Beschädigtes Wahlplakat der bayerischen Grünen
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Überschmiertes Wahlplakat der Grünen (aufgenommen am 11. Juli 2023)

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Politische Polarisierung: Wer lehnt wen am stärksten ab?

Eine Studie hat untersucht, wie stark Europas Gesellschaften politisch gespalten sind. Ergebnis: Vor allem Anhänger zweier Parteien begegnen sich mit Abneigung. Es gibt ein großes Reizthema, eine deutsche Besonderheit - und auch positive Resultate.

Von der Klimapolitik über die Zuwanderung bis hin zur Geschlechtergerechtigkeit und Russlands Krieg in der Ukraine: Eine Studie der TU Dresden hat Menschen in Deutschland und neun anderen EU-Ländern nicht nur zu ihrer politischen Haltung bei bestimmten Themen befragt - sondern vor allem auch dazu, wie sie Menschen bewerten, die andere Einstellungen haben. Es ist eine Art "Gefühlsthermometer": Die Forscherinnen und Forscher fragen, ob die Teilnehmer Menschen aus einem anderen politischen Spektrum "kühl und negativ" oder "wohlgesonnen und positiv bewerten"?

Die Studie heißt "Polarisierung in Deutschland und Europa" (hier nachzulesen) und sie versucht, eine Antwort darauf zu geben, ob es eine gesellschaftliche Spaltung gibt. Sie stammt von dem an der TU Dresden angesiedelten Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM).

Deutschland: Rechte lehnen andere Haltungen stärker ab als Linke

Was fast alle untersuchten EU-Länder gemeinsam haben: Befragte, die sich dem linken Spektrum zuordnen, bewerten Menschen mit anderen Haltungen stärker ablehnend als Menschen, die sich dem rechten Spektrum zuordnen.

Außer in Deutschland.

Hierzulande weisen Rechte knapp eine höhere "affektive Polarisierung" als Linke auf. Das heißt, sie empfinden laut eigener Angabe stärker negative Gefühle gegenüber Menschen mit anderen Ansichten. Dies lässt sich auch an der Parteipräferenz im EU-Vergleich ablesen: AfD-Wähler in Deutschland weisen eine größere Ablehnung gegenüber anderen Haltungen auf als Anhänger rechter und rechtsextremer Parteien in beispielsweise Italien, Ungarn oder Polen.

Doch woran liegt das?

Die Ursachen gehen nicht unmittelbar aus der quantitativen Studie hervor, da die Befragten ausschließlich aufgerufen waren, ihre Ablehnung oder Aufgeschlossenheit auf einer Skala einzuordnen – ohne eine Angabe von Gründen, wie es bei einer qualitativen Studie erfolgen könnte.

AfD: Ausschluss, Gruppenbildung und "Märtyrertum"

Für den Studienleiter, Politikwissenschaftler und Professor Hans Vorländer kommen unterschiedliche Gründe in Betracht, warum ausgerechnet AfD-Wählerinnen und -Wähler stärker polarisiert sind. Möglicherweise läge es daran, "dass die AfD noch sehr viel jünger ist als andere rechte Parteien in Europa, ob in Italien, Schweden, den Niederlanden oder Frankreich". Die stärkere Abgrenzung kann laut Vorländer die Funktion haben, ein Identitätsgefühl zu schaffen.

"Das sind Prozesse von Ingroup- und Outgroup-Bildung – also dem Betonen einer Eigen- und Fremdgruppe. Besonders polarisiert sind AfD-Wähler und -Wählerinnen bei den Themen Zuwanderung, Krieg in der Ukraine und Maßnahmen gegen Pandemien wie Covid-19."

Während es rechten bis rechtsextremen Parteien in anderen europäischen Ländern bereits gelungen ist, in Regierungsverantwortung zu kommen, könne das "Außenseiterdasein und bei manchen Wählern sogar das Gefühl, Märtyrer zu sein, zu einer besonders starken Identifikation und zu einer noch viel stärkeren Ablehnung von andersdenkenden Gruppierungen" führen.

Polarisierung und "die Brandmauer"

In anderen Ländern habe es teilweise eine "Normalisierung des Prozesses des Umgangs" mit rechtspopulistischen Parteien gegeben, so MIDEM-Direktor Vorländer von der TU Dresden, während sich in Deutschland fast alle Parteien von der AfD abgrenzen – siehe die intensiv geführte Brandmauer-Debatte.

Professor Michael Minkenberg, der an der Europa-Universität Viadrina zu rechten und rechtsextremen Parteien in Europa forscht, gibt jedoch zu Bedenken: Selbst wenn eine Polarisierung innerhalb der Wählerschaft abnehme, müsse man sich fragen, was die Gewinne und Verluste einer solchen Strategie seien: "Der Verlust ist vielleicht, dass das System insgesamt ein Stück weit nach rechts rückt, weil dann in der Regierungsarbeit Kompromisse geschlossen werden."

Mit Blick auf Erfahrungen in Italien, Österreich oder Norwegen fasst Minkenberg zusammen: "Die Hoffnung, dass man durch eine Einbindung dieser Parteien in Regierungsverantwortung sie so entzaubert, dass es einen Wählerschwund gibt – diese Hoffnung bestätigt sich in der Regel nicht."

Grüne Wähler lehnen andere Meinungen nach AfD am stärksten ab

Wählerinnen und Wähler der Grünen sind unter den Befragten der Polarisierungsstudie an der TU Dresden in Deutschland diejenigen, die nach der AfD-Wählerschaft andere Meinungen am stärksten mit negativen Gefühlen beschreiben. Dieser Effekt ist demnach besonders in den Bereichen Umgang mit Pandemien, Umgang mit sexuellen Minderheiten und Gleichstellung von Frauen zu beobachten. Europaweit sind Anhängerinnen und Anhänger grüner Parteien diejenigen, die am stärksten andere Haltungen zum Umgang mit dem Klimawandel ablehnen.

Studienleiter Hans Vorländer liest die verstärkte Ablehnung anderer Haltungen in der Grünen-Wählerschaft in Deutschland als "sehr starke Überzeugungen, einen sehr starken Gestaltungswillen und als ein szientokratisches Politikverständnis – also die Überzeugung, dass das, was die Wissenschaft sagt, unmittelbar in Politik umgesetzt werden muss".

Jochen Roose ist Wahl- und Sozialforscher bei der Konrad-Adenauer-Stiftung und hat in der Vergangenheit ebenfalls die Spaltung in der Gesellschaft untersucht. Roose ergänzt: Die Grünen-Wählerschaft bilde ihre stärkere Ablehnung gegenüber anderen Haltungen aus einer "Krisenwahrnehmung" sowie der Überzeugung von zentralen Werten, die nicht verhandelbar seien.

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Wahlkampfplakat der AfD

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Wahlkampfplakat der Grünen

Klimakrise mit "Spaltungspotenzial"?

Ein weiteres Ergebnis der neuen TU-Dresden-Studie: Die von den Befragten vermutete Spaltung im Bereich Klimawandel ist gering, die tatsächliche Polarisierung aber hoch – die Frage nach dem Umgang mit dem Klimawandel löst also stark negative Gefühle in zwei Meinungslagern aus.

Dass Anhänger grüner Parteien eine starke Haltung dazu haben, dürfte wenig überraschen – Klimapolitik wird laut dem Rechtsextremismus-Forscher Michael Minkenberg aber auch europaweit von rechten bis rechtsextremen Parteien aufgegriffen. Einerseits hätten rechte Parteien gemeinsam, den menschengemachten Klimawandel anzuzweifeln. Andererseits sieht er unter dem Stichwort "Heimat erhalten" auch "eine Gemeinsamkeit in der Instrumentalisierung des Umweltthemas für nationalistische Zwecke".

Gefahren gesellschaftlicher Polarisierung

Was passiert, wenn die affektive Polarisierung steigt, sich also Menschen mit sehr ablehnenden Emotionen gegenüberstehen? Studienautor Hans Vorländer sieht die Gefahr darin, dass "demokratische Prozesse schwierig werden, wenn die Streitkultur immer nur aus Empörung, Aufwallungen und Erzeugung von Stimmungen besteht". Denn das verhindere die Lösung konkreter Probleme.

Sozialforscher Jochen Roose von der Konrad-Adenauer-Stiftung sagt in diesem Kontext: "Es ist ja völlig normal in der Demokratie, in einer pluralen Gesellschaft, dass wir unterschiedliche Meinungen haben." Vielmehr stelle sich die Frage, was daraus folge. Hochproblematisch werde es erst dann, wenn Kontaktabbrüche folgen und eine "grundlegende Ablehnung der Legitimität anderer Meinungen".

Roose weist jedoch auch darauf hin, dass "Demokraten mit sehr guten Gründen Undemokratisches ablehnen". Auch in der sogenannten Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu demokratiegefährdenden Einstellungen (mehr dazu hier) heißt es: "Mit Sorge blicken wir auf Menschenfeindlichkeiten und eine vergiftete Debatte, die unter dem Deckmantel der freien Meinungsäußerung auf eine Stufe gehoben wird mit demokratischer politischer Kultur."

Wie polarisiert ist Deutschland?

Ein zentrales Ergebnis der neuen Polarisierungsstudie von der TU Dresden lautet jedoch auch: Im europäischen Vergleich sind die Menschen und Meinungslager in Deutschland nicht herausragend stark polarisiert, politisch gespalten, sondern liegen im Mittelfeld. Studienautor Hans Vorländer bezeichnet das insofern als überraschend, als dass "wir einen ganz anderen Diskurs in Politik und Medien führen und dort dauernd von Spaltung und Polarisierung sprechen".

Besonders gespalten sind seiner Forschung zufolge Italien und Griechenland, am wenigsten Tschechien und die Niederlande.

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