. Warum nicht früher? Der Hinweis hätte seinem Dementi vermutlich mehr Glaubwürdigkeit gegeben. Den Namen des angeblich wahren Urhebers hätte Aiwanger zu einem früheren Zeitpunkt ebenso wenig nennen müssen wie später.

Was bedeutet der "Fall Aiwanger" für den Landtagswahlkampf?

Das hängt von folgenden Faktoren ab: Kommen weitere Details an Licht? Und bleibt die Opposition dran am Fall Aiwanger? Die SPD-Fraktion strebt eine Sondersitzung des Landtags an, wenn nicht des Plenums, dann des "Zwischenausschusses". Nötig wäre jeweils ein Drittel der Stimmen, die die SPD allein nicht hat. Grüne und FDP haben noch nicht entschieden, ob sie sich der SPD anschließen. Wie es weitergeht, hängt auch ab von Markus Söder.

Schmeißt Söder seinen Vize raus?

Der Fall Aiwanger bringt Markus Söder in eine schwierige Lage. Am Morgen nach Bekanntwerden der Vorwürfe hatte der Ministerpräsident seinen Vize aufgefordert, sich zu erklären. Aiwangers Erklärung liegt nun vor. Überzeugt sie Söder? Welche Rolle spielen die offenen Fragen für den Ministerpräsidenten?

Bisher schweigt der CSU-Chef dazu. Bei einem Wahlkampf-Auftritt sagte er heute: "Es wird ja viel geschrieben, wer was für Flugblätter oder was weiß ich macht. Ich hab‘ damals Strauß bewundert. Ich hab ein Riesen-Plakat von Strauß im Zimmer gehabt." Klar, gegen wen das ging. Eine Distanzierung, aber keine Abgrenzung. Ähnlich agierte Söder nach Aiwangers Rede in Erding: Er rüffelte ihn indirekt, allerdings schärfer als jetzt. Die Zusammenarbeit mit Aiwanger stellte Söder damals nicht infrage.

Tut er es diesmal? Klar ist, dass Söder die Frage wird beantworten müssen. Die Zweifel an Aiwangers politischer Integrität sind da. Charlotte Knobloch, Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, sagt, "schon der Verdacht, dass ein Spitzenpolitiker mit diesem Text verbunden sein könnte, ist brandgefährlich". Es sei viel Vertrauen zerstört worden.

Leiden auch die Seriosität und Vertrauenswürdigkeit der bayerischen Staatsregierung? Bei unerschütterlicher Kooperationsbereitschaft könnte der Fall Aiwanger auch auf Söder und die CSU abfärben. Andererseits: Könnte der CSU-Chef einen Rausschmiss angesichts der dürftigen Faktenlage so überzeugend kommunizieren, dass er Aiwanger nicht in eine Opferrolle drängte, von der schließlich Aiwanger profitierte? Und was würde aus seiner festen Koalitionszusage auch für die Zeit nach der Landtagswahl? Solange Söder in diesem Dilemma steckt, geht er auf Distanz, ohne sich abzugrenzen.

Warum sagt Aiwanger nichts mehr?

Hubert Aiwanger hat sich am Samstagabend schriftlich erklärt. Seitdem schweigt er öffentlich zum Thema Flugblatt, Interviewanfragen lehnt er ab. Das ist untypisch für Aiwanger. Gerät er in die Kritik, schießt er normalerweise rasch, pointiert und deftig zurück. Auf X (ehemals Twitter), in Interviews – bei jeder Gelegenheit.

Als er nach seinem Auftritt in Erding ("Demokratie zurückholen") bundesweit gerügt wurde, schlüpfte er in die Rolle des Märtyrers, der sich "den Mund nicht verbieten" lasse. Das tut Aiwanger jetzt nicht, obwohl die Gefechtslage ähnlich ist – bei allen inhaltlich sehr gewichtigen Unterschieden. Der Grund könnte sein, dass Aiwanger (noch) nicht weiß, ob und wie er im Wahlkampf Kapital aus der Flugblatt-Geschichte ziehen kann. Oder er bezweifelt es.

Im Video - Flugblatt-Affäre um Hubert Aiwanger überschattet Landtagswahlkampf:

Das antisemitische Flugblatt
Bildrechte: BR
Artikel mit Video-InhaltenVideobeitrag

Das antisemitische Flugblatt

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!