Nato Generalsekretär Jens Stoltenberg trifft in Kiew am 20.04.2023 auf Wolodymyr Selenskyj.
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Nato Generalsekretär Jens Stoltenberg trifft in Kiew am 20.04.2023 auf Wolodymyr Selenskyj.

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Ukraine-Krieg: "Sicherheit gibt es nur noch in der Nato"

Nach jahrelanger Zurückhaltung häufen sich die Stimmen für einen Nato-Beitritt der Ukraine. Sorgt eine Ukraine in der Nato für Stabilität in Europa oder droht eine Eskalationsspirale? Ein Gespräch mit der Russlandexpertin Sarah Pagung.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Vor dem Nato-Gipfel in Litauen im Juli wird erneut diskutiert, ob die Zukunft der Ukraine in der Nato liegen kann oder sogar muss – und welche Folgen ein Beitritt mit sich bringen könnte.

Im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten), erklärt Sarah Pagung, Russland- und Sicherheitsexpertin von der Körber-Stiftung, welche geopolitischen Auswirkungen ein Nato-Beitritt der Ukraine für die Stabilität Europas mit sich bringen könnte.

BR24: Frau Pagung, muss die Ukraine in die Nato?

Sarah Pagung: Aus meiner Sicht muss die Ukraine in die Nato, weil die Alternativen dazu noch deutlich schlechter sind. Sie müssen ja die Sicherheit der Ukraine garantieren. Das ist aus meiner Sicht einfach konventionell nicht möglich. Wir wollen eine nukleare Rüstung der Ukraine verhindern. Und dann bleibt eben nur der Nato-Beitritt.

BR24: Russland hat der Nato-Osterweiterung hinsichtlich der mittelosteuropäischen Staaten Ende der 90er Jahre mit der Nato-Russland-Grundakte zugestimmt. Warum hat Russland dann ein Veto gegen den Beitritt der Ukraine eingelegt?

Pagung: Weil sie ein russisches Verständnis von einem russisch-geführten Imperium haben, zu dem Belarus und die Ukraine ganz fundamental dazugehören. Und deswegen ist auf russischer Seite die Möglichkeit, diesen Beitritt der Ukraine zu akzeptieren, nicht vorhanden. Das hat aber weniger mit berechtigten Sicherheitsinteressen zu tun, denn Russland kann auch sehr gut mit einer unabhängigen Ukraine oder einer Ukraine in der Nato existieren, sondern vielmehr mit dem eigenen Selbstverständnis von Russland als Imperium.

"Das imperiale Verständnis macht den Unterschied"

BR24: Wäre es auch denkbar gewesen, dass Russland gegen den neuen Nato-Staat Finnland, das ebenfalls eine Grenze mit Russland teilt, vorgegangen wäre – oder kapriziert sich diese Ablehnung der Nato-Mitgliedschaft besonders auf die Ukraine?

Pagung: Es ist schon ein sehr starker Fokus auf die Ukraine. Wir haben so eine russische Reaktion jetzt ja nicht gesehen beim finnischen Beitritt zu Nato, aber auch nicht beim Beitritt der baltischen Länder. Und darin sehen wir eben noch einmal, dass die Ukraine für Russland eine andere Rolle spielt. Grund ist dieses imperiale Verständnis und das macht den Unterschied zwischen diesen Ländern auf. Und das ist eben etwas, was man im Grunde genommen nicht akzeptieren kann, weil es am Ende heißt, die Souveränität der Ukraine nicht zu akzeptieren.

BR24: Der Nato-Vertrag beinhaltet im Artikel 5 die sogenannte Beistandsklausel. Sie verpflichtet das Bündnis zum Eingreifen, wenn ein Nato-Land angegriffen wird. Spielen wir das Szenario einmal durch. Wenn die Ukraine nach dem Krieg der Nato beiträte, was wäre denn, wenn es im Grenzgebiet zwischen Russland und der Ukraine zu Auseinandersetzungen käme? Wäre die Nato dann direkt in den Krieg involviert?

Pagung: Zum einen kommt es drauf an – wenn die Ukraine der Nato beitreten sollte – mit welchem Gebiet die Ukraine beitritt und auf welches Gebiet sich dann auch Artikel 5 ausdehnt. Außerdem gibt es keinen Automatismus für den Artikel 5, also für die Beistandsverpflichtung, sondern es wird eine Beratung der Nato-Länder angerufen. Dort wird dann beschlossen, ob etwas gemacht wird und wenn ja, was. Das heißt, man kann beispielsweise auf solche Sachen durchaus flexibel reagieren.

Wir sollten natürlich aber ehrlich mit uns sein: Wenn wir die Ukraine in die Nato aufnehmen, heißt es, dass dann auch für die Ukraine am Ende Artikel 5 gilt.

Audio: Sarah Pagung, Expertin für Internationale Politik von der Körber-Stiftung, im Interview mit BR24

Sarah Pagung, Körber-Stiftung
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Sarah Pagung, Körber-Stiftung

BR24: Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger hat in einem Interview jüngst die Einschätzung getroffen, dass Russland zwar viele ukrainische Gebiete wieder verlieren, jedoch die Krim um Sewastopol behalten würde. Für die Sicherheit Europas müsste laut Kissinger die Ukraine ohne die Krim in die Nato aufgenommen werden. Teilen Sie diese Einschätzung?

Pagung: Ich bin sehr ehrlich gesagt, sehr vorsichtig dabei so etwas vorzuschlagen, weil natürlich die Entscheidung, in welcher Form die Ukraine der Nato beitritt oder auch in welcher territorialen Form die Ukraine aus diesem Krieg herauskommt, etwas ist, was in Kiew entschieden werden muss. Ob es am Ende wirklich gangbar ist, so eine Lösung anzustreben, kommt sehr darauf an, in welchem Zustand Russland am Ende dieses Krieges ist.

Ich glaube allerdings, dass es ganz fundamental wichtig ist, dass Russland diesen Krieg verliert. Und zwar so, dass das für jeden innerhalb Russlands, aber auch jeden außerhalb Russlands klar ist. Und ob diese dieser vorgeschlagene "Handel" den Kissinger dort macht, dafür wirklich geeignet ist, da habe ich ehrlich gesagt meine Zweifel.

"Wir müssen mit einem langen Krieg rechnen"

BR24: Eine eindeutige Niederlage Russlands schließt aber wahrscheinlich ein, dass wir uns noch auf einige Jahre aktiven Krieg einstellen müssen, oder?

Pagung: Ich glaube, davon müssen wir ohnehin ausgehen. Russland stellt sich ganz klar mit seiner Rüstungsproduktion, mit seiner Industriepolitik, auch mit seiner Sozialpolitik auf einen sehr langen Krieg ein. Ich glaube, damit müssen wir rechnen, auch, weil wir durchaus aus der Forschung wissen, dass Kriege, die nicht in den ersten Monaten entschieden werden, dazu tendieren, sehr, sehr lange zu dauern. Also simpel formuliert: Mittellange Kriege gibt es nicht so viele.

BR24: Wäre es denkbar, dass die Ukraine sich auf einen solchen Kompromiss einlassen könnte: auf die Krim verzichten, für den Nato-Beitritt und somit den Nato-Schutz? Schließlich hat Selenskyj erst kürzlich wieder bekräftigt, dass die Befreiung der Krim "alternativlos" sei.

Pagung: Ob die Ukraine von diesen Maximalzielen ablässt, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Wie ist die Lage militärisch in der Ukraine? Also, wie gut steht die ukrainische Armee da? Wie gut oder schlecht steht die russische Armee da? Und entsprechend: Wie groß ist der Leidensdruck in der Ukraine? Die zweite Frage, die dahinter steht, ist auch eine militärische: Die Krim ist strategisch sehr wichtig, um vor allen Dingen militärischen Druck auf den Rest der Ukraine auszuüben. Das heißt, solange die Krim russisch ist, ist es für die Ukraine sehr schwer, militärische Sicherheit herzustellen.

Wenn wir Interesse haben an einer stabilen, sich demokratisch entwickelnden Ukraine, dann ist ganz zentral, dass die Ukraine von innen heraus stabil ist und wir keine Polarisierung, keine Konflikte um Territorialfragen haben. Das heißt, ich würde sagen, die Ukraine muss in den Grenzen bestehen, die die innere Stabilität und damit auch eine demokratische Entwicklung der Ukraine ermöglicht. Und das lässt natürlich – und das ist mir ganz klar - Interpretationsraum offen, weil es natürlich sehr darauf ankommt, wie es die Interpretation und Moskau wie ist sie vor allen Dingen aber auch in der Ukraine.

Im Video: Possoch klärt - Beendet die Nato den Krieg?

Aufrüstung ohne Nato-Beitritt?

BR24: Henry Kissinger sieht ein Risiko darin, die Ukraine zur Verteidigung so stark zu bewaffnen, sie aber nicht in die Nato aufzunehmen. Denn dann könne die Ukraine mit einem der stärksten Militärs in Europa auch souveräne Entscheidungen treffen, irgendwann verlorenen Boden zurückgewinnen zu wollen. Wie groß schätzen Sie dieses Risiko ein?

Pagung: Diese Betrachtung der Ukraine als militärisch so stark, ist natürlich wahr und auch nicht wahr. Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten hängt die Latte für die Ukraine natürlich relativ niedrig. Zum anderen ist es natürlich so, dass unabhängig davon, wie viel wir der Ukraine liefern und wieviel sie am Ende an Material hat – und das ist natürlich immens – dass sie das am Ende an der Front braucht und wir dann natürlich auch einen enormen Abrieb des Materials haben. Also ob das so stark ist? Ich bin mir ehrlich gesagt da nicht ganz so sicher.

Die andere Frage ist aber natürlich, und ich glaube, das ist ja auch die die Sorge, die unter anderem Olaf Scholz umtreibt, aber immer auch wieder Biden: gibt es eben dieses Risiko eines ukrainischen Angriffes auf russisches Kernland, was natürlich noch mal das Risiko einer größeren Eskalation mit sich bringen dürfte? Das ist etwas, was man der Ukraine von westlicher Seite aus sehr klarmachen muss: Dass die westliche Unterstützung für die Ukraine davon abhängen, dass das nicht – oder zumindest nicht im größeren Maße – gemacht wird. Und ich glaube, dass der Westen durch die Abhängigkeit der Ukraine von dessen Unterstützung, dafür auch einen sehr guten Hebel hat.

BR24: In diesem Gedankenspiel geht Kissinger von einer Stabilität aus, die daraus resultiert, dass beide Kriegsparteien unzufrieden sind und Zugeständnisse machen musste. Ist das die aktuell einzige Form von Stabilität, die es geben kann?

Pagung: Die Logik, die Kissinger dahinter hat, ist natürlich zunächst einmal einleuchtend, weil sie am Ende auf einen Ausgleich zwischen zwei Ländern hinausläuft und das natürlich eine Form einer klassischen Verhandlungslösung ist und ein sehr transaktionales Verständnis beinhaltet. Warum ich genau das sehr kritisch sehe, ist eben diese Form des Aushandelns: Weil es davon ausgeht, dass es zwei Seiten gibt, die zwei entgegengesetzte Interessen haben, bei denen es aber eine Möglichkeit für einen Ausgleich gibt.

Und genau das sehe ich aktuell im Russland-Ukraine-Krieg eben nicht. Also hätten sie eine russische Interessenlage, die vor allen Dingen von politischen, wirtschaftlichen, vielleicht auch zum Teil kulturellen Interessen motiviert wäre, dann wäre das vielleicht möglich. Aber eben aufgrund dieses imperialen Interesses ist genau dieser Ausgleich nicht möglich. Denn es geht Moskau am Ende nicht darum, bestimmte Quadratkilometer in der Ukraine zu verteidigen, sondern es geht Moskau um die Ukraine als Nation und als Land. Und da ist natürlich ein Ausgleich deutlich schwerer.

Wir hatten ja genau diesen Versuch mit Minsk eins und zwei, und er ist ja krachend gescheitert. Und mir geht nicht so richtig auf, warum wir etwas, was ja so deutlich gescheitert ist und am Ende in diesem absolut brutalen Krieg endete, warum wir genau das gleiche Rezept nochmal nehmen sollten.

"Keine Sicherheit ohne Nato"

BR24: Hätten Sie ein anderes Rezept?

Pagung: Für mich geht es am Ende darum, dass Russland diesen Krieg verlieren muss. Und zwar so, dass klar ist, dass sie es nicht nochmal probieren können und dass wir der Ukraine Sicherheitsgarantien geben, die einen erneuten Angriff verhindern. Weil ich nicht sehe, dass ein Ausgleich mit diesen imperialen russischen Interessen möglich ist.

BR24: Welche Folgen hätte es für die Sicherheit und Stabilität Europas, wenn die Ukraine nicht der Nato beitreten würde?

Pagung: Das grundsätzliche Problem für Staaten in Europa ist aktuell, das mit dem erneuten Angriff Russlands auf die Ukraine die Sicherheitsarchitektur zerfallen ist. Das heißt, eine Form von kollektiver, kooperativer Sicherheit gibt es nicht mehr, außer sie sind in der Nato, oder sie gehen wie Belarus ein enges Bündnis mit Russland ein. Sprich: Sie haben für alle anderen Länder ein Sicherheitsdefizit. Und das ist natürlich für diese Länder hochproblematisch, und das kann man im Grunde genommen mit drei Wegen bekämpfen: ein Nato-Beitritt, oder ein sehr enges Bündnis mit Russland, dann eine nukleare Aufrüstung, weil das ja als ultimative Sicherheitsgarantie gilt, und das andere, was diskutiert wird, ist eine sehr starke konventionelle Aufrüstung. Die Frage ist aber, ob letztere am Ende ausreicht – vor allen Dingen gegenüber einer Nuklearmacht wie Russland.

Das bringt natürlich diese Länder in ein enormes Dilemma. Das betrifft am Ende nicht nur die Ukraine, sondern auch die anderen Länder in Osteuropa oder beispielsweise auch im Kaukasus. Die Frage ist: Welchen Ausweg eröffnen wir diesen Ländern aus diesem Sicherheitsdefizit? Und inwiefern können wir das beeinflussen? Was ist für uns die präferierte, konsequente Lösung? Nukleare Bewaffnung ist nicht in unserem Sinne, konventionell reicht möglicherweise nicht, und daher bleibt nur der Nato-Beitritt.

Kritische Übergangsphase

BR24: Wie würde Wladimir Putin auf einen solchen Nato-Beitritt reagieren? Droht dann eine Eskalationsspirale oder gibt es die Chance auf eine Stabilisierung?

Pagung: Es gibt berechtigte Argumente auf beiden Seiten, das muss man ganz klar sagen. Das ist am Ende eine Abschätzung. Ich glaube nicht, dass Putin die Nato angreifen würde, auch mit Ukraine-Territorium. Viel wichtiger ist viel mehr die Phase, in der es auf den Beitritt hinausläuft, ich glaube, das ist die Phase, die am Ende die entscheidende wird: Was macht Russland militärisch und der Ukraine habe beispielsweise auch durch hybride Kriegsführung im Rest der Nato, um genau diese Aufnahme zu verhindern?

Sollte es so weit kommen, dass es wirklich zu einer realistischen Option wird, dass die Ukraine der Nato beitritt, müssen wir uns, glaube ich, sehr stark überlegen, was wir in dieser Übergangsphase machen, um die Ukraine abzusichern und gleichzeitig hier den Konsens für den Beitritt abzusichern.

BR24: Vielen Dank für das Gespräch.

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