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Alltag in Dortmund-Nord Zwischen Dealern, vermüllten Häusern und Neonazis

Dealer, vermüllte Häuser und Neonazis gehören zum Alltagsbild der Dortmunder Nordstadt. Fast 60.000 Menschen leben hier. Sie kommen aus knapp 150 Nationen. Fast jeder Fünfte ist ohne Job. Die Stadt versucht seit Jahrzehnten, die Probleme des Viertels in den Griff zu bekommen. Zum Teil muss sie kapitulieren.

Von: Niklas Schenk

Stand: 11.01.2020

Vertreter der Stadt Dortmund bei der Besichtigung des Problemhauses in der Nordstadt
| Bild: BR / Niklas Schenk

Die Schleswiger Straße in der Dortmunder Nordstadt, Hausnummer 44. Die Klingel funktioniert nicht, die Tür steht offen, viele Fenster sind eingeschmissen, es riecht unangenehm. Die Stadt Dortmund bezeichnet dieses Haus als sogenanntes Problemhaus. „Der Hausflur ist fast immer vermüllt bei solchen Häusern“, erzählt Petra Stonies vom Dortmunder Ordnungsamt. Im Innenhof liegt überall Müll herum, sogar Teppiche und Kinderspielzeug. In einem Keller des Mehrfamilienhauses sind die Überreste eines Großfeuers zu sehen. Noch immer stapelt sich hier der Sperrmüll. Die Wände des Hauses sind verschmiert und mit Graffiti übersäht. Kabel von Leitungen hängen aus den Fenstern.

Stadt kauft „Problemhäuser“

„Das ist eine Immobiliensituation, die so nicht geht. Das ist so ein Problemhaus, wo wir sagen, da muss sich was tun, da muss was passieren“, findet Susanne Linnebach, die Leiterin des Dortmunder Amtes für Stadterneuerung. 60 dieser Problemhäuser gibt es in der Nordstadt noch, früher waren es mal um die 200. Die Stadt hat einige aufgekauft. Viele Eigentümer haben sich durch die ständigen Kontrollbesuche, aber auch selbstständig dafür entschieden, zu renovieren.

Fast jeder Fünfte ohne Job

Es tut sich was in der Dortmunder Nordstadt – und doch sind die Zahlen noch immer erschreckend. Die Arbeitslosigkeit liegt bei gut 20 Prozent, die Kriminalitätsrate ist zuletzt zwar stark gesunken, aber noch immer werden mehr als 10 000 Straftaten im Jahr in der Nordstadt ausgeübt.

Anlaufstation für Flüchtlinge

Der Dortmunder Norden war schon immer ein Viertel des Ankommens. Erst für die Bergbaumalocher, später für die Gastarbeiter, zuletzt vor allem für Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge aus Südosteuropa. Der Strukturwandel oder die Wirtschaftskrise warfen den Stadtteil in seiner Entwicklung immer wieder zurück. Die Stadt Dortmund schreibt auf ihrer Homepage selbst von „hohem Handlungsbedarf“ und einem „zu verbessernden Image“.

Schule fast 10 Jahre ohne Leitung

Die Anne-Frank-Gesamtschule liegt mitten in der Nordstadt. Vor einigen Jahren stand die Schule kurz vor der Schließung. Es gab kaum Neuanmeldungen, die Schule hatte fast zehn Jahre keine Schulleitung, kaum ein Schüler schaffte das Abitur. Dann kam Bernd Bruns als neuer Schulleiter. Mit Bruns und seinem Team änderte sich alles. Die Schule wurde saniert, innovative Projekte ins Leben gerufen, die individuell auf die Schüler zugeschnitten sind. Heute kann sich die Anne-Frank-Schule vor Neuanmeldungen kaum retten.

„Ich pack das“ - Klasse

In einer Holzwerkstatt arbeitet Kübra gerade an einem Holzhaus für ihre Familie. Sie ist 17 Jahre alt. Kübra ist Förderschülerin, besucht die 9. Klasse. Lange dachte Kübra, dass sie nie einen Schulabschluss schaffen wird. Nun steht sie in einer Dortmunder Holzwerkstatt. Kübra ist Teil der „Ich pack das“-Klasse der Anne-Frank-Gesamtschule. Schüler, die Probleme in der 8. und 9. Klasse haben, werden in dieser Klasse zusammengelegt. Drei Tage in der Woche geht es in die Schule, an den anderen beiden Tagen ist Praktikumszeit. „Ich finde es irgendwie schön hier, es macht mir Spaß“, erzählt die 17-Jährige strahlend. Mit der Ich-pack-das-Klasse wagt die Anne-Frank-Schule etwas, was sich die allermeisten Schulen nicht trauen. Förderschulkinder bis zum Hauptschulabschluss zu begleiten, diese mit Nicht-Förderschulkindern in eine Klasse zu stecken. Ob ein Abschluss für sie ein tolles Ziel sei? „Ja, ich habe gedacht, dass ich das nie schaffe. Aber jetzt habe ich Hoffnung in mir“, sagt Kübra.

Tränen im Lehrerzimmer

Der Erfolg der Schule zeigt, wie wichtig noch immer der Einsatz Einzelner ist, um etwas zu verändern. Isabelle Spieker, heute Abteilungsleiterin der Klassen 8-10, hatte 2015 die Idee, eine Ich pack das-Klasse einzuführen. Damals stand die Schule kurz vor der Schließung. „Ich war ganz neu an der Schule, in Einarbeitung und war von dem Konferenzergebnis schockiert. Ich habe im Büro gesessen und habe geweint. Und habe gedacht, so will ich das nicht“, sagt Spieker. Drei Nächte konnte sie nicht schlafen. Dann kam Bernd Bruns als Schulleiter dazu. „In der zweiten Sitzung sollten wir unsere neuen Ideen vorstellen und ich kam mit dem Ich-pack-das-Projekt und er meinte sofort: „Ja, zieh durch, das ist genau das, was wir brauchen!“

„Megakrasser“ Direktor macht den Unterschied

Bernd Bruns ist seit mehr als drei Jahren Schulleiter. Er spricht die Sprache der Schüler, seine Lieblingswörter sind mega und krass. Zum Jackett trägt Bruns Turnschuhe. Die Schule hatte fast ein Jahrzehnt lang keine Schulleitung. Überall in Deutschland haben Schulen Probleme, einen Direktor zu finden. Bernd Bruns arbeitete vorher für einige Jahre als Schulrat, kümmerte sich auf dem Amt um die Hauptschulen, als er gefragt wurde, ob er nicht die Anne Frank übernehmen wolle. Bruns liebt Herausforderungen, sagte sofort zu.

1000 Schülerinnen aus 39 Ländern

Mehr als 1000 Schüler gehen auf die Schule, sie kommen aus 39 Nationen. Ungefähr die Hälfte aller Schüler sind sogenannte „BuT“-Kinder. BuT steht für Bildung und Teilhabe. Familien, die wenig Geld haben, werden vom Familienministerium mit BuT finanziell unterstützt, damit ihre Kinder Angebote in der Schule nutzen können. „Wir hatten sonst immer so 25, 30 Abiturienten. Ich rechne damit, dass wir Pi mal Daumen dieses Jahr so 65 bis 70 Schüler haben werden“, erzählt Bruns. „Ich bin mächtig stolz drauf. Wenn Schüler aus der Nordstadt es schaffen, einen guten Bildungsabschluss zu machen, egal ob Hauptschulabschluss, mittlere Reife oder gar Abitur, ist das für die Schüler ein riesengroßer Erfolg.“

„Gegen das Dealen kann man wohl nichts machen“

Die Buchhandlung Litfass an der Münsterstraße in der Nordstadt besteht seit den 80er Jahren. Hier gibt es viele Fachbücher, in den Regalen findet sich aber auch Pop- und Jugendliteratur. Vor der Buchhandlung liegt ein kleiner Park. Überwiegend dunkelhäutige, junge Männer sitzen auf Bänken oder stehen in Ecken zusammen. Karsten Schulz ist der Geschäftsführer der Buchhandlung. Ich frage ihn, ob vor seiner Buchhandlung Drogen gedealt werden. „Ja, das stimmt. Das kriegen wir auch mit. Das ist so, da kann man wohl nichts gegenmachen“, sagt Schulz. Ob er das Gefühl habe, dass die Polizei zu wenig dagegen mache? „Ich glaube, dass das nicht nachhaltig gelöst werden kann. Das würde dann verschoben werden. Das ist ja auch mal verschoben worden. Früher war die Drogenszene am Nordmarkt. Da haben sie es wegbekommen durch massiven Einsatz und Ordnungskräfte. Jetzt sind sie mehr oder weniger hier. Hier werden sie wahrscheinlich auch vertrieben werden, dann wandern die nur weiter, das wird nicht nachhaltig gelöst werden können“

Eigene Ermittlungskommission „Nordstadt“

Die Stadt Dortmund will trotzdem im Frühsommer mit der Videoüberwachung in der Münsterstraße vor der Buchhandlung starten. Eine eigene Ermittlungskommission für die Nordstadt gibt es schon länger, genauso wie speziell für den Stadtteil zuständige Staatsanwälte. Ordnungsamt und Polizei arbeiten bei gemeinsamen Kontrollen zusammen.

Schwierige Ausbildungsplatzsuche wegen Wohnort Nordstadt

Für Schüler aus der Nordstadt ist es schwierig, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. „Es gibt Benachteiligungen“, erzählt mir der Vertreter der Beratungsstelle. Wenn die Postleitzahl auf der Bewerbungsmappe auf die Nordstadt hindeutet, werden viele Bewerbungen abgelehnt, heißt es. Diese Vorurteile zu widerlegen, braucht Zeit.

Ruhrtalente aus der Nordstadt

Die Anne-Frank-Gesamtschule kämpft deshalb auch gegen das Image der Nordstadt an. Inzwischen gibt es an der Schule sogar Talentscoutings. Manche Schüler werden vom Land NRW schon als sogenannte Ruhrtalente staatlich gefördert. „Dass diese Schule jetzt mit dem Talentbegriff hausieren geht, das war erstmal ein neuer Gedanke, der sich jetzt aber durchgesetzt hat“, sagt die Studien- und Berufskoordinatorin Cordula Bego-Ghina. Ein Ruhrtalent der Anne-Frank-Gesamtschule – das war für viele Schüler früher unvorstellbar. Eine Erfolgsgeschichte für die Schule – und die Nordstadt. Und die Chance für eine andere Wahrnehmung, findet Studien- und Berufskoordinatorin Bego-Ghina: „Ich denke immer, wir müssen auch mal raus aus der Nordstadt. Nicht, weil die Nordstadt so schlecht wäre. Sondern weil die Gefahr sein könnte, dass unsere Schüler in diesem begrenzten Raum bleiben. Die Welt ist viel größer als die Nordstadt.“


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