Ein Mann mit dunklen Haaren und Bart, es ist der ukrainische Präsident Selenskyj, hinter ihm die Flagge der Ukraine und das Emblem der Nato.
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Für die Ukraine ist der Weg klar: in die Nato. Bietet die Mitgliedschaft im Verteidigungsbündnis Sicherheit oder Eskalation?

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Muss die Ukraine in die Nato?

Beim Nato-Gipfel in Vilnius wird die Frage diskutiert: Muss die Ukraine aufgenommen werden und, wenn ja, wann? Ist der Weg der Ukraine in die Nato sogar unausweichlich für Frieden und Sicherheit oder führt er zu weiterer Eskalation? Possoch klärt!

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Noch vor gut einem Jahr war die Stimmung eindeutig: die Ukraine in der Nato würde den Konflikt mit Russland eskalieren. Tenor: Nur eine neutrale Ukraine könne zu einem friedlichen Europa, einem friedlichen Russland beitragen. Inzwischen gibt es mehr und mehr stimmen, die sagen: Die Ukraine muss in die Nato. So sehen es zum Beispiel der ehemalige Nato-Chef Anders Fogh Rasmussen, CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen, Leigh Turner, ehemaliger britischer Botschafter in Moskau und Kiew und mutmaßlich der prominenteste unter ihnen: der frühere US-Außenminister Henry Kissinger.

Für Thomas Jäger, Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität Köln, ist die Sache klar: "Ja, die Ukraine muss in die Nato aufgenommen werden, wenn ihre Sicherheit garantiert werden soll, denn niemand in Europa ist sonst in der Lage, Russland abzuschrecken." Das sagt Jäger im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten).

"Russland keine Großmacht mehr"

Die veränderte Bewertung der Frage, eskaliert eine Nato-Aufnahme der Ukraine die Lage, hängt für Jäger mit der veränderten Bewertung der Stärke Russlands zusammen. Russland sei eben keine europäische Großmacht mehr und habe sich als schwächer erwiesen, als es von vielen gedacht.

Russland hat im Verlauf des Kriegs, aber auch schon davor, immer wieder selbst der Nato eine Eskalation des Konflikts und direkte Beteiligung am Krieg vorgeworfen, unter anderem durch Waffen- und Panzerlieferungen an die Ukraine. Für Jäger keine stichhaltige Argumentation: "Die Unterstützung der Ukraine durch Nato-Staaten und auch durch viele andere Staaten, auch Staaten aus dem Pazifik, ist völkerrechtskonform und macht diese Staaten alle nicht zur Kriegspartei."

Im Video: Muss die Ukraine in die Nato? Possoch klärt!

Der Weg der Ukraine in die Nato

Die Ukraine hat schon 2008 zeitgleich mit Georgien die grundsätzliche Nato-Beitrittsperspektive erhalten und sie bekommt seit 2021 schon im Rahmen des "Individual Partnership Action Plan" Unterstützung von der Nato. Im September 2022 hat Selenskyj den Nato-Beitritt beantragt.

Eine schnelle Aufnahme in die Nato steht jedoch noch lange nicht an, ordnet Markus Kaim, Nato-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik ein: "Die Nato befürchtet, in diesen Krieg hineingezogen zu werden und diese direkte Konfrontation der Nato mit russischen Streitkräften will man vermeiden."

Es gibt eine Vereinbarung von 1995: Wer in die Nato will, darf keine Territorialstreitigkeiten mit Nachbarstaaten haben. Darauf berufen sich jetzt wieder viele. Aktuell begrüßen die wenigsten Nato-Länder eine baldige Mitgliedschaft der Ukraine.

Und selbst wenn es keine Kriegshandlungen mehr in der Ukraine gibt, würde die Aufnahme in die Nato noch dauern. Die anderen Nato-Staaten müssen zustimmen und wie bei der türkischen Blockade bei der Aufnahme Schwedens zu sehen war: Das kann sich aus den verschiedensten Gründen hinziehen.

Ukraine in der Nato: Ein automatischer Bündnisfall?

Die Nato ist ein Defensivbündnis, also ein Staatenbündnis, das gemeinsam verteidigt. Eines der obersten Prinzipien: Wenn ein Nato-Mitgliedstaat angegriffen wird, sind alle Nato-Staaten involviert und leisten militärische Hilfe, so geregelt in Artikel 4 und 5 des Nato-Vertrags, die sogenannte Beistandsklausel. Zum ersten und bisher einzigen Mal hat George W. Bush diese in Anspruch genommen – nach den Anschlägen auf das World Trade Center in den USA am 11. September 2001.

Sollte nun die Ukraine Teil der Nato werden, die Nato-Grenze zu Russland also noch länger werden, steigt damit nicht auch die Wahrscheinlichkeit, dass in Zukunft die Nato in einen Krieg mit Russland involviert wird? Für Thomas Jäger von der Universität Köln ist die Antwort klar: "Nein, die Nato wäre nicht automatisch mit im Krieg und zwar deshalb, weil es die russische Gewalt nicht gäbe, wenn die Nato die Abschreckung organisiert."

Das Argument: Wenn die Abschreckung funktioniert und auch schon für die Ukraine gegolten hätte, also die Ukraine schon früher Nato-Mitglied geworden wäre, "hätte sich Russland 20 Mal überlegt, diesen Krieg zu beginnen, und es hätte ihn nicht begonnen." Sarah Pagung, Russland- und Sicherheitsexpertin der Körber-Stiftung teilt diese Einschätzung: "Ich glaube nicht, dass Putin die Nato angreifen würde, auch mit Ukraine-Territorium."

Grafik: Grenzen der Nato zu Russland sollte die Ukraine beitreten

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Sollte die Ukraine der Nato beitreten, würde sich die Grenze Russlands zu Nato-Staaten nochmals deutlich verlängern.

Ukraine in der Nato: Sicherheitsgarantie für Russland?

Es ist paradox: Putin hat nicht mit der Entschlossenheit des Westens gerechnet, und so hat er mit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine genau das geschafft, was er eigentlich nicht wollte. Für Politikprofessor Jäger könnte die Ukraine in der Nato eine Doppelfunktion erfüllen.

Die Ukraine wäre durch die anderen Nato-Staaten innerhalb dieses Verteidigungsbündnisses geschützt, gleichzeitig könnte dieselbe Nato-Mitgliedschaft der Ukraine für Russland eine größere Sicherheit mit sich bringen:

"Eine in die Nato integrierte Ukraine ist eine Ukraine, die keinen militärischen Angriff gegen wen auch immer führen wird, weil Nato-Staaten eben ein reines Verteidigungsbündnis bilden." Die Ukraine würde in der Nato also nicht von sich aus zu einem Vergeltungsschlag gegen Russland ausholen.

Nato-Experte Kaim analysiert ähnlich: "Die Nato bändigt ja auch ihre Mitglieder, was also nicht passiert, ist ein unkontrollierter Rüstungswettlauf, der einen destabilisierenden Effekt hat."

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