Die ukrainische Armee hat sich aus dem hart umkämpften Awdijiwka zurückgezogen.
Bildrechte: 3Rd Assault Brigade/Handout via REUTERS

Die ukrainische Armee hat sich aus dem hart umkämpften Awdijiwka zurückgezogen.

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Abzug aus Awdijiwka: "Warum werden wir so gestraft?"

Die ukrainische Armee hat sich aus dem hart umkämpften Awdijiwka zurückgezogen. Viele Soldaten sind dort gefallen. Der Abzug löst im Land große Niedergeschlagenheit aus. Die Mobilisierung neuer Kräfte rückt immer mehr in den Fokus.

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"Los, fahren wir!" Ukrainische Soldaten verlassen die Stadt Awdijiwka. Das soll das Video zeigen, das die 3. Sturmbrigade am Sonntag veröffentlicht hat. Die Einheit sollte den Abzug der Ukrainer absichern. Dennoch fielen im Zuge des ukrainischen Rückzugs laut Armeeführung eigene Soldaten in russische Hand.

Die Ukrainer seien in Gefahr gewesen, eingekesselt zu werden. Um ihr Leben zu retten, sei der Rückzug richtig, erklärte Armeechef Oleksandr Syrskyj auf der Plattform X und auf Facebook. Ähnlich äußerte sich Präsident Wolodymyr Selenkskyj auf der Münchener Sicherheitskonferenz. Der Rückzug sei eine professionelle Entscheidung, die für die russische Seite jedoch keinen Vorteil bedeute, so Selenskyj. Russland habe Leben, Dörfer und Städte in der Ukraine zerstört, sowie Zehntausende eigener Soldaten getötet.

Russische Invasoren greifen weiter Richtung Westen an

Nachdem sich die ukrainischen Truppen aus Awdijiwka zurückzogen und nun die Frontlinien stabilisieren müssen, hält die russische Armee die ehemalige Industriestadt und die weitläufige Kohlefabrik nach eigenen Angaben besetzt. Awdijiwka liegt nur wenige Kilometer entfernt von Donezk und so ist auch die seit 2014 russisch besetzte Gebietshauptstadt etwas mehr aus der Reichweite der ukrainischen Armee gerückt. An Drohnen, Gleitbomben, Flugzeugen oder Soldaten ist Russland rein zahlenmäßig erdrückend überlegen und die Angreifer rücken laut ukrainischen Angaben weiter in Richtung Westen vor. Im Fokus stand am Sonntag der kleine Ort Lastochkine. Die russische Seite würde aktiv versuchen, diesen einzunehmen, sagte der Sprecher des ukrainischen Militärkommandos im ukrainischen Fernsehen. Dort hätten die ukrainischen Soldaten heftige Angriffe abwehren müssen.

Die russische Seite habe enorme Verluste erlitten, nicht nur bei Awdijiwka, so der Sprecher. Seit Jahresbeginn bis einschließlich 16. Februar seien mehr als 20.000 russische Soldaten getötet und viel Militärtechnik zerstört worden, darunter rund 200 Panzer. Die russischen Angreifer seien über die Leichen der eigenen Soldaten vorgerückt, schrieb Brigadegeneral Oleksandr Tarnawskyj auf Telegram.

Video: Rückzug der Ukrainer aus Awdijiwka

Ukrainische Soldaten verlassen die Stadt Awdijiwka. Das soll das Video zeigen, das die 3. Sturmbrigade am Sonntag veröffentlicht hat.
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Ukrainische Soldaten verlassen die Stadt Awdijiwka. Das soll das Video zeigen, das die 3. Sturmbrigade am Sonntag veröffentlicht hat.

Mobilisierung von Soldaten - neuralgischer Punkt ukrainischer Innenpolitik

Die ukrainische Seite veröffentlicht keine offiziellen Zahlen. Wie viele ukrainische Soldaten bei den Kämpfen um Awdijiwka getötet wurden oder insgesamt seit dem Beginn der russischen Großinvasion, kann nur geschätzt werden. Sicher ist, es sind viele. Auf lange Sicht werden ukrainische Männer in der Armee gebraucht. Mobilisierung ist ein entsprechend wichtiges Thema und ein neuralgischer Punkt ukrainischer Innenpolitik. Parlament und Regierung debattieren derzeit heftig über ein neues Mobilisierungsgesetz.

Maria Zolkina ist beim Think Tank Ilko Kucheriw zuständig für Konflikt- und Sicherheitsfragen und Stipendiatin der London School of Economics. Im Gespräch mit dem ARD-Studio Kiew plädiert sie für eine offene Debatte. Mobilisierung sollte ein Thema sein, das von den offiziellen Behörden endlich bewusst und ehrlich kommuniziert werde, so Zolkina. Vielleicht wäre es an der Zeit, über die Verluste der Ukraine im Krieg zu sprechen, und zwar ab dem heutigen Tag. Vielleicht ist es für die politischen Instanzen des Landes nicht von Vorteil, die realen Verluste auszusprechen, aber vielleicht könnte es den Dialog mit der Gesellschaft auf eine Ebene bringen, in der Erwachsene mit Erwachsenen reden.

Eine Ansicht, die in der Ukraine jedoch praktisch niemand öffentlich vertritt. Die Todeszahlen könnten demotivieren und dem Gegner Russland nützen, so die gängige Meinung.

Karte: Die militärische Lage in der Ukraine

Selenskyj: "Russland hatte mehr Waffen"

Präsident Selenskyj sagte unterdessen auf der Münchener Sicherheitskonferenz, man werde Awdijiwka zurückerobern. Er betonte jedoch erneut, Russland habe einfach mehr Waffen und die Ukraine brauche unter anderem dringend Langstreckenwaffen, moderne Flugabwehr sowie mehr Artilleriemunition.

So kommentierte es auch der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umjerow. Er schrieb auf Facebook, die Lektion aus Awdijiwka sei, dass die Ukraine mehr moderne Flugabwehr benötige, damit der Gegner keine Gleitbomben mehr einsetzen könne. Unter anderem diese hatten der ukrainischen Armee enorme Probleme bereitet.

"Awdijiwka existiert nicht mehr"

Der Mangel an modernen Waffen ist den Menschen in der Ukraine mehr als schmerzlich bewusst. Viele hatten damit gerechnet, dass die russischen Invasoren auch Awdijiwka einnehmen könnten, dennoch löst der Rückzug von dort eine große Niedergeschlagenheit aus. Der Fall der ehemaligen Industriestadt an die russischen Invasoren ist aus Sicht Moskaus wichtig, denn damit wurde erstmals seit Mai 2023 wieder eine ukrainische Stadt eingenommen, die zudem weitaus besser befestigt war als Bachmut. Die Stadt im Gebiet Donezk wurde von Russland ebenfalls erst nach monatelangen Kämpfen besetzt - genauer, was davon noch übrig war. Auch die frühere Industriestadt Awdijiwka liegt nun in Schutt und Asche. Kurz vor der endgültigen Entscheidung zum Abzug evakuierte die ukrainische Armee noch die, wie es hieß, letzten verbliebenen Zivilisten aus den Ruinen von Awdijiwka.

Dieses Mal filmten Vertreter der ukrainischen Armee eine Ukrainerin, die beim Anblick der Zerstörung geradezu hysterisch wirkt. "Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Es ist der reinste Albtraum, warum werden wir so gestraft. "Der sie evakuierende Soldat am Steuer kann die weinende Frau kaum beruhigen. "Ja", sagt er äußerlich vergleichsweise gefasst. "Awdijiwka existiert nicht mehr."

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