Stromtrasse bei Sonnenuntergang
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Bürgerinitiativen in Bayern wollen den weiteren Ausbau von Stromtrassen verhindern und fordern stattdessen eine dezentrale Energiewende.

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Faktenfuchs: Ist die Energiewende ohne Stromtrassen möglich?

Der Protest gegen den Neubau von Stromtrassen ist in Bayern seit Jahren ungebrochen. Gegner fordern stattdessen eine dezentrale Energiewende. Denn für diese sei kein größerer Netzausbau nötig. Stimmt das und wäre das möglich? Ein #Faktenfuchs.

Über dieses Thema berichtet: Frankenschau aktuell am .

Darum geht’s:

  • Trassengegner in Bayern wehren sich gegen geplante Stromtrassen und fordern, dass Windkraft und Solarenergie vor Ort ausgebaut werden.
  • Eine solche dezentrale Energiewende wird unter Wissenschaftlern diskutiert. Viele sind aber skeptisch.
  • Ein kombiniertes zentrales und dezentrales System schließt sich nicht zwangsläufig aus.

Der Deutsche Bundestag stimmte am 23. Juli 2013 umfassenden Infrastrukturprojekten zu: Die Stromtrassen Südlink und Südostlink sollen Windstrom aus Norddeutschland bis nach Bayern und Baden-Württemberg transportieren. Zwei Jahre später, am 21. Dezember 2015, beschlossen die Abgeordneten auch, die Juraleitung, die quer durch Bayern verläuft, auszubauen.

Gegen den geplanten Netzausbau kämpfen im Freistaat mehrere Bürgerinitiativen. Dieser sei "überdimensioniert", "unwirtschaftlich" und "umweltzerstörend". Von "Monstertrassen" ist die Rede. Einige der Gegner fürchten sich dabei vor bis zu 70 Meter hohen Strommasten – wie sie im Fall der Juraleitung entstehen sollen. Es geht um die Sorge, dass Immobilien an Wert verlieren, und um Fragen rund um die Gesundheit. Bei den in Bayern geplanten Erdkabeln der Stromtrassen Südlink und Südostlink sorgen sich Landwirte wiederum um ihre Ernte.

Gemeinsam fordern die Bürgerinitiativen, die sich zum Aktionsbündnis Trassengegner zusammengeschlossen haben, eine dezentrale Energiewende "ohne überdimensionierten Netzausbau". Im Gespräch mit Wissenschaftlern wird klar: Das wäre theoretisch machbar, aber die Skepsis ist bei vielen groß. Es geht um Kosten, den Standort von Tausenden Windrädern, die umstrittene Frage nach Strompreiszonen sowie politische Entscheidungen in Bayern und auf Bundesebene, die bereits Fakten geschaffen haben.

Der Streit um Stromtrassen: Der Kern des Konflikts

Zunächst zu den Hintergründen: Im Kern geht es um die Frage, wie Deutschland die Energiewende schaffen kann. Der Atom- und Kohleausstieg ist beschlossen. Zudem hat sich Deutschland im Kampf gegen den fortschreitenden Klimawandel dem Ziel verpflichtet, bis 2045 klimaneutral zu werden.

Damit das klappt, müssen vor allem der Verkehr, die Industrie und die Wärmeerzeugung auf grünen Strom – also auf Strom aus erneuerbaren Energien – umgestellt werden. Der Stromverbrauch wird sich dadurch laut Experten bis 2045 voraussichtlich verdoppeln. Die erneuerbaren Energien müssen deswegen massiv ausgebaut werden, zeigen Modellierungen der Netzbetreiber im Auftrag der Bundesregierung.

Die Leistung der Offshore-Windanlagen soll sich im Vergleich zu heute knapp verneunfachen (von 7,8 Gigawatt auf 70). Die installierte Leistung von Windkraft an Land müsse sich knapp verdreifachen (von 56,1 Gigawatt auf 160), die von Photovoltaik knapp versiebenfachen (von 59,3 Gigawatt auf 400). Und auch die Infrastruktur – also die Stromnetze – muss daran angepasst werden.

Die technische Herausforderung: Windräder und Photovoltaik-Anlagen liefern nur Strom, wenn der Wind weht beziehungsweise die Sonne scheint – dann mitunter aber so viel, dass die bestehenden Netze den Strom gar nicht aufnehmen können. Angesichts dieses Problems setzten und setzen mehrere Bundesregierungen in Abstimmung mit der zuständigen Bundesbehörde (der Bundesnetzagentur), Netzbetreibern und Wissenschaftlern seit Jahren auf eine zentrale Lösung.

So sieht eine zentral ausgerichtete Energiewende aus

Windräder und Photovoltaik-Anlagen werden vorrangig an Standorten errichtet, an denen sie am meisten Strom erzeugen können. Windkraft wird vor allem im Norden Deutschlands ausgebaut. Der erzeugte Strom soll künftig über ein hocheffizientes Netz – eben die Stromtrassen Südlink und Südostlink – in den windärmeren Süden transportiert werden, wo er wegen großer Ballungszentren und Industrien benötigt wird, heißt es etwa seitens der Bundesnetzagentur.

Im Video: Bürgerinitiativen in Franken kämpfen gegen neue Stromtrassen

Seit rund zehn Jahren kämpfen Bürgerinitiativen in ganz Franken gegen den Bau neuer Stromtrassen.
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Pläne der Bundesregierung unnötig?

Südlink und Südostlink sind als moderne Hochspannungs-Gleichstrom-Leitungen geplant, die im Gegensatz zu Wechselstrom weniger Übertragungsverluste aufweisen. In Bayern sollen die beiden Trassen nicht als Freileitungen, sondern als Erdkabel verlegt werden. Das ist ein Kompromiss, den der Freistaat wegen der anhaltenden Proteste der Trassengegner mit dem Bund erwirkte. Die Kosten für den Bau steigen dadurch um ein Vielfaches.

Laut der Bayerischen Staatsregierung kostet die Verlegung das Doppelte bis Zehnfache, je nach Untergrund und ob Straßen oder Flüsse gekreuzt werden müssen. Und es dauert länger: Statt 2022 wird die Trasse Südostlink voraussichtlich 2027 fertig und Südlink 2028. Die Juraleitung, die quer durch Bayern verläuft, soll 2030 fertig sein. Hier werden bestehende Wechselstromleitungen leistungsstärker ausgebaut – was höhere Masten erforderlich macht. Auch hier verzögern Proteste den Bau.

Dieses zentral angelegte System lehnen Trassengegner grundsätzlich ab – egal ob per Kabel oder Freileitung. Sie fordern den Wechsel von einem zentralen auf ein dezentrales System – eine Kehrtwende also.

Grafik: Geplante Übertragungsleitungen in Bayern

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Geplante Übertragungsleitungen in Bayern. Bei allen Projekten regt sich Widerstand. Der Ausbau verzögert sich.

So könnte eine dezentrale Energiewende aussehen

Mehrere Wissenschaftler setzen sich mit einer dezentralen Energiewende auseinander. Der grüne Strom wird dabei nicht dort produziert, wo die Bedingungen dafür am günstigsten sind, sondern dort wo er auch verbraucht wird. "Je näher die Erzeugung beim Verbraucher ist, desto weniger Netzinfrastruktur braucht es", sagt Christian von Hirschhausen von der Technischen Universität Berlin im Gespräch mit dem #Faktenfuchs.

In einer Studie aus dem Jahr 2021 teilen er und sein Forschungsteam Deutschland in 38 Regionen auf, die ihren Strombedarf selbst decken sollten – jede Region bräuchte dazu genügend Windräder, Photovoltaik-Anlagen und Batteriespeicher. Bei diesem lokalen Ansatz könnten auch die Bürger beteiligt werden: Solaranlagen auf den Dächern, lokale Windparks in Bürgerhand. Das fördere die Akzeptanz: "Es geht darum, die Potenziale vor Ort zu stärken und damit den überschüssigen Ausbau der Infrastruktur einzudämmen", so von Hirschhausen. Die Regionen in dem Modell wären keine autarken Inseln, sondern untereinander über das bestehende Übertragungsnetz verbunden – auch mit den europäischen Nachbarn.

Zentrale vs. dezentrale Energiewende: Die Kostenfrage

Beide Systeme – zentral und dezentral – haben ihren Preis. Es geht um Investitionen in Milliardenhöhe. In einem dezentralen System fallen die Kosten für den Ausbau des Übertragungsnetzes zwar weg, doch es brauche unter anderem mehr Speicher und wesentlich mehr Verteilnetze, sagt Dirk Witthaut von der Universität zu Köln, der an der Optimierung zukunftsfähiger Stromnetze forscht, im Gespräch mit dem #Faktenfuchs.

Über die Verteilnetze werden die dezentral errichteten Wind- und Solaranlagen angeschlossen – die sind bereits jetzt häufig am Limit. Außerdem müssten mehr Windräder auch in Regionen gebaut werden, die für die Erzeugung von Windenergie weniger geeignet sind, so Witthaut. Das hält er für wenig sinnvoll. "Man kann die Stromerzeugung verbrauchernah machen, aber es ist sehr viel schwieriger und wird definitiv erheblich teurer", sagt der Wissenschaftler.

Christian von Hirschhausen, Experte für Infrastrukturpolitik, kommt in der Studie aus dem Jahr 2021 hingegen zu dem Ergebnis, dass die Kostendifferenz zwischen einem zentralen und dezentralen System gering ist. Allerdings klammert die Studie die Kosten für Verteilnetze aus.

Eine Studie der Universität Potsdam aus dem Jahr 2020 beschäftigt sich ebenfalls mit der Kostenfrage. In der Untersuchung wird ein dezentrales System mit einem zentralen europäischen System verglichen, bei dem Strom in großen Windparks am Atlantik und an der Nord-und Ostsee erzeugt wird sowie in sonnenreichen Regionen wie Spanien und Italien mit riesigen Photovoltaik-Freiflächenanlagen. Dieses europäische Verbundnetz sei am kostengünstigsten. Ein dezentrales System, bei dem die Regionen und Nachbarländer miteinander vernetzt sind, wäre hingegen im Vergleich etwa 20 Prozent teurer.

Dezentrale Energiewende: Knackpunkt Windräder

Entscheidend ist der Standort der Energieerzeugung. Für ein dezentrales System muss vor allem Windkraft im Süden Deutschlands massiv ausgebaut werden – und das in unmittelbarer Nähe der Verbraucher. Auch dort, wo der Platz knapp sei, heißt es in der Studie der Uni Potsdam. Christian von Hirschhausen geht davon aus, dass zusätzlich 22 Gigawatt Windkraftkapazitäten hauptsächlich im Süden Deutschlands zugebaut werden müssten.

Eine Modellierung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und des Energiecampus Nürnberg kommt zu einer anderen Größenordnung: Demnach müsste allein Bayern bis 2035 auf rund 21 Gigawatt installierter Windkraftleistung kommen. Zum Vergleich: Mitte 2022 waren in Bayern laut Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie 1.134 Windanlagen mit einer installierten Leistung von etwa 2,6 Gigawatt am Netz.

Um nun beispielsweise 21 Gigawatt Leistung bis 2035 zu erreichen, müssten in Bayern zwischen 4.000 und 7.000 Windräder in unmittelbarer Nähe zu Städten und Industrieanlagen gebaut werden, überschlägt Studienleiter Gregor Zöttl. Je nachdem, wie viele Drei-Megawatt- oder Fünf-Megawatt-Windkraftanlagen gebaut werden. "Wer den Leitungsausbau verhindern will, muss im gleichen Atemzug dafür sein, dass Windturbinen regional aufgestellt werden", betont Zöttl im Gespräch mit dem #Faktentfuchs. Doch an der Akzeptanz von Windrädern habe es bislang in Bayern gemangelt.

Ausgebremste Windkraft in Bayern und die Folgen

Nach Protesten von Windkraftgegnern wurde 2014 in Bayern die 10H-Regelung eingeführt. Demnach muss der Abstand eines Windrads zur nächsten Wohnsiedlung mindestens das Zehnfache der Bauhöhe betragen. Ist das Windrad 200 Meter hoch, sind es zwei Kilometer. Im dicht besiedelten Bayern sind dadurch viele potentielle Standorte weggefallen. Der Windkraft-Ausbau im Freistaat kam nahezu zum Erliegen. Erst im Oktober 2022 lockerte der Landtag die 10H-Regel.

Bayern war zu diesem Schritt praktisch gezwungen, der Bundestag hatte zuvor verbindliche Flächenziele für Bundesländer bei der Windenergie festgelegt. Bis Ende 2032 müssen die Länder zwei Prozent ihrer Fläche für Windkraft ausweisen. Nun werden laut Bayerns Ministerpräsident Markus Söder rund 800 bis 1.000 Windräder auf den Weg gebracht. Einen konkreten Zeitplan gibt es nicht. Die Stimmung wendet sich aber langsam in Richtung Windkraft.

Während in den vergangenen Jahren in Bayern kaum ein Windrad aufgestellt wurde, ging der Bau von Windrädern in Norddeutschland weiter – fernab der großen Verbraucherzentren im Süden. Der Strom, der dort erzeugt werden könnte, kann zu einem beträchtlichen Teil nicht in das Stromnetz eingespeist werden, weil die großen Trassen, die eigentlich schon fertig sein sollten, fehlen. Mathias Mier vom ifo Institut für Wirtschaftsforschung in München nennt im Gespräch mit dem #Faktenfuchs die Folgen: Windräder werden abgeregelt, also aus dem Wind gedreht. "Die Windradbetreiber werden entschädigt. Zahlen müssen wir alle", so Mier. Es gehe um Millionenbeträge Jahr für Jahr.

Die heikle Frage der Strompreiszonen

Wer eine dezentrale Energiewende will, müsse außerdem bereit sein, Deutschland in mehrere Strompreiszonen zu teilen, sagt Wissenschaftler Gregor Zöttl. Denn je nach Region sind die Bedingungen für die Produktion von grünem Strom unterschiedlich und damit die Kosten für die Erzeugung. Wird der Strom direkt in der Region verbraucht und nur wenig mit anderen Regionen ausgetauscht, zahlen die Verbraucher den Erzeugungspreis ihrer Region.

Im Fall eines dezentralen Systems rechnet Zöttl mit geringeren Preisen in norddeutschen Regionen und mit höheren Preisen in Bayern, weil die Bedingungen etwa für die Windkraft im Freistaat weniger günstig sind. "Dass man in Bayern dann mehr zahlt als in anderen Regionen, das ist industriepolitisch heikel", sagt Zöttl. Es wäre ein Nachteil für den Wirtschaftsstandort Bayern. Eine Teilung Deutschlands in verschiedene Strompreiszonen sei auch von Seiten der Bundesregierung derzeit nicht im Gespräch, so Zöttl.

Massiver Ausbau von Offshore-Windkraft vs. dezentrales System

In Zukunft soll noch mehr Windenergie im Norden erzeugt werden. Die Bundesregierung hat mit dem Windenergie-auf-See-Gesetz die Voraussetzung dafür geschaffen, dass bis zum Jahr 2030 die installierte Leistung von Offshore-Windenergie, also von Windkraft auf See, auf mindestens 30 Gigawatt und bis 2045 auf mindestens 70 Gigawatt steigen kann. Auf See weht der Wind nicht nur beständiger, sondern im Mittel auch stärker. Die Windräder können deswegen deutlich mehr Strom erzeugen als Anlagen an Land. Soll dieser auch Industrie und Verbrauchern im Süden Deutschlands zugutekommen, brauche es die geplanten Stromtrassen.

Und so widersprechen Offshore-Windanlagen in dieser Größenordnung einer dezentralen Energiewende, die ohne weitere Stromtrassen auskommen will. Eine ausschließlich dezentrale bürgernahe Energiewende sei mit erheblichen Offshore-Potenzial nicht erreichbar, sagt Christian von Hirschhausen. Auch in der Modellierung der Universität Erlangen-Nürnberg und des Energiecampus würde bei einem dezentralen System kaum Offshore-Windkraft benötigt.

So könnte der geplante Netzausbau verringert werden

Die Weichen sind von der Politik längst auf eine zentrale Energiewende gestellt, auf eine Infrastruktur mit Stromtrassen. Um den Ausbau so gering wie möglich zu halten, könne an bestimmten Stellschrauben gedreht werden, zeigt die Studie der Universität Erlangen-Nürnberg und des Energiecampus. Derzeit werde das Stromnetz quasi auf Nummer sicher geplant – es ist so groß, dass auch bei besonders viel Wind der erzeugte Strom aufgenommen werden kann, sagt Studienleiter Gregor Zöttl.

Anstatt für Extremstunden ein riesiges Netz zu bauen, könne der Grünstrom, ehe er das Netz "verstopft", aber auch abgeregelt werden, so Zöttl. Zu einem bestimmten Grad ist dies in den Ausbauplänen bereits vorgesehen. Auch Redispatch-Maßnahmen können den Ausbau der Stromtrassen verringern. Unter Redispatch versteht man einen Eingriff in die Leistungen von Kraftwerken.

Droht an einer bestimmten Stelle ein Engpass im Netz, werden Anlagen angewiesen, weniger Strom einzuspeisen, während andere Anlagen mehr einspeisen müssen, um den Engpass auszugleichen. Durch eine effiziente Nutzung könnte von dem geplanten Netzausbau die Hälfte der Hochspannungs-Gleichstrom-Leitungen eingespart werden, sagt Zöttl. Allerdings entstehen dadurch weitere Kosten. Einige Wissenschaftler mahnen an, dass Redispatch-Maßnahmen die Ausnahme bleiben sollen.

Eine weitere Möglichkeit: Der Ökostrom kann zur Erzeugung von grünem Wasserstoff eingesetzt werden, der über das bestehende Gasnetz transportiert werden könnte. Bis 2030 will die Bundesregierung Kapazitäten zur Erzeugung von Wasserstoff von mindestens zehn Gigawatt aufbauen. Doch zu viel Hoffnung sollten Trassengegner darauf nicht setzen: "Tatsächlich sind die Stromleitungen schneller gebaut, als dass wir unsere Energieversorgung auf Wasserstoff umgestellt haben", sagt Thomas Hamacher von der Technischen Universität München, der seit Jahren an der Energieversorgung der Zukunft forscht.

Dezentral oder zentral? "Es braucht beides"

Die beiden Systeme – zentral und dezentral – werden häufig als gegensätzlich wahrgenommen. Um die Herausforderung Klimaneutralität bis 2045 zu schaffen, braucht es jedoch beides, betont Thomas Hamacher: "Wir haben einen unglaublichen Gegensatz zwischen einer großen Zentraltechnik auf der einen Seite und einer dezentralen auf der anderen. Für mich bedeutet eine gelungene Energiewende eine Verbindung von all diesen Elementen miteinander." Zentrale und dezentrale Stromerzeugung müssen zusammen kombiniert und optimiert werden, so der Experte für Energie- und Systemanalyse.

Um die Energiewende zu schaffen, müssen Wind- und Photovoltaikanlagen in ganz Deutschland errichtet werden. Die Bundesregierung will dafür Anreize unter anderem für Bürgerenergieprojekte schaffen und Kommunen am Ausbau der Erneuerbaren finanziell beteiligen. Ein Großteil des Windstroms werde aber aus dem Norden kommen. Und dafür brauche es die hohe Übertragungskapazität der Stromtrassen, sagt Dirk Witthaut von der Universität zu Köln, sonst leide die Netzstabilität. Die Stromnetze seien in einem zentral ausgerichteten System die "Flaschenhälse der Energiewende", betont Witthaut.

Fazit

Der Großteil der befragten Wissenschaftler steht der Forderung nach einer rein dezentralen Energiewende skeptisch gegenüber. Ein System, bei dem der Strom dort produziert wird, wo er verbraucht wird, wäre nach Ansicht der Experten teurer als das seit 2011 von mehreren Bundesregierungen geplante zentrale System.

In einem dezentralen System müssten darüber hinaus Tausende Windräder in Bayern in unmittelbarer Nähe zu den Verbrauchern gebaut werden – auch wenn die Bedingungen für Windkraft nicht so günstig sind wie etwa in Norddeutschland und der Platz knapp. Nachdem die Staatsregierung die 10H-Regel gelockert hat, soll der Bau von 800 bis 1.000 Windrädern möglich sein – das würde aber für eine dezentrale Energiewende nicht ausreichen.

Für ein dezentrales System müssten zudem Strompreiszonen eingeführt werden. Experten rechnen damit, dass der Preis für Strom in Bayern höher läge, als in anderen Regionen Deutschlands, die günstiger Windstrom erzeugen können. Das wäre für den Wirtschaftsstandort Bayern von Nachteil.

Politisch wurden die Weichen in den vergangenen Jahren auf ein zentrales System ausgerichtet. So soll etwa Offshore-Windkraft massiv ausgebaut werden. Damit der Strom aus Windkraft-auf-See bei den Verbrauchern ankommt, braucht es größere und leistungsstärkere Netze.

Für viele Wissenschaftler schließen sich ein zentrales und dezentrales System nicht aus. Es brauche beides, damit die Energiewende gelingt.

Dieser Artikel ist erstmals am 16. Februar 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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