DONETSK, UKRAINE - APRIL 18: Ukrainian soldiers fire targets on the front line in the direction of the city of Ugledar, Donetsk, Ukraine as Russia-Ukraine war continues on April 18, 2023.
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“Ukrainische Gegenoffensive dauert den ganzen Sommer”

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Experte: "Ukrainische Gegenoffensive dauert den ganzen Sommer"

Fast alle rechnen damit, dass sie kommt. Aber wann und wo die Ukraine die Offensive zur Befreiung ihres Landes startet, wissen wir nicht. Was alles von dem Gegenschlag abhängt – der Militärexperte Gustav Gressel im BR24-Interview.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Wann kommt die ukrainische Gegenoffensive? Während Kiew die Erwartungen an weitreichende Rückeroberungen dämpft, wappnet sich die russische Armee.

Im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video unten), erklärt Gustav Gressel, Militärexperte vom European Council on Foreign Relations, worauf es auf beiden Seiten ankommt.

BR24: Herr Gressel, wann beginnt die ukrainische Offensive?

Gustav Gressel: Wir müssen damit rechnen, dass jetzt relativ viele Meldungen kommen: Jetzt geht's los! Und es geht dann doch nicht los, weil eben ein Teil der ukrainischen Angriffsvorbereitung das Abtasten und das Austesten der russischen Reaktionsmöglichkeiten ist. Wahrscheinlich beginnt die Offensive irgendwann im Mai. Das hängt vom Wetter ab und das hängt vor allen Dingen auch von dem Training der ukrainischen Kräfte ab, die ja für die Offensive zurückbehalten werden.

BR24: Und wie lange könnte die Offensive andauern?

Gressel: Ich denke, der ganze Sommer wird jetzt von den Ukrainern genützt, Offensiven vorzutragen, soweit sie es mit dem Material können. Einfach aus dem Grund, weil sich die russische Armee jetzt in den im Frühjahr, beziehungsweise im Winter laufenden Angriffen ziemlich erschöpft hat und weil man nicht die Größen an Freiwilligen rekrutiert, die man in Moskau eigentlich gerne sehen und haben würde. Das heißt, wir haben langsam wieder einen Engpass an Kräften. Und der gibt der Ukraine gewisse Handlungsfreiheit. Wenn Russland eine weitere Mobilisierung anordnet, dann kann es das natürlich. Dann braucht es aber auch wieder Monate, bis diese Kräfte trainiert sind, um an die Front zu kommen.

Im Audio: Gustav Gressel zur ukrainischen Gegenoffensive

Gustav Gressel, Militärexperte vom European Council on Foreign Relations
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Gustav Gressel

BR24: Sie haben das Material angesprochen. Die Ukraine ist ja vom Westen aufgerüstet worden – reicht das aus?

Gressel: Das Problem der Ukraine ist, dass sie zwar jetzt das Gerät für eine große Offensive hat. Viel von dem Gerät wird sich aber abnützen. Gerade Kampfpanzer, Schützenpanzer, die sind ja einer viel höheren Abnutzung unterworfen als etwa Artilleriesysteme oder Fliegerabwehrraketensysteme, weil die ja direkt an der Front stehen, weil die direkt in den Kontakt mit dem Feind kommen und nicht hinten irgendwo stehen und sozusagen nach vorne schießen. In dem Sinn ist mit hohen Ausfällen auch zu rechnen und es wird Zeit brauchen, bis die Ukraine dann wieder in der Lage sein wird, eine nächste Offensive zu starten. Das ist so ein bisschen das Problem, das ich bei der gegenwärtigen Aufstellung sehe.

Schnellere Truppenverlegung "Grundvorteil der Ukraine"

BR24: Und wo sehen Sie die Vorteile der Ukraine?

Gressel: Einer der Grundvorteile der Ukraine ist: Sie operiert an der sogenannten inneren Linie. Wenn man sich die Karte anschaut, sieht man, dass die Russen für jede Verlegung von Kräften vom Südteil der Front an einen Nordteil der Front einen enormen Umweg fahren müssen. Zum Teil über die Krim, über die Krim-Brücke, dann in den Raum Rostow und dann über Woronesch hinauf an die Nordgrenze. Die Ukrainer können einfach quer durch ihr eigenes Land fahren. Das heißt, für sie ist es einfacher, von Nord nach Süd, von Ost nach West Kräfte zu verlegen, während die Russen immer außen rum müssen.

Und damit spielt man ja auch bei dieser Offensive. Man täuscht an verschiedenen Abschnitten vor, angreifen zu wollen, damit dann die Russen den weiten Umweg ins falsche Gebiet machen. Und dann ist sozusagen die lange Nase, wenn man im anderen Gebiet angreift, die russischen Reserven am falschen Ort stehen und dann mit der langen Verlegungszeit wieder um die sozusagen halbe Welt, außen um die Ukraine herum müssen. Man hat also nicht mehr die Zeit, zeitgemäß auf diesen Durchbruch, den die Ukrainer dann hoffentlich erzielt haben, zu reagieren.

"Russische Streitkräfte erschöpft"

BR24: Werfen wir einen Blick auf die andere Seite, auf die russische Armee. Je länger der Beginn der Offensive auf sich warten lässt, desto mehr Zeit haben die Russen, sich zu wappnen…

Gressel: Was die russischen Vorbereitungen in der Tiefe angeht, gibt es bauliche Maßnahmen: Also Sperren, Minenfelder, Panzergräben, Panzer-Hindernisse. Das Problem ist aber: Ähnlich wie letzten Herbst sind die russischen Kräfte, die diese Sperren auch besetzen und dort dann die ukrainischen Minenräum-Bemühungen vernichten müssen, mittlerweile wieder mal überdehnt. Die sind wieder mal durch lange Angriffstätigkeiten erschöpft und ausgedehnt. Und das gibt den Ukrainern natürlich schon auch die Möglichkeit, diese Kräfte anzugreifen und auf einen guten Moment, auf einen schwachen Punkt in der russischen Front zu setzen, dort durchzubrechen und schon größeres Unheil in den russischen Linien anzustellen.

Im Video: Possoch klärt - Die ukrainische Gegenoffensive

BR24: Wie viel hängt jetzt tatsächlich für die Ukraine von der angekündigten Gegenoffensive ab?

Gressel: Für die Ukraine schon viel. Erstens will man ja Gebiete befreien, zumindest einen Prozentsatz der besetzten Gebiete reduzieren. Und es ist auch ein wichtiger Moral-Faktor. Nachdem man jetzt den ganzen Winter von Russland bedrängt worden ist, will man natürlich sowohl der eigenen Bevölkerung als auch dem Westen zeigen, dass man in der Lage ist, wieder Gebiete zurückzuholen, die Initiative zu ergreifen, die Russen rauszudrängen. Das ist für die eigene Moral wichtig, das ist aber auch für die Unterstützung international wichtig, weil natürlich die Geberländer sich auch fragen: Wohin führt der Krieg? Was sind die ukrainischen Chancen, mehr zu erreichen als nur ein Unentschieden? Darauf soll dann diese Gegenoffensive eine Antwort bieten.

BR24: Das klingt aber auch nach einem hohen Erfolgsdruck für die Ukraine?

Gressel: Das Problem ist hier, dass die Erwartungshaltung in den letzten Monaten da ziemlich hinaufgeschraubt wurde. Jeder erwartet im Grunde ein Durchbrechen der Ukraine bis zum Asowschen Meer und ein Zweischneiden an der russischen Front im Süden. Das ist die allgemeine Erwartungshaltung. Das ist aber gar nicht so leicht zu erringen. Da reden wir von einem Angriff, der über hundert Kilometer in die Tiefe des Gegners muss. Da brauche ich eben sehr viele Kräfte, weil ich auch zwei Flanken decken muss, da ich nach Osten und nach Westen verwundbar gegen Gegenangriffe bin. Und desto länger diese Speerspitze in den russischen Raum hineingeht, desto mehr Kräfte verschlingt es auch, um die Flanken zu decken.

Ukraine mit "guten Chancen auf größere Geländegewinne"

BR24: Wie stehen denn die Chancen für die Ukraine, alle Gebiete wieder zurückzuerobern?

Gressel: Dass man in einem Aufwaschen die Grenzen von 1991 erreicht, ist relativ unwahrscheinlich. Die Krim ist erstens mal irrsinnig schwer zu erobern. Vor allen Dingen, da die Ukraine ja keine Marine hat, mit der sie landen kann. Das Zweite ist natürlich auch: Der Donbass ist zum Teil ein verteidigungsgünstiges Gelände. Deshalb tun sich die Russen so schwer, da anzugreifen. Aber das würde für die Ukraine natürlich auch gelten. Im Süden stehen die Chancen theoretisch besser. Da gibt es aber einige tiefe Verteidigungsstellungen, wo es ein bisschen Glückssache auch ist, wie gut die Ukrainer durchkommen, wie schnell sie russische Kräfte überwinden. Ich würde sagen, die Ukrainer haben gute Chancen, größere Geländegewinne zu machen. Aber in einem Aufwaschen werden sie es natürlich nicht machen.

Kriegsende dieses Jahr unwahrscheinlich

BR24: Was wäre denn für die Ukraine der bestmögliche Ausgang?

Gressel: Das Beste wäre natürlich, wenn die Offensive so erfolgreich wäre, dass Russland wirklich so unter Druck gerät, dass es sich aus dem Krieg zurückziehen muss oder will. Oder dass Putin anfängt, darüber nachzudenken, ob er nicht doch verhandeln will.

Das Problem ist ja auch zurzeit, - obwohl im Westen jeder schreit, es müsse doch verhandelt werden - dass Russland überhaupt nicht verhandeln will und das auch öffentlich so kundtut, dass man das eben nicht will. Ich würde aber da den Optimismus schon auch ein bisschen dämpfen. Putin hat enorm viel in diesen Krieg investiert. Für ihn ist ein schlechter Krieg zur Kontrolle der eigenen Gesellschaft immer noch nützlich. Und ich weiß nicht, ob die Ukraine zu so einem großen Schlag aussetzen kann, dass dieses Selbstverständnis im Kreml so bis ins Mark erschüttert ist, dass man nicht mehr glaubt, diesen Krieg, wenn man ihn drei, vier Jahre führt, trotzdem noch gewinnen zu können.

BR24: Danke für das Gespräch.

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