Schwimmunterricht in Hannover (Bild von Ende Mai 2022)
Bildrechte: dpa-Bildfunk/Julian Stratenschulte

Kinder beim Schwimmunterricht

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Wenige Bäder, viele Unfälle: Schwimmt Bayern hinterher?

Die Sommer-Badesaison beginnt, begleitet von Sorgen: Bayern zählt bundesweit die meisten Badetoten, die Nichtschwimmer werden mehr, die Trainingsflächen weniger. Die Staatsregierung versucht gegenzusteuern - doch die Opposition fordert mehr Einsatz.

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Schwimmen, Surfen, Stand-up-Paddling: Nach regnerischen Wochen beginnt allmählich die Sommer-Badesaison in Bayern. Die Pfingstferien stehen vor der Tür, schon in den vergangenen Tagen gingen die Temperaturen nach oben, immer mehr Freibäder öffnen dieser Tage, abgehärtete Wassersportler wagen sich bereits in die noch kühlen Seen. Aber: Vorsicht und Achtsamkeit sind angebracht. Das zeigen auch die Daten.

Der Freistaat hat die meisten Badetoten

Im Jahr 2022 sind laut Deutscher Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) mindestens 355 Menschen ertrunken - damit liegen die Zahlen zwar unter dem Zehnjahres-Durchschnitt, aber deutlich über denen des Jahres 2021. Rund 80 Prozent der Toten waren Männer, gut 87 Prozent kamen in Binnengewässern wie Seen, Teichen oder in den als besonders gefährlich geltenden Flüssen ums Leben.

Die meisten Ertrunken wurden zwischen Mai und August registriert. Zugleich konnte beziehungsweise musste die DLRG so viele Menschen vor dem Ertrinken retten wie seit fast 40 Jahren nicht mehr. Ein Hotspot sowohl bei tragisch als auch bei glimpflich endenden Notfällen bleibt: Bayern. Der Freistaat registrierte im vergangenen Jahr fast 70 Badetote - mehr als jedes andere Bundesland.

Woran liegt das?

"Bayern ist das Land der Badeseen"

Einerseits: Bayern hat die größte Fläche, nach Nordrhein-Westfalen die zweitmeisten Einwohner, die meisten Touristen und hunderte natürliche oder künstlich angelegte Badeseen. DLRG-Landesverbandspräsident Manuel Friedrich sagt: "Bayern ist das Land der Badeseen - leider hat das eine Kehrseite." DLRG-Sprecher Achim Wiese meint: "Dort gibt es viele Seen, in denen Menschen häufig auch alleine schwimmen gehen." Und auch der bayerische Innen- und Sportminister Joachim Herrmann (CSU) sieht in der "tollen Wasserlandschaft" einen Grund für die mäßige Unfallbilanz, wie er jüngst auf BR-Nachfrage bei einem DLRG-Ortsbesuch in Erlangen deutlich machte.

Ob im Bodensee, im Chiemsee oder in der fränkischen Seenlandschaft, ob in anderen Binnengewässern wie dem Rhein-Main-Donau-Kanal oder den vielen Flüssen: Viele Menschen würden hier eben gerne Wassersport treiben, sagt Herrmann. Hinzukommt: Seen und Flüsse können im Vergleich etwa zu den oft gut einsehbaren Küstenabschnitten an Nord- oder Ostsee häufig nicht so leicht überwacht werden. Übermut, Selbstüberschätzung, Alkoholeinfluss, ein Herzinfarkt oder Wasserströmungen - um nur einige Ertrinkungsursachen zu nennen - führen so schneller mal zu lebensgefährlichen Situationen.

Andererseits: Lassen sich so allein die Zahlen für den Freistaat erklären? Und liegen die Gründe nicht doch tiefer?

Jedes fünfte Grundschulkind ist Nichtschwimmer

DLRG und Wasserwacht, Fachpolitikerinnen und Sportwissenschaftler - sie alle werden nicht müde, auf die nachlassenden Schwimmfähigkeiten gerade jüngerer Menschen hinzuweisen und auf die Folgen, die ein seenreiches und großes Bundesland wie Bayern stärker spürt als alle andere.

Repräsentative Forsa-Studienzahlen von 2022 sind ernüchternd: Rund 20 Prozent der Kinder im Grundschulalter (und damit doppelt so viele wie noch 2017) gelten in Deutschland als Nichtschwimmer, bei Kindern aus einkommensschwächeren Haushalten sind es sogar fast 50 Prozent. In der gymnasialen Mittelstufe schwimmen nicht mal mehr 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Sportunterricht, wie jüngst der Bayerische Philologenverband bei einer internen Abfrage herausgefunden hat. Auffallend zudem: Menschen mit wenig Geld, Migrationshintergrund und einem formal niedrigen Bildungsniveau bewegen sich im Durchschnitt ebenfalls nicht so sicher im Wasser, das betrifft auch Jugendliche und Erwachsene.

Gibt es zu viele "Spaßbäder"?

Das Problem sei massiv und vielschichtig, sagt Diana Stachowitz. Die sportpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, die auch Präsidentin des Behinderten- und Rehabilitations-Sportverbandes Bayern ist, sieht eine Ursache in der Schwimmbad-Situation. Letztere hat sich allen vorliegenden Zahlen und Experteneinschätzungen zufolge verschlechtert. Immer mehr Bäder müssen schließen, weil Geld für Sanierungsmaßnahmen oder Neubauten fehlt. Die Menschen müssen deshalb laut Umfragezahlen längere Anfahrtswege in Kauf nehmen, was viele wohl eher abschreckt als animiert. Ein Negativbeispiel ist der Landkreis Bad Kissingen, wo sich bald wohl mehr als 100.000 Einwohner ein einziges Hallenbad teilen.

Stachowitz verlangt im Gespräch mit BR24 deshalb unter anderem, nach Möglichkeit jede neue Grundschule mit einem Schwimmbad auszustatten, Schulschwimmbäder in den Sommerferien zu öffnen, Übungsleiter an Schulen fest anzustellen, öffentliche Bäder zu erhalten - und dort die Eintrittspreise zu senken, um vor allem für ärmere Familien interessant zu bleiben: "Bei uns kostet das in München sechs Euro. Das muss man sich mal ausrechnen für Eltern, die alleinerziehend sind, im Niedriglohnsektor sind, Bürgergeld kriegen. Die können sich das gar nicht mehr leisten."

Ein weiteres Problem laut Stachowitz: zu viele Spaßbäder und zu wenige Trainingsflächen, worunter auch die Rettungsschwimmer-Ausbildung leide. Dass zudem Bäder während der Corona-Pandemie längere Zeit geschlossen waren und zuletzt wegen der Energiekrise Wassertemperaturen gesenkt wurden, sorgt nicht nur Stachowitz.

Grünen-Politiker Johannes Becher blickt nicht minder skeptisch auf die kommende Sommersaison; zumal viele Schwimmkurse überfüllt sind und es an qualifizierten Trainerinnen und Lehrkräften fehlt, wie auch Becher konstatiert. Der kommunalpolitische Sprecher der Grünen-Landtagsfraktion kritisiert im Gespräch mit BR24 fehlende flächendeckende Strukturen in Bayern.

Grüne bemängeln Sanierungsstau

Die Staatsregierung habe keinen genauen Überblick, wie viele Schulen im Freistaat Schwimmunterricht anbieten, wie viele Lehrkräfte die Qualifikation dafür haben, wie viel Geld externe Übungsleiter für Schulstunden bekommen. Entsprechende Anfragen seien nicht genau beantwortet worden. Seine Forderung: Mithilfe externer Kräfte aus Schwimmvereinen, Wasserwacht und Bademeistern müsse künftig dafür gesorgt werden, dass kein Kind die Grundschule als Nichtschwimmer verlässt. Dafür brauche es künftig einen "Topf" und eine zentrale Kontrolle des Schwimmunterrichts.

Becher fordert auch mehr Hilfe für Städte und Gemeinden. Der Sanierungsstau betrage 1,8 Milliarden Euro bei den bayerischen Schwimmbädern in Bayern, im Vergleich dazu falle das Sonderförderprogramm des Freistaats mit 20 Millionen Euro jährlich viel zu klein aus. Becher hält es nicht für hinnehmbar, dass Schwimmbäder weiter verfallen und einzelne Gemeinden "furchtbare Entscheidungen" wie eine Schließung treffen müssen. "Wir brauchen eine grundlegend andere Politik", sagt Becher, dessen Partei - an der Stelle sei es erwähnt - wie alle anderen im Landtagswahlkampf ist.

Sportministerium verweist auf Fördermaßnahmen

Das Bayerische Innen- und Sportministerium verweist seinerseits auf Fördermaßnahmen wie Gutscheine für Seepferdchen-Kurse und die Vereinspauschale. Und verweist auf Geld, das Wasserwacht und DLRG vom Freistaat bekommen - eine Drei-Jahres-Summe von mehr als 17,5 Millionen Euro für den Wasserrettungsdienst, wie es auf Nachfrage heißt. Man habe gerade in der Corona-Pandemie Wasserwacht und DLRG unterstützt, sagt Minister Herrmann.

Die Wasserwacht will mehr: Sie fordert ein Sonder-Investitionsprogramm für ihre Wachstationen. Viele seien aus den 1960er-Jahren und inzwischen marode, heißt es. Auch für Drohnen und Sonargeräte erhofft man sich Geld. Wünsche, denen Herrmann bisher eher ablehnend gegenübersteht.

Große Hilfsbereitschaft, hohe Mitgliederzahlen

Die Arbeit dürfte den Rettungsschwimmern und -schwimmerinnen so oder so nicht ausgehen - allein deshalb, weil die Hitzesommer zahlreicher werden, die zunehmende Zahl an SUP-Boardern als Herausforderung gilt und der Schwimmsport trotz deutscher Weltklasse-Athleten wie Florian Wellbrock medial kaum noch stattfindet, damit auch weniger Vorbilder hervorbringt als etwa zu den Zeiten von Michael Groß oder Franziska van Almsick.

Des Weiteren gelten die didaktischen Bewahrungskräfte in der "Brustschwimmernation" Deutschland als relativ stark; nicht wenige Fachleute fordern seit Längerem, es den wohl weltbesten Schwimmnationen USA und Australien gleichzutun. Dort lernen die Kinder in der Regel als erstes Kraul - die Schwimmart, die in der technischen Ausführung als relativ leicht gilt und ideal ist sowohl für längere Distanzen als auch für schnelle Sprints.

Ungeachtet dessen gibt es auch positive Trends, passend zum Tag des Schwimmabzeichens am gestrigen 21. Mai: 2022 wurden hierzulande deutlich mehr Schwimmabzeichen abgenommen und Rettungsschwimmer ausgebildet als im Jahr zuvor. Generell ist die Bereitschaft zu Hilfe und Ehrenamt enorm: Die DLRG hat so viele Mitglieder wie noch nie. Bei der Wasserwacht sind es derzeit allein in Bayern rund 130.000.

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