Archivbild: Josef Schuster, Präsident Zentralrat der Juden in Deutschland
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Zentralrat der Juden: "Aiwanger lässt Einsicht vermissen"

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, kritisiert den Umgang Hubert Aiwangers mit Antisemitismus-Vorwürfen. Er lasse die Bereitschaft zur ehrlichen Auseinandersetzung vermissen. Die Türkische Gemeinde in Bayern zieht Konsequenzen.

Über dieses Thema berichtet: BR24live am .

Ungeachtet neuer Zeugenaussagen zu seinem Verhalten in der Schulzeit beklagt der bayerische Vize-Ministerpräsident Aiwanger weiter eine "Schmutzkampagne". Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster aus Würzburg, zeigt sich verärgert über Aiwangers Umgang mit den schwerwiegenden Vorwürfen. "Hubert Aiwanger lässt auch Tage nach dem Bekanntwerden des antisemitischen Flugblattes aus seiner Schulzeit Einsicht und die Bereitschaft zur ehrlichen Auseinandersetzung vermissen", sagte Schuster der "Bild"-Zeitung. "Es hätte eine schnelle Reaktion in diesem Sinne gebraucht."

Nun gehe es nicht mehr darum, ob sich jemand in 35 Jahren glaubhaft wandeln könne, sondern "um den Umgang mit den Vorwürfen, der fast schon trotzig wirkt". Schuster betonte: "Wenn er in seiner Jugend zum Umfeld eines Milieus gehörte, in dem diese Art von Rhetorik und Gesinnung üblich war, sollte ihm in seiner heutigen Position ein Wille zur Aufklärung besonders wichtig sein. Er ist es der Öffentlichkeit schuldig."

American Jewish Committee: "Entsetzt"

Scharfe Kritik an Aiwanger kam auch vom deutschen Büro des "American Jewish Committee". In den sozialen Netzwerken schrieb die Organisation: "Wir sind entsetzt, dass Aiwanger, unabhängig von der Frage der eigenen Beteiligung, weiterhin jede ernsthafte Auseinandersetzung über den Inhalt und die Wirkung des Flugblatts nicht zuletzt auf Shoa-Überlebende und ihre Nachfahren vermeidet und sich stattdessen als Opfer stilisiert."

Nachkommengruppe NS-Verfolgter schreibt offenen Brief

Die Regionalgruppe Süd der "Nachkommengruppe NS-Verfolgter" wandte sich mit einem offenen Brief an Aiwanger. "Sie wissen nicht mehr genau, ob Sie damals in der Schule das Flugblatt verbreitet haben, das übervoll ist mit Hass." Dieses Pamphlet beleidige und verletze Angehörige von Opfern des Nationalsozialismus zutiefst, "heute wie vor 35 Jahren". Die Gruppe fordert Aiwanger dazu auf, zu bekennen, dass seine Familie und er zu denen gehörten, "die anfällig sind für Antisemitismus", und sich einer Diskussion über "dieses peinliche Thema zu stellen".

Türkische Gemeinde stellt Zusammenarbeit mit FW ein

Die liberal orientierte Türkische Gemeinde in Bayern zog Konsequenzen aus den Anschuldigungen gegen Aiwanger: Die Zusammenarbeit mit den Freien Wählern werde eingestellt, solange die schwerwiegenden Vorwürfe gegenüber ihrem Parteivorsitzenden nicht vollständig ausgeräumt seien und er sich transparent und vollständig zu seiner Vergangenheit äußere.

"Die jüngsten verbalen Entgleisungen von Herrn Aiwanger, verbunden mit offensichtlich rechtsextremen Tendenzen in seiner Jugendzeit und zuletzt extremistisch eingefärbten populistischen Äußerungen in Erding haben ein Gesamtbild entstehen lassen, die Zweifel an seiner demokratischen Gesinnung und seiner Eignung als Spitzenpolitiker aufkommen lassen", sagte der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Bayern, Vural Ünlü. Die Freien Wähler weigerten sich, kritische Fragen an ihren Parteichef zu stellen. "Wir fordern Ministerpräsident Söder dazu auf, sich klar zur 'Brandmauer' gegenüber rechtsextremen Strömungen zu bekennen und stärkeren Druck für eine umfassende Aufklärung auszuüben.

Aiwanger: "Bin kein Antisemit"

Nachdem es tagelang nur anonyme Vorwürfe gegen Hubert Aiwanger gegeben hatte, äußerte sich am Dienstagabend im BR-Interview erstmals ein Ex-Mitschüler offen vor der Kamera: Aiwanger habe damals Hitler imitiert und Juden-Witze erzählt, erinnerte sich Mario Bauer. Ein weiterer Schulkamerad berichtete BR24, Hubert Aiwangers politische Haltung sei "damals auf jeden Fall deutlich rechts der CSU angesiedelt und von nationalsozialistischem Gedankengut geprägt" gewesen. Rund um einen KZ-Gedenkstätten-Besuch bei einer Klassenfahrt habe Aiwanger einen "sehr abstoßenden" Witz über Juden gemacht". Die neuen Vorwürfe sind laut Ministerpräsident Markus Söder (CSU) auch Teil des Fragenkatalogs, den Aiwanger beantworten soll.

Aiwanger selbst betonte in Donauwörth, er sei seit dem Erwachsenenalter kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund. In der Jugendzeit könne vielleicht "das eine oder andere so oder so interpretiert werden". Über die Vorwürfe wundere er sich aber und er müsse den Kopf schütteln. Auf die Nachfrage eines BR-Reporters, ob er als Schüler den Hitlergruß gezeigt und Juden-Witze erzählt habe, sagte der Minister: "Ist mir auf alle Fälle nicht erinnerlich." Viele Menschen hätten laut Aiwanger kein Verständnis für diese "Kampagne" gegen ihn.

Freie Wähler stehen hinter Aiwanger

Bereits am Samstag hatte Aiwanger eingeräumt, dass in seiner Schultasche vor 35 Jahren ein oder mehrere Exemplare eines antisemitischen Flugblatts gefunden worden seien und er unter Druck eine Strafe der Schule akzeptiert habe. Ob er das Papier verteilt habe, sei ihm nicht erinnerlich. Verfasst habe er es aber nicht. Anschließend bekannte sich Aiwangers Bruder Helmut, Verfasser des Pamphlets gewesen zu sein.

Die Spitzen von Partei und Fraktion der Freien Wähler stellten sich ungeachtet der neuen Berichte hinter ihren Parteichef. Rücktrittsforderungen seien lachhaft, sagte die bayerische FW-Generalsekretärin Susann Enders. Umweltminister Thorsten Glauber kann sich nicht vorstellen, auf welcher Grundlage Aiwanger überhaupt entlassen werden sollte, da sich ja sein Bruder zu dem antisemitischen Flugblatt bekannt habe.

Die Spitzen der Bundesregierung mahnten dagegen umfassende Aufklärung an. "Alles das, was bisher bekannt geworden ist, ist sehr bedrückend", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Vize-Kanzler Robert Habeck (Grüne) kritisierte Aiwangers Umgang mit den Presseberichten zu seiner Jugend als "unaufrichtig". Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bezeichnete die Vorwürfe gegen Aiwanger als "bestürzend". Es müsse dringend Klarheit geschaffen werden - mit den dann gegebenenfalls notwendigen Konsequenzen.

Mit Informationen von KNA.

Im Video: Aussagen eines Ex-Mitschülers erhöhen Druck auf Aiwanger

Hubert Aiwanger
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Hubert Aiwanger

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