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Staatsanwalt ermittelt in Au am Inn Wie behinderte Kinder weggesperrt werden

Die Staatsanwaltschaft Traunstein ermittelt gegen das Kinderheim "Haus Maria“ in Au am Inn - wegen Freiheitsberaubung. Es sollen Genehmigungen für die geschlossene Unterbringung der geistig behinderten Kinder gefehlt haben.

Von: Christiane Hawranek

Stand: 04.09.2015 | Archiv

Symbolbild Geschlossene Anstalt: Türe wird zugesperrt | Bild: picture-alliance/dpa

Die Einschlussprotokolle und Tagespläne, die dem Bayerischen Rundfunk vorliegen, erinnern eher an ein Gefängnis als an ein Kinderheim. Ein Novembertag im Leben eines Jungen beginnt beispielsweise damit, dass er morgens eine Stunde in sein Zimmer eingesperrt wird und alleine frühstückt.

Organisiertes einsperren: Die Liste der Einschlusszeiten

Im handschriftlich ausgefüllten Protokoll heißt es über den Verlauf des Einschlusses: "ruhig". Der Grund: "ELT". Das steht für "Einschluss laut Tagesplan". 16 mal wird der Junge an diesem Tag eingesperrt, 16 mal mit dem "Grund", dies sei sein Tagesplan. Er bekommt eine Brotzeit, Mittagessen, Abendessen alleine im Zimmer, schließlich erfolgt von 19.30 Uhr bis 6.10 Uhr der Nachteinschluss.

Nachtruhe im Kastenbett

Kastenbett - Grafische Darstellung

Auch Franz Kurzmeier hatte die Aufgabe, Kinder in ihre Zimmer zu sperren. 2012 hat er ein halbes Jahr lang im Haus Maria gearbeitet, das zum Franziskushaus im oberbayerischen Au am Inn gehört. Einzelne Kinder haben im sogenannten Kastenbett geschlafen, berichtet er: einem käfigartigen Holzverschlag mit Luftlöchern.

"Ein Mädchen zum Beispiel war von 19.30 Uhr bis 6.30 Uhr in das Kastenbett eingesperrt. Das ist für mich so lange OK, so lange das Kind jederzeit raus kann. Aber da ist halt dagegen gepoltert worden, weil das Kind raus wollte und nicht können hat! Mir sind erhebliche Zweifel gekommen, ob das alles so sein kann und deshalb habe ich Anzeige erstattet."

Franz Kurzmeier, Heilerziehungspflegehelfer

Denunziation?

Bereits Ende 2012 haben Staatsanwaltschaft und Kripo das Haus Maria durchsucht und Unterlagen beschlagnahmt. Doch die Ermittlungen wurden mehrfach wieder eingestellt. Darauf beruft sich das Heim. Auf Nachfragen des Bayerischen Rundfunks teilt die Geschäftsführung schriftlich mit, man fühle sich von dem ehemaligen Mitarbeiter denunziert.

"Als Träger des Franziskushauses Au am Inn weisen wir die erhobenen Vorwürfe von Herrn Kurzmeier als bereits erwiesen unwahr zurück."

Stellungnahme des Franziskushauses Au am Inn

Ist Franz Kurzmeier tatsächlich nur ein geschasster Mitarbeiter, der sich an seinem früheren Arbeitgeber rächen will?

Ein Interview mit den Verantwortlichen des Heims ist nicht möglich, doch die Heimleitung ist bereit, die Einrichtung zu zeigen. Hinter dicken Klostermauern, die selbst im Sommer die Hitze verschlucken, liegt das Kinderheim Haus Maria. Träger ist die Kongregation der Franziskanerinnen von Au am Inn. Darin leben zurzeit 18 Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen wie frühkindlichem Autismus und anderen psychischen Störungen.

Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Freiheitsberaubung

Bedrückend wirkt: Alle Kinder im Haus Maria leben in der geschlossenen Abteilung hinter zugesperrten Türen, sie dürfen das Kloster nur in Ausnahmefällen verlassen, sehen ihre Eltern gerade jedes zweite Wochenende. Eine solche Unterbringung muss von einem Richter genehmigt werden. Unterlagen, die dem Bayerischen Rundfunk vorliegen, weisen aber eindeutig darauf hin, dass über Monate erforderliche Genehmigungen gefehlt haben.

Im Sommer 2015 hat die Staatsanwaltschaft Traunstein das Ermittlungsverfahren gegen das Kinderheim wieder aufgenommen. Der aktuelle Vorwurf: "Freiheitsberaubung zum Nachteil der Kinder und Jugendlichen, die in den geschlossenen Stationen untergebracht sind". Auch der Petitionsausschuss des Bayerischen Landtags hat sich bereits mit dem Fall beschäftigt. Haben die Betreuer im Heim möglicherweise ihre Macht missbraucht?

Franziskushaus Au am Inn: Zentrum für behinderte Kinder

Das Franziskushaus Au am Inn ist ein Zentrum für die Betreuung und Förderung geistig behinderter Kinder und Jugendlicher. Unter dem Dach des Franziskanerinnenklosters befinden sich eine Frühförderstelle des Landkreises Mühldorf am Inn. Außerdem ein heilpädagogischer Kindergarten, eine Schule, ein Tagesheim sowie das heilpädagogische Kinderheim "Haus Maria", in dem derzeit 18 geistig behinderte Kinder und Jugendliche leben. Gegen das Kinderheim ermittelt die Staatsanwaltschaft Traunstein wegen Freiheitsberaubung.

Weggesperrt "nach Tagesplan"

In den beschlagnahmten Akten offenbart sich der Heimalltag. Darin steht zu lesen, dass Kinder weinen und jammern, während sie eingesperrt in ihren Zimmern sitzen. Den Unterlagen aus dem Jahr 2012 zufolge ist es vorgesehen, dass einzelne Heimbewohner bis zu 22 beziehungsweise bis zu 24 Stunden am Tag ins Einzelzimmer gesperrt werden können. Einschlüsse zur "Struktur" oder "laut Tagesplan" streitet das Heim nicht ab. Nach eigenen Angaben konnten aber alle "deeskalierenden Maßnahmen" mittlerweile um etwa die Hälfte reduziert werden. Die Geschäftsleitung spricht von einem "präventiven" Vorgehen und bezeichnet das Einsperren in einer schriftlichen Stellungnahme als "Pausezeiten".

"Regelmäßige Pausezeiten, während des Tages im eigenen Zimmer  dienen der Beruhigung, Entspannung und Erholung des Kindes bei Überforderung, Reizüberflutung, Unruhezuständen und leichten aggressiven Anfällen."

Stellungnahme Franziskushaus Au am Inn

Das Heim fühlt sich im Recht. Die Kinder seien geistig schwer behindert, seien zum Teil auch aggressiv, hyperaktiv, depressiv und kontaktgestört, hätten Angstzustände und "Weglauftendenzen". Diese Kinder seien nicht in der Lage, in anderen Wohnformen zu leben, glaubt man in Au am Inn. Das Kinderheim Haus Maria biete einen "beschützenden Rahmen".

Tagesablauf: Einschluss

Kinderrechtsexperten sind gegen Extremmaßnahmen

Einsperren als Form der Therapie? Kinderrechtsexperten sehen das anders. Professor Jörg Fegert, ärztlicher Direktor am Universitätsklinikum Ulm und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, hält Zwangsmaßnahmen wie Einsperren und das Fixieren mit Gurten nur in Ausnahmefällen für gerechtfertigt.

"Es ist ja eine Ultima Ratio, und immer eigentlich nur, wenn es um Leib und Leben geht, können wir zu solchen Extremmaßnahmen greifen und da müssen wir auch noch schauen: Können wir nicht doch durch hohen Personaleinsatz Zwang vermeiden?"

Professor Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Ulm

Systematischer Freiheitsentzug "zur Tagesstruktur" sei unvereinbar mit den Rechten und auch mit der Würde von Kindern, sagt der Kinderschutzbund. Auch Maria Kaminski, die Vorsitzende des Bundesverbands Autismus Deutschland ist entsetzt über die Methoden im Haus Maria. Sie ist selbst Mutter eines Sohnes mit frühkindlichem Autismus.

"Das hat ja keinen pädagogischen Effekt, davon lernt das Kind gar nichts, es wird nur verstörter, unruhiger, ängstlicher und aggressiver. Gewalt erzeugt immer Gegengewalt."

Maria Kaminski, Bundesverband Autismus Deutschland

Und auch die Vorsitzende des Deutschen Familiengerichtstags, Isabelle Götz, ist erschüttert über die Zustände im Haus Maria: Geistig behinderte Kinder ins Zimmer zu sperren dürfe auf keinen Fall zur Alltagsroutine werden - und Kinderheime sollten in der Lage sein, mit hohem Personaleinsatz solchen Zwang zu vermeiden, sagte sie dem Bayerischen Rundfunk.

Regeln für den Freiheitsentzug

Freiheitsbeschränkende Maßnahme

Das sind Zwangsmaßnahmen, die Heimmitarbeiter innerhalb einer Einrichtung anwenden, beispielsweise das Zusperren der Zimmertür, das Fixieren eines Kindes mit Gurten oder das Isolieren in sogenannten Time-Out-Räumen, das sind kahle fensterlose Zimmer ohne Möbel und Spielzeug. Im Gegensatz zur freiheitsentziehenden Unterbringung ist bei den genannten Zwangsmaßnahmen nur die Einwilligung der Eltern nötig. Nach derzeitiger Rechtslage müssen sie nicht vom Gericht genehmigt werden.

Freiheitsentziehende Maßnahme

Vergleichbar mit geschlossenen Abteilungen einer Psychiatrie existieren auch Heime, in denen Kinder hinter versperrten Wohnungstüren leben. Deutschlandweit genehmigen Richter pro Jahr etwa 1200 Mal die "freiheitsentziehende Unterbringung von Minderjährigen".

Das Problem ist: Offenbar gibt es extrem große rechtliche Spielräume für die sogenannten freiheitsbeschränkenden Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen. Das bayerische Justizministerium schreibt auf BR-Anfrage, es könne zulässig sein, Kinder ins Zimmer zu sperren oder zu fixieren, um "Tagesstrukturen oder Ruhezeiten" einzuhalten.  

Haben Betreuer in Behindertenheimen also die Macht, Kinder festzubinden und wegzusperren, wenn es ihnen gerade in den Tagesplan hineinpasst?

Rechtslage öffnet "Missbrauch Tür und Tor"

Eine ganze Reihe von Experten und Verbandsvertretern ist über die Rechtslage sehr besorgt, wonach nur die Zustimmung der Eltern notwendig ist, um ein Kind im Heim zu fixieren oder ins Zimmer zu sperren. Professor Jörg Maywald von der National Coalition Deutschland, die sich für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention einsetzt, warnt vor einer Grauzone, in der niemand mehr die Interessen des Kindes im Blick habe, nicht einmal mehr ein Gericht.

"Das öffnet natürlich auch Missbrauch Tür und Tor. Weil Eltern - es geht um sehr belastende Familienverhältnisse - auch manchmal nicht mehr das beste Interesse ihres Kindes im Blick haben und auch Einrichtungen haben ja Eigeninteressen im Sinne eines guten Funktionierens."

Professor Jörg Maywald, National Coalition Deutschland

Diese Sorgen sind mittlerweile auch im Bundesjustizministerium angekommen. Eine Sprecherin schreibt auf Anfrage des Bayerischen Rundfunks, man stehe im intensiven Dialog mit medizinischen und juristischen Experten zum Thema. Nach eingehender Prüfung werde es sich zeigen, ob und gegebenenfalls welche Änderungen der Gesetze zum Schutz der Kinder erforderlich sind.

Förderer

Das Franziskushaus in Au am Inn hat von einer ganzen Reihe von Förderern finanzielle Unterstützung bekommen: unter anderem von der Regierung von Oberbayern, der Bayerischen Landesstiftung, dem Oberbayerischen Volksblatt und auch vom Verein Sternstunden, der Benefizaktion des Bayerischen Rundfunks. 2009/2010 hat Sternstunden den Neubau des Kinderheims mit Spendengeld gefördert - das war allerdings, bevor Vorwürfe aufkamen.


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