Ein Rollstuhlfahrer legt Blumen nieder
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Trauer um Alexej Nawalny in Moskau

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"Reden mit dem Fernseher": So ängstigt Nawalnys Tod die Russen

Sogar Kreml-Propagandisten fürchten sich vor der bevorstehenden Beerdigung des bekanntesten Regime-Gegners. Oppositionelle sind tief frustriert und behaupten: "Russland kann sich nicht mehr aus eigener Kraft von Putins Wahnsinn befreien."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Hoffentlich organisiere der Kreml zeitgleich zu Alexej Nawalnys Bestattung eine Kundgebung "für die Tradition und gegen Homosexuelle", so der bekannte Kriegsblogger Roman Aljechin (112.000 Fans), damit das "Geschrei aus dem Ausland" um den verstorbenen Regime-Kritiker übertönt werde: "Ja, Opfer sind möglich, aber es handelt sich um Opfer für den Sieg Russlands im Krieg und ganz allgemein für sein Überleben." Zwar seien Demonstrationen im Gedenken an Nawalny denkbar, ein Aufstand aber nicht zu erwarten. Andere Putin-Bewunderer fürchten, dass die Leiche des im arktischen Straflager verstorbenen Oppositionellen als publizistischer "Rammbock gegen den Kreml" eingesetzt werden könnte, nämlich dann, wenn ausländische Gutachter einen "gewaltsamen Tod" feststellten.

"Anstelle von Lenin ins Mausoleum"

"Laut Gesetz darf die Leiche bis zur Feststellung der offiziellen Todesursachen bis zu 30 Tage lang nicht an Angehörige übergeben werden", argumentiert der Blogger und schreibt: "Nun ja, und in diesem Fall findet die Beerdigung in Russland genau zum Zeitpunkt der Präsidentschaftswahl statt – und die Grabstätte dient als Sammelpunkt und Anlass für die nächste Protestwelle. Ein schwieriger Fall für den Kreml." Der "Totentanz" werde somit noch eine ganze Weile anhalten, auch der tote Nawalny werde weiter gegen Putin kämpfen, heißt es ironisch: "Nun, wenn plötzlich eine 'Revolution' stattfindet, dann lassen Sie ihr freien Lauf, dann wird auch Nawalny einbalsamiert und anstelle von Lenin ins Mausoleum gebracht. Aber das ist natürlich unwahrscheinlich."

Gleichwohl zeigen die zahlreichen Festnahmen von Trauernden an spontan entstandenen Gedenkstätten für Nawalny, dass der Kreml sehr nervös ist. Putins Sprecher Dmitri Peskow antwortete auf die Frage, wie der Präsident persönlich auf den Tod seines Widersachers reagiert habe, dazu habe er nichts weiter zu sagen. Auch mit dem Verbleib der Leiche sei der Kreml nicht befasst. Und weil die offiziellen Untersuchungen zu den Todesursachen noch nicht abgeschlossen seien, sei es "absolut inakzeptabel", wenn ausländische Politiker "ehrlich gesagt unhöfliche Bemerkungen" machten. Demnach müht sich der Kreml, das Thema soweit wie möglich zu ignorieren - was ihm selbst bei Propagandisten nicht gelingt.

"Wir müssen die Wahrheit aussprechen"

Der viel gefragte Putin-Bewunderer und Medien-Kommentator Sergej Markow nannte es "seltsam", dass Nawalnys Leiche angeblich zunächst nicht auffindbar gewesen sein soll: "Haben unsere Behörden Mist gebaut?" Es sei "schrecklich", sich darüber Gedanken machen zu müssen, aber eine "unabhängige" Überprüfung der Todesumstände sei nur auf russischem Gebiet denkbar, um "unmoralische Manipulationen" im Ausland zu unterbinden: "Das sind die Realitäten der Welt, ganz entsetzlich. Wir müssen die Wahrheit aussprechen."

"Ja, Haftanstalten sind keine Erholungsorte"

Der hoch dekorierte Staatsanwalt Dmitri Krasow durfte in einer der größten russischen Zeitungen, "Moskowski Komsomolez", unwidersprochen behaupten, Nawalny sei in der Haft privilegiert gewesen. Tatsächlich hatte der Kreml-Gegner reihenweise Sonderstrafen wegen angeblicher Disziplinlosigkeiten erhalten und war ständig schikaniert worden. Krasow wörtlich: "Ja, Haftanstalten sind keine Erholungsorte; Menschen werden nicht zur Ruhe und Genesung dorthin geschickt. Aber vielleicht gab es besondere Wohltaten für unsere genannte Person? Sie werden es nicht glauben, aber ja, so war es!" Nawalny habe deutlich länger als üblich mit seinem Anwalt gesprochen und aus der Haft heraus seinen Blog weiterbetrieben: "Das können sich nur sehr, sehr reiche Leute leisten." Dazu passt die skurrile Bemerkung der TV-Propagandistin Margarita Simonjan, Russland brauche keine "menschliche", sondern eine "faire" Justiz.

"System muss mit jemandem sprechen"

Alexej Firsow vom russischen Zentrum für sozialen Dialog glaubt zwar wie viele andere auch, dass die russische Opposition durch Nawalnys Tod um ihren Hoffnungsträger gebracht wurde, doch auch für den Kreml werde es deutlich schwerer. Grund dafür: Putin benötige ein Gegenüber für seine politische Kommunikation, um rechtzeitig "Schwachstellen und Rostflecken" am System zu entdecken: "Der politische Diskurs, in dem es keine Spannungen zwischen zwei Extrempunkten gibt, läuft Gefahr, zu veröden. Das System muss mit jemandem sprechen, zumindest in Abwesenheit, zumindest mit einem Schatten. Wir brauchen ein Feindbild, den Vergleich. So spielte Nawalny einst eine große Rolle bei der Konsolidierung und Erprobung des [Putin-]Systems und gleichzeitig bei der Ausschaltung der wortmächtigsten Gegner. Aber wenn alle Darsteller verstummt sind – ob als ausländische Agenten gebrandmarkt oder auf dem Weg in eine andere Welt –, bleibt nur noch der Monolog, das Gespräch mit der Leere, oder besser gesagt mit dem Fernseher, in dem man sich selbst spiegelt."

Jetzt könne Putins Propaganda ihren Dreh- und Angelpunkt verlieren: "Wir brauchen jemanden, der die Rolle des 'Gegenübers' spielt, wenn auch weniger gefährlich und einflussreich. Das Problem mit Nawalny war, dass das 'Gegenüber' aus der Sicht des Systems zum 'Fremden' wurde, zu große Risiken bescherte und Stresstests immer kostspieliger wurden."

"Was auf der Flagge steht, ist zweitrangig"

Innenpolitisch werde Nawalnys Tod weitgehend folgenlos bleiben, prognostizieren die meisten systemtreuen Politikwissenschaftler, außen- und wirtschaftspolitisch freilich seien die Folgen nicht abschätzbar, da der Westen sicherlich reagieren werde: "Leider würde Alexej das kaum wollen, er hat oft erklärt, dass er nach dem Wohlstand seines Landes strebt."

Kommunikationsexperte Dmitri Elowsky verweist darauf, dass Nawalnys Platz als Rebell bereits vor längerer Zeit von dem ebenfalls zu Tode gekommenen Ex-Söldnerchef Jewgeni Prigoschin eingenommen worden sei, der sogar einen Aufstand gewagt habe. Jetzt sei dieser Posten quasi zur Ausschreibung frei: "Logischerweise sollte bald ein neuer Rebell auf der Bildfläche erscheinen. Es ist fast unmöglich vorherzusagen, wer es sein wird, welcher Ideologie er anhängen wird, welchen Prinzipien oder Werten er verpflichtet sein wird. Die Funktion des Rebellen besteht darin, zu versuchen, das System in die Knie zu zwingen. Was auf die Flagge geschrieben wird, ist zweitrangig. Die Unvermeidlichkeit des Erscheinens eines neuen Rebellen und die Unmöglichkeit, die Umstände seines Erscheinens vorherzusagen, stellen eine viel größere Bedrohung für das bestehende politisch-administrative System dar als der Tod von Nawalny und die Reaktion auf diesen Tod in der Gesellschaft und im Ausland."

"Rockband U2 ist nur der Anfang"

Es gebe in der russischen Oligarchie immer eine Gruppe, die grundsätzlich bereit sei, in einen neuen "Rebellen" zu investieren, aber derzeit seien die Umstände ungünstig. Die wichtigen Akteure seien "im Gleichgewicht" und warteten jetzt erst mal die personellen Veränderungen ab, die nach der Präsidentschaftswahl folgten.

Für den Durchschnittsrussen sei die Nachricht vom Tod Nawalnys "nicht von Bedeutung", behaupten kremlnahe Soziologen, denen trotzdem unbehaglich zumute zu sein scheint. Zwar habe nur die Hälfte der Befragten überhaupt von Nawalnys Tod gehört, aber etwa 70 bis 80 Prozent seien mit seinem Namen vertraut: "Nawalny wird im öffentlichen Bewusstsein als systemfeindliche Figur wahrgenommen, und diese Tätigkeit ist aus Sicht der überwältigenden Mehrheit der Bürger nicht nur gefährlich, sondern auch aussichtslos." Allerdings könne ein "kleiner Teil" von Nawalnys Anhängern "radikalisiert" werden: "Darüber hinaus wird der Westen riesige Geldsummen in die Kampagne zur Heiligsprechung von Nawalny pumpen. Die Unterstützung Nawalnys durch die berühmte irische Rockband U2, den russischen Musiker Juri Schewtschuk und andere ist nur der Anfang einer umfassenden Informations- und Psycho-Kampagne zu diesem Thema."

"Politisch vor zehn Jahren gestorben"

Den sprichwörtlichen "Schmetterlingseffekt" (kleine Ursache, große Wirkung) werde Nawalnys Ableben im Gefängnis nicht haben, sagte Polit-Blogger Konstantin Kalaschew voraus. Trotzdem könne der tote Oppositionelle langfristig gefährlicher werden als der lebende - als Vorbild einer "neuen Generation". Dmitri Orlow von der Agentur für politische und wirtschaftliche Kommunikation rechnet dagegen allenfalls damit, dass Putin aus symbolischen Gründen in einiger Zeit die Chefs des Strafvollzugs zur Verantwortung zieht. Anwalt Grigori Sarbajew zog das Fazit: "Politisch starb das 'Nawalny'-Projekt vor zehn Jahren, nachdem es von der Mehrheit der russischen Bevölkerung aufgrund seines Widerspruchs gegen den Krimfrühling [der Annexion der Halbinsel durch Russland] abgelehnt wurde."

Der kremlkritische Politikwissenschaftler Wladislaw Inosemtsew hält Nawalnys Tod für einen "katastrophalen Schlag" für die Anti-Putin-Kräfte: "Die jüngsten Ereignisse zeigen, dass unser Land sich aus eigener Kraft nicht vom Wahnsinn Putins befreien kann. Russland kam als Imperium zur Welt und wurde größer und nahm nie die Form eines Nationalstaates an. Im Laufe der Jahrhunderte wurde den Menschen ein Bewusstsein ihrer Besonderheit vermittelt – und wie die jüngste Vergangenheit zeigt, fallen diese Bemühungen auf fruchtbaren Boden." Weil sich fast alle Putin-Gegner inzwischen auf die Seite der Ukraine geschlagen hätten, seien sie für "normale Russen" allesamt "Verräter".

"Messianismus für beide Seiten schädlich"

Der ebenfalls kremlkritische Publizist Roman Dobrochotow, Chefredakteur des russischsprachigen Exil-Portals "The Insider", gibt sich ähnlich pessimistisch: "Ich sehe, dass es heute vielen so vorkommt, als sei das gespenstische Licht am Ende dieses verdammten Tunnels, das ohnehin kaum flackerte, endlich ganz erloschen. Und diese Stimmung ist verständlich: So soll es wirken, heute ist allen die Seele schwer, sie geben auf, sie haben für nichts mehr Kraft. Das war tatsächlich Putins Berechnung."

Originell die These von Blogger Andrej Schalimow, der den russischen "Messianismus" als Hauptursache für Nawalnys Tod ausgemacht hat: "Der Messianismus in der russischen Politik ist für beide Seiten schädlich. Weil er Opfer einfordert: persönliche, öffentliche, heilige, Massenopfer. Leider sind beide Pole der russischen Politik vom Messianismus infiziert; beide legten für ihre Ideen zu viel auf den Altar. Der verstorbene Held brachte sich selbst zum Schlachtopfer dar. Wir werden eines Tages erfahren, welchen persönlichen Preis sein Gegenüber [Putin] für sein Messias-Amt berappt." Um nicht von der vom Kreml beförderten bleiernen Hoffnungslosigkeit angesteckt zu werden, müssten Russen sich inzwischen wie Harry Potter mit "besonderer Magie" selbst motivieren: "Bleiben Sie nicht allein, es ist besser, das gemeinsam auszuhalten."

Witwe als "antipolitische Kandidatin"?

Ob Nawalnys Witwe Julia in der Lage ist, die Leerstelle an der Spitze der Opposition zu füllen, ist umstritten. Der prominente Blogger Abbas Galljamow, früher selbst Kreml-Funktionär, hält die mangelnde politische Erfahrung für nicht entscheidend. Er verweist vielmehr auf Corazon Aquino (1933 - 2009), die Witwe des philippinischen Oppositionsführers: "Sie engagierte sich nie in der Politik und vermied im Allgemeinen die Öffentlichkeit. Als ihr Mann in ihrer Jugend kandidierte, ging sie nicht einmal mit ihm auf die Bühne, sondern wartete hinter den Kulissen. Nachdem ihr Mann getötet worden war, war Corazon auch nicht erpicht darauf, bei den Wahlen gegen Marcos anzutreten." Als "antipolitische" Kandidatin habe sie dann triumphiert: "Wir müssen bedenken, dass eine Anti-System-Stimmung Nachfrage nach genau solchen 'antipolitischen' Kandidaten schafft. Je weniger sie traditionellen Politikern ähneln, desto besser."

Aus dem Exil habe Julia Nawalny keine Chance, zur "offenen Konfrontation" mit Putin überzugehen, so weitere Blogger. In Russland selbst werde sie jedoch umgehend zur Staatsfeindin erklärt und daher kaum in der Lage sein, "eine Wählerschaft um sich zu scharen". Der oben erwähnte Sergej Markow erwartet, dass der Westen aus der Witwe eine "Johanna von Orleans" machen wolle, sie werde aber wohl nur eine zweite Swetlana Tichanowskaja werden. Die belarussische Bürgerrechtlerin und Präsidentschaftskandidatin 2020 lebt nach der von Amtsinhaber Lukaschenko mutmaßlich massiv gefälschten Wahl im Exil. Und auch ein südamerikanisches Fallbeispiel nannte Markow. Womöglich werde Julia Nawalny so gehypt und erfolglos sein wie einst Juan Guaidó: "Oder wie hieß dieser Venezolaner?"

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