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Beliban zu Stolberg "Zweistromland"

Beliban zu Stolberg entfaltet in ihrem Debütroman "Zweistromland" eine berührende Familiengeschichte, die sich von der deutschen Nordseeküste an den Tigris in der Südost-Türkei erstreckt.

Von: Roswitha Buchner

Stand: 01.09.2023 12:40 Uhr

Beliban zu Stolberg | Bild: Ken Yamamoto

"Der Tigris ist der Mittelpunkt meines Empfindens. Für meine Eltern ist er vielleicht nichts als eine Jugenderinnerung. Trotzdem, durch die Nähe zum Wasser bin ich mit ihnen verbunden, der Tigris reflektiert die Brücke, und mich, und auch meine Eltern hat er gespiegelt, vor vielen Jahren. Etwas von ihnen ist jedoch auf den Grund des Tigris gesunken, es muss so sein."

Beliban zu Stolberg aus 'Zweistromland'

Für Beliban zu Stolbergs Protagonistin und Ich-Erzählerin Dilan ist der Tigris sowohl Fixpunkt als auch ein Ziel. Sie hofft, mit seiner Hilfe der Vergangenheit ihrer Eltern auf den Grund zu gehen.

"Wasser ist immer ein Bild fürs Unbewusste, für Strömungen, die im Unterbewussten ablaufen und die Dinge, die wir sehen und die wir nicht sehen."

Beliban zu Stolberg

Geboren 1993 in Hamburg, wuchs Beliban zu Stolberg als Tochter eines kurdischen Vaters und einer deutschen Mutter an der deutschen Nordseeküste auf, genauso wie die Protagonistin Dilan in ihrem Roman "Zweistromland". Autobiographisch sei der Roman jedoch nicht, meint die Autorin. Vielmehr habe eine Reise im Jahr 2018 in die südosttürkische Stadt Diyarbakir an den Ufern des Tigris den Ausschlag gegeben, den Roman zu schreiben. Drei Jahre zuvor war die Altstadt von Diyarbakir nach Kämpfen zwischen Kurden und dem türkischen Militär dem Erdboden gleichgemacht worden.

"Es war diese Reise, die ganz viel offengelegt hat, mehr Fragen als Antworten bei mir geöffnet hat, und dann waren wir eben unterwegs, um in Diyarbakir auch die Auswirkungen des Kriegs zu sehen und diese Umbruchzeit."

  Beliban zu Stolberg

Der Tigris, das Hauptmotiv im Roman, steht symbolisch für die Umbrüche sowohl in Dilans Familie als auch in der Türkei. Hochkulturen entstanden und verschwanden an seinen Ufern, Kriege wurden seinetwegen geführt und durch ein Riesenstaudammprojekt sollte er gebändigt werden. Der Tigris kennt viele Geschichten, erzählt Beliban zu Stolberg.

"Flüsse sind ja auch so ein eigenes Habitat, also das ist ja wie so ein kleines ökologisches System, die eigentlich, wenn sie ungestört vom Menschen sind, sehr harmonisch ineinandergreifen. Da fand ich das Bild spannend, weil in diesen Systemen, wenn man kleine Veränderungen macht, es wie auch in so einem Familiensystem, eben eine Lawine auslösen kann."

Beliban zu Stolberg

Nachforschungen über die Vergangenheit

Diese Lawine löst im Roman "Zweistromland" Dilans Nachforschungen über die Vergangenheit ihrer Eltern aus. Sie waren kurdische Aleviten und an den Ufern des Tigris in Diyarbakir im Südosten der Türkei geboren und aufgewachsen. Warum sie ihre Heimat verlassen haben, um an die deutsche Nordsee Küste zu ziehen, darüber wurde in der Familie geschwiegen. Mit Folgen.

"Was mir davon wichtig war, ist die Verhärtung der Protagonistin auf eine bestimmte Art und Weise zu zeigen, weil ich ja an ihr versuche zu erzählen, was dieses Schweigen mit Menschen macht, und wie sich dieses Schweigen über Jahre, Jahrzehnte in die Psyche einschleifen kann."

  Beliban zu Stolberg

Um dieses Schweigen endlich aufzubrechen, reist die schwangere Dilan, die als Rechtsberaterin mit ihrem Mann in Istanbul lebt, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Diyarbakir, der Heimatstadt ihrer Eltern. Ausschlaggebend für diese Reise ist die Beerdigung ihrer Mutter in Norddeutschland, auf der sie einer geheimnisvollen fremden Frau begegnet, die ihr bewusst macht, dass es Lücken in der Familiengeschichte gibt. Diese versucht Dilan in Diyarbakir zu schließen. Ihre Nachforschungen gestalten sich allerdings schwierig in einer Stadt, die zum Zeitpunkt ihres Besuchs im Jahr 2016 von politischen Unruhen erschüttert wird. Doch Schritt für Schritt findet Dilan schließlich heraus, was damals passiert ist, und sie lernt, dass Unrecht zu verschweigen, es nicht ungeschehen macht. Weder in der Familie noch in einem Land, in dem die Existenz der kurdischen Minderheit einfach verschwiegen wird. Eine Erkenntnis, die Dilans Leben verändert.

"Ich glaube, dass es hilft die eigene Familiengeschichte zu kennen und einfach zu sehen, was zieht sich so durch, um dann entscheiden zu können, was davon gibt man weiter. Und klar, haben wir alle die ganze Zeit blinde Flecken, die wird man niemals los, aber man kann versuchen, sich so bewusst wie möglich zu werden. Auch über die eigene Position in der Welt. Also, das ist eine Familiengeschichte, aber auch eine globale Geschichte."

Beliban zu Stolberg

Schmerzhaftes Vergessen und quälendes Erinnern

Was Dilan erfährt, legt neue unbekannte Seiten in ihrer Persönlichkeit frei, und ihr wird klar, dass sie etwas ändern muss. Auch für ihr ungeborenes Kind, das ein Anrecht auf die Wahrheit hat. Mit poetischer Kraft und enormer Sprachgewalt zieht Beliban zu Stolberg die Leserschaft in die kurdisch-deutsche Familiengeschichte hinein, die sich von den 1970er Jahren in der Südost-Türkei über Norddeutschland in den 1990er Jahren bis ins Jahr 2016 in die Türkei erstreckt. Schmerzhaftes Vergessen und quälendes Erinnern verweben sich in "Zweistromland" zu einem dichten Teppich des Schweigens, das nicht nur die Familie lähmt, sondern auch das Land, das sie einmal ihre Heimat nannte. Eine Heimat, die so nicht mehr existiert und von der nur noch der Tigris erzählen kann, der dort seit Jahrhunderten alle Geschichten und Träume mit sich trägt. Auch die Dilans:

"Er rauscht in meinen Träumen. In mir ist ein großes Verlangen, die Hand in den Fluss zu halten. Zu sehen, wie mein Körper die Strömung unterbricht, wenigstens für eine Sekunde."

Beliban zu Stolberg aus 'Zweistromland'

Der Roman "Zweistromland" von Beliban zu Stolberg ist im Kanon Verlag erschienen.


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