Ein Mann mit schütterem Haar in Anzug und Krawatte, es ist der russische Präsident Wladimir Putin, links von ihm ein Panzer, rechts von ihm ein Kampfflugzeug.
Bildrechte: picture alliance/dpa/Russian Defence Ministry | Russian Defence Ministry, picture alliance / SvenSimon-TheKremlinMoscow | The Kremlin Moscow, picture alliance/dpa/TASS | Sergei Fadeichev, picture alliance / Zoonar | Alexander Strela; Montage: BR

Experten warnen, Putin wiegelt ab: Droht ein Angriff Putins?

Per Mail sharen
Artikel mit Video-InhaltenVideobeitrag

Putin gegen den Westen: Wie berechtigt ist die Kriegsangst?

Will Putin einen Krieg mit der Nato? Experten sind gespalten, Putin selbst nennt das in Interviews abwegig. Doch die Warnungen werden mehr, Europa müsste sich vorbereiten auf einen weiteren Krieg. Wann greift Putin an?

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Die Worte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj klangen düster: "Russland wird uns zerstören, wird das Baltikum zerstören, wird Polen zerstören." Nach Selenskyjs Rede bei der 60. Münchner Sicherheitskonferenz vergangenes Wochenende applaudierte der Saal stehend. Die führenden Sicherheits- und Verteidigungsexperten sowie die politische Elite Europas scheinen geeint in der Bewertung der Gefährlichkeit Putins. Die Nachricht vom Tod des Kremlkritikers Alexei Nawalny zu Beginn der Konferenz tat ihr Übriges, um diese Bewertung noch zu verstärken.

Steht ein Angriff russischer Truppen auf das Baltikum oder Polen also wirklich unmittelbar bevor? "Wir reden von einer Kriegsgefahr von morgen, nicht von heute", macht Christian Mölling, Sicherheits- und Verteidigungsexperte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) klar, "sobald die Kampfhandlungen in der Ukraine im wesentlichen Teil eingestellt sind, läuft die Uhr". Mölling verweist auf Analysen der DGAP, die von einem Angriff Putins in sechs bis neun Jahren ausgehen – "andere sagen, dass es sehr viel schneller gehen kann".

Putin: Von Kopf bis Fuß auf Krieg eingestellt?

Die einfache Rechnung: Präsident Putin hat in Russland schon längst massiv auf Kriegswirtschaft umgestellt und rüstet weiter für den Krieg in der Ukraine auf. Ein Angriff eines hochgerüsteten Russlands auf das Baltikum oder Polen scheint dadurch zum einen möglich, zum anderen hegt Putin diese Ambitionen, sagt Gerhard Mangott, Professor für Politikwissenschaft mit der Spezialisierung auf Internationale Beziehungen und Sicherheitsforschung im post-sowjetischen Raum an der Universität Innsbruck im BR24-Interview: "Das Baltikum zu kontrollieren, würde Russland in Vorteil bringen, in der Ostsee wieder stärker aufzutreten, denn jetzt ist die Ostsee fast ein Nato-Meer mit einer kleinen russischen Küste."

Aus dieser geostrategischen Perspektive ist laut Mangott für Putin auch Polen von Interesse, um einen direkten Landzugang von Belarus zur russischen Exklave Kaliningrad durch die sogenannte Suwalki-Lücke zu haben. Belarus sei in den vergangenen zwei Jahren bereits "auf dem schleichenden Weg annektiert worden" – anders als die Ukraine.

Grafik: Die Suwalki-Lücke als Verbindung zwischen Kaliningrad und Belarus

Bildrechte: MapTiler/OpenStreetMap; Collage: BR
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Die Suwalki-Lücke als Verbindung zwischen Kaliningrad und Belarus.

Putins demonstrative Zurückhaltung

Putin selbst gibt sich zurückhaltend. In einem Interview mit dem erzkonservativen US-Hardliner Tucker Carlson für sein Netzwerk – der Sender Fox hatte sich im April 2023 von ihm getrennt – sagte Putin, er habe kein Interesse an Polen oder Lettland, er würde nur in einem Fall Truppen in Polen einmarschieren lassen: wenn Polen zuerst angreift.

Kann man Putin glauben? Osteuropa-Experte Andreas Umland vom Stockholm Centre for Eastern European Studies führt im BR24-Interview das "Element von Wahnsinn" an, das im Kreml herrsche und eine Bewertung final schwierig machte: "Es gibt eine Rest-Unklarheit über die Rationalität der russischen Führung, die Sicherheitspolitiker veranlasst, sich auf ein Worst-Case-Szenario, einen Krieg mit Russland vorzubereiten."

Im Video: Nato vs. Russland – Kommt bald der große Krieg? Possoch klärt!

Russland versus Nato: Kommt der große Krieg?

Gleichzeitig ist bei der Bewertung, wann ein Angriff Putins erfolgen könnte, die Frage nach den Konsequenzen relevant: ein großer, globaler Krieg – Russland gegen die Nato mit Atommacht USA – müsste nicht zwingend das Ergebnis einer Militäraktion Russlands an der Ostgrenze der Nato sein, wie Verteidigungsexperte Mölling erklärt. "Wenn Russland es gelingt, zum Beispiel Vilnius als Hauptstadt einzunehmen, würde Putin ein Friedensangebot machen und sagen: Wir behalten Vilnius und ansonsten ist Frieden."

Das Kalkül Putins laut Mölling: Die Nato würde nicht militärisch, sondern politisch agieren und fragen, ob man deutsche Soldaten zur Befreiung Vilnius schicken sollte: "Ist einem das so viel wert?" Denn der militärische Aufwand, Vilnius zurückzuerobern, wäre groß. Über diese Frage könnte sich die Nato schließlich politisch zerlegen: "Damit ist dann auch eine militärische Kampfkraft der Nato nicht mehr vorhanden."

Nato ohne USA: "Kämpfen dann blind und taub"

Ein wichtiger Faktor in der Verteidigungsfähigkeit der Nato-Ostflanke, des Baltikums, sind die Streitkräfte der USA. Keine andere Armee auf der Welt könne so schnell Truppen verlegen wie die USA, sagt Mölling. Sollten die US-Truppen wegfallen, sei die Verteidigungsfähigkeit entscheidend geschwächt. Zudem falle die Aufklärung, wie sie die USA in der und für die Ukraine betreibe, weg: "Wir müssten bis zu einem gewissen Maß blind und taub kämpfen", sagt Mölling.

Europa ohne die militärische Unterstützung der USA, ist ein Szenario, das unter einer US-Präsidentschaft Donald Trumps ab Ende 2024 Realität werden könnte. Trump wird nicht müde, die Nato immer wieder infrage zu stellen und die Unterstützung der USA eventuell sogar aufzugeben. Allein die Diskussion schwächt die Abschreckungskraft und Glaubwürdigkeit der Nato bereits entscheidend.

Russland braucht Zeit zum Aufrüsten – Europa aber auch

Ein Angriff Russlands und der Zeitpunkt dafür hat entscheidend mit der militärischen Stärke zu tun. Was die Experten im BR24-Interview in diesem Zusammenhang betonen: Russland hat zwar voll auf Kriegswirtschaft umgestellt, muss aber nach dem Ende oder Einfrieren des Ukraine-Kriegs die Verluste an militärischem Gerät und Personal erstmal wieder ausgleichen "und das dauert Zeit", sagt etwa Professor Mangott.

Dennoch: Russland verfügt immer noch über große Teile der Flotte, der Luftstreitkräfte, der Cyberstreitkräfte, der Nuklearstreitkräfte. Diesem Bedrohungspotenzial muss laut Militärexperten eine Abschreckung entgegengesetzt werden. Kann das Nato-Europa?

"Es dauert sicherlich acht bis zehn Jahre, bis die europäischen Armeen wirklich schlagkräftig geworden sind." Gerhard Mangott, Professor für Politikwissenschaft mit der Spezialisierung auf Internationale Beziehungen und Sicherheitsforschung im post-sowjetischen Raum an der Universität Innsbruck

Selbst wenn die unmittelbare Kriegsgefahr heute noch gering ist, auch für morgen wäre Europa nicht vorbereitet.

Zu viel Panik und Kriegstreiberei im Westen?

24. Februar 2022: Die russische Invasion in die Ukraine beginnt. Noch einen Tag vorher gab es viele Stimmen in Deutschland, die meinten, ein Angriff Putins auf die Ukraine sei völlig abwegig. Ein Irrtum. Könnte sich aufgrund dieser Fehleinschätzung jetzt zu viel Alarmismus in die Debatte um weitere Kriege eingenistet haben? Professor Mangott sieht "eine orchestrierte Kampagne, um Zustimmung in der Bevölkerung für Aufrüstung aufrechtzuerhalten". Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) spreche etwa bewusst von der "Kriegstüchtigkeit" statt der "Verteidigungsfähigkeit". Laut Mangott kann man mit diesem Vokabular eher eine Angstsituation in der Bevölkerung erzeugen, "die man eben politisch braucht".

Mölling von der DGAP hält dagegen: "Deutschland hat in seiner Sicherheits- und Verteidigungspolitik noch nie überreagiert, Deutschland hat immer zu wenig gemacht." Als Beispiel nennt Mölling den Abzug aus Afghanistan: "Da haben alle schon evakuiert, während die Deutschen noch in der Botschaft saßen und gesagt haben: Wir wollen bloß nicht überreagieren." In der Realität sei es das Beste, sich auf ein mögliches Kriegsszenario vorzubereiten. So haben es die Nato-Staaten bereits 2022 erklärt: Ein Krieg in Europa sei aufgrund russischer Aggression möglich.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!