Flaggen vor dem Nato-Hauptquartier in Brüssel
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Flaggen vor dem Nato-Hauptquartier in Brüssel

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Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Wie hat er den Westen verändert?

Einst für "hirntot" erklärt, hat die Nato durch den russischen Angriff auf die Ukraine eine Wiederbelebung erfahren. Doch auch wenn die Gemeinsamkeiten im Bündnis betont werden: Verändert hat sich einiges - und Probleme gibt es nach wie vor.

Über dieses Thema berichtet: Dossier Politik am .

"Was wir gerade erleben, ist für mich der Hirntod der Nato." Diese Aussage traf niemand Geringes als Frankreich Staatspräsident Emmanuel Macron im November 2019 in einem Interview mit dem "Economist". Das Militärbündnis schien nicht nur in Macrons Augen in einer Sinnkrise zu stecken.

30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges gab es nicht den großen Feind, gegen den man sich militärisch wappnen müsste. Die Zielvorgabe der Nato-Mitglieder, jeweils zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung zu stecken, erreichten nur wenige. Und der damalige US-Präsident Donald Trump stellte die transatlantische Zusammenarbeit grundsätzlich infrage und bezeichnete die vermeintlichen europäischen Partner als "Feind".

  • Zum Artikel: US-Präsident Biden warnt Putin vor Angriff auf Nato

Der Krieg und die "Zeitenwende"

Keine zweieinhalb Jahre später ist die Welt eine andere. Und die Rolle der Nato und des sogenannten Westens auch. Am 24. Februar vergangenen Jahres begann Russlands brutaler Krieg in der Ukraine. Kanzler Olaf Scholz (SPD) nannte diesen Angriff eine "Zeitenwende": "Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor", sagte Scholz kurz nach Kriegsbeginn im Bundestag. Und das gilt auch für die Nato.

Das war im vergangenen Jahr schon wenige Tage vor dem russischen Angriff auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu spüren. Zwar hatten manche zu diesem Zeitpunkt die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung mit Russlands Präsident Wladimir Putin noch nicht aufgegeben. Aber der Wert der Nato und die Bedeutung des transatlantischen Bündnisses stellten die Redner in den Mittelpunkt.

"Unsere Soldaten werden jeden Zentimeter des Nato-Territoriums verteidigen", sagt die US-Vizepräsidentin Kamala Harris damals. Der damalige britische Premier Boris Johnson tönte: "Wenn Putin glaubt, die Nato zurückdrängen oder einschüchtern zu können, wird er feststellen, dass das Gegenteil der Fall ist." Ähnlich äußerte sich Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg: "Wenn es Ziel des Kreml ist, weniger Nato an den Grenzen zu haben, bekommen sie mehr Nato. Wenn sie die Nato spalten wollen, bekommen sie eine umso stärkere Nato.“ Auf der diesjährigen Sicherheitskonferenz wiederholten sich diese Äußerungen. Für Harris ist die Nato nun sogar "stärker denn je".

Nato "geschlossen wie sehr lange nicht"

"Das Bündnis ist so geschlossen und so geeint wie sehr lange nicht", erklärt der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck im Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk. "Und das war auch dringend notwendig", so Mangott in der BR-Sendung "Dossier Politik". Für den Politikwissenschaftler ist der ursprüngliche Daseinszweck wieder in den Mittelpunkt gerückt: "die Verteidigung des Bündnisses und die Abschreckung eines Gegners."

Allerdings hätten sich die Kräfteverhältnisse verschoben. "Es ist es eine militärische und eine politische Gewichtsverschiebung nach Osten", sagt Mangott. Das Argument Polens und der baltischen Staaten laut Mangott: Sie hätten recht gehabt, als sie vor Russland gewarnt haben.

Neue Kräfteverhältnisse im Bündnis

Diese Länder sähen sich auch weniger durch das Bündnis als Ganzes, sondern mehr durch die USA geschützt – "eine Art bilaterale Sicherheitsgarantie". Sie hätten Zweifel, "ob bestimmte Nato-Staaten in einem Ernstfall tatsächlich bereit wären, ihnen militärisch zu Hilfe zu kommen."

Zwar hat kein führender Politiker aus dem Nato-Raum den Artikel 5, also die Beistandspflicht, infrage gestellt. In der Bevölkerung scheint die Stimmung aber eine andere zu sein: Eine Erhebung für den Sicherheitsreport des Centrums für Strategie und Höhere Führung hat vor kurzem zwar eine hohe Akzeptanz der Deutschen für die Nato ergeben, aber zugleich eine geringe Bereitschaft, zu den Bündnisverpflichtungen zu stehen. Demnach befürworten nur 45 Prozent die deutsche Unterstützung im Falle des Angriffs auf einen anderen Nato-Staat.

Welches Kriegsziel wird verfolgt?

Differenzen im Bündnis werden auch bei den Zielen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg deutlich. Während Kanzler Scholz stets betont, dass Russland den Krieg "nicht gewinnen" dürfe, sind Länder wie Polen, die baltischen Staaten, aber auch Großbritannien oder Rumänien offensiver in der Rhetorik.

Sie unterstützen das Maximal-Ziel des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj: also die Verdrängung aller russischen Streitkräfte vom ukrainischen Territorium, inklusive der Krim. In anderen Staaten hat man laut Mangott dagegen Angst vor einer weiteren Eskalation, wenn man dieses Ziel ebenfalls kommunizieren würde.

Diese unterschiedlichen Blickwinkel zeigen sich auch bei der militärischen Unterstützung der Ukraine. Polen befürwortete schon früh, das angegriffene Land mit Leopard-2-Kampfpanzern zu beliefern. Auch in der Kampfjet-Frage zeigt sich Warschau deutlich offener. In Berlin und Washington tritt man in dieser Debatte dagegen auf die Bremse. Die Angst, in den Krieg hineingezogen so werden, ist laut Politikwissenschaftler Mangott in vielen Hauptstädten groß.

Experte: Großer Nachholbedarf bei der Bundeswehr

Ob das Bündnis für so eine Auseinandersetzung militärisch überhaupt vorbereitet wäre, ist eine ganz andere Frage. Gerhard Mangott von der Uni Innsbruck hält die Ausstattung mancher Armeen im Nato-Raum für "schon beeindruckend - in einem negativen Sinne". Es gebe großen Nachholbedarf in Sachen Ausrüstung, Forschung, Entwicklung und qualifiziertem Personal. Mangotts ernüchterndes Fazit: Die Nato sei "nicht fähig, wie sie das gerne wäre". Zehn bis 15 Jahre werde es dauern, bis die Bundeswehr, aber auch andere Nato-Armeen "eine Leistungskraft haben, die den Erfordernissen der Sicherheitslage auf diesem Kontinent entspricht".

Zugleich wächst die Nato in die Breite: Die Bedrohung durch Russland hat die jahrzehntelang neutralen Länder Schweden und Finnland dazu gebracht, Mitglieder werden zu wollen – gegenwärtig blockiert die Türkei aber noch den Beitritt Schwedens. Hier stehen weitere Verhandlungen an, mittlerweile scheint auch nur ein Beitritt Finnlands im Bereich des Möglichen. Doch Nato-Generalsekretär Stoltenberg erhöhte zuletzt den Druck auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und hofft weiter auf einen baldigen Beitritt der zwei Staaten.

Neue Mitglieder und neuer Sinn

Sollte die Nato um beide Länder erweitert werden, wäre das laut Mangott "sehr wertvoll" für das Bündnis – es bedeute "sehr gut ausgebildete, gut ausgerüstete Streitkräfte und das in einer strategisch bedeutsamen Region". Dadurch würde auch die Verteidigung des Baltikums bei einem russischen Angriff leichter werden.

Die Nato wächst, sie hat durch einen alten Gegner einen neuen Sinn gefunden. Allerdings haben sich die Kräfte innerhalb des Bündnisses verschoben – und es hat laut Experten noch einen langen Weg vor sich, um den neuen Bedingungen militärisch gerecht zu werden. Aber vom Hirntod ist die Nato nach Russlands Angriffskrieg weit entfernt – und das dürfte auf absehbare Zeit mit Putin im Kreml so bleiben.

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