Flüchtlingsboot im Mittelmeer
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Migrationsexperte Knaus: Debatte "aus dem Ruder gelaufen"

Elon Musk sorgt mit einer Attacke auf Seenotretter für Aufsehen. Migrationsforscher Gerald Knaus findet in Musks Tweet rechtsextreme Denkmuster: Die Debatte sei "aus dem Ruder gelaufen" – und die Retter so nötig wie eine politische Lösung möglich.

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Braucht die deutsche Öffentlichkeit Belehrungen zu Flüchtlingen von einem US-Milliardär? Elon Musk scheint davon überzeugt. Der Tesla-Gründer mischte sich auf der von ihm aufgekauften Plattform X – vormals Twitter – in die zuletzt zunehmend hitzige deutsch-italienische Migrationsdebatte ein. Er teilte den Beitrag eines X-Nutzers, der feststellt, dass derzeit acht deutsche Schiffe von Nichtregierungsorganisationen Geflüchtete aus dem Mittelmeer fischen – für Musk "eine gefühlte Invasion", ja sogar "europäischer Selbstmord".

"Ist sich die deutsche Öffentlichkeit dessen bewusst?", fragte Musk im begleitenden Post. Was das Auswärtige Amt prompt mit der Aussage quittierte: "Ja. Und man nennt es Leben retten." Kurz vor den Landtagswahlen in Bayern und Hessen besonders brisant: Der von Musk geteilte Tweet enthält auch eine Wahlempfehlung für die AfD.

"Europas Selbstmord": Musks Flirt mit den Verschwörungstheoretikern

Bei BR24 bemüht sich der Migrationsforscher Gerald Knaus, die Debatte zu versachlichen. Für Knaus knüpft Musk in seiner Rhetorik an die in rechtsextremen und identitären Kreisen verbreitete "Verschwörungstheorie des "großen Austauschs" an (in den USA als "White Replacement" bekannt). Ihre Propagandisten sehen finstere Mächte am Werk (wahlweise George Soros, Bill Gates oder Politiker von Obama über Merkel bis Baerbock), die eine Invasion illegaler Einwanderer organisieren oder finanzieren, um die einheimische Bevölkerung "auszutauschen".

Aus Flüchtenden werden bei Musk Eroberer

Die Seenotretter gelten den rechten Propagandisten als Helfershelfer der Eliten, die Flüchtenden als Invasoren. "Es geht nicht mehr um Asylsuchende oder Migranten, sondern um Eroberer", so Knaus. Der Wissenschaftler kennt solche Szenarien seit langem – von Rechtsradikalen, von Putin und Orban.

"Das ist an sich nichts neu dran. Nur dass es ein Mann mit der Reichweite von Elon Musk verbreitet, ist beunruhigend." Migrationsforscher Gerald Knaus

Vergrößern Retter die Zahl der Flüchtenden?

Ausdrücklich wendet sich Knaus gegen die Vorstellung, die Seenotretter würden immer mehr Menschen dazu animieren, sich in die Boote Richtung Europa zu setzen. Die derzeitige Debatte über Pull- und Push-Effekte durch NGOs sei "aus dem Ruder gelaufen" und "nur noch ideologisch": Zum einen landeten die allermeisten der Flüchtenden ohnehin in Italien oder auf Lampedusa an und bräuchten keine Retter. Zum anderen sei es nach wie vor eine moralische Pflicht, Menschen in Seenot das Leben zu retten.

Die Debatte über Flucht und Asyl werde weitestgehend faktenfrei geführt, heißt es auch in einem am Samstag veröffentlichten Aufruf von rund 270 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Asylrecht und der Flucht- und Migrationsforschung. Dadurch würden Ängste geschürt und gesellschaftliche Probleme Schutzsuchenden angelastet. Zudem würden kurzerhand rechtsstaatliche und menschenrechtliche Minimalstandards für populistische Überschriften geopfert.

Wissenschaftler fordern "Menschenrechtspakts in der Flüchtlingspolitik"

"Wir wenden uns daher mit entschiedenem Nachdruck gegen den Versuch, im Schnellverfahren und in einem 'Deutschlandpakt' die Entrechtung von Menschen auf der Flucht weiter voranzutreiben." Stattdessen bedürfe es eines bundesdeutschen "Menschenrechtspakts in der Flüchtlingspolitik", heißt es in dem Aufruf. Ein solcher Menschenrechtspakt ermögliche es, jenseits populistischer Parolen eine menschenrechtskonforme Ausrichtung in den Mittelpunkt zu stellen. In dem Pakt sollten politische Strategien zum Umgang mit Schutzsuchenden festgehalten und die Zusammenarbeit von Bund, Ländern, Kommunen und Gesellschaft konkretisiert werden.

So gebe es entgegen der öffentlich geführten Debatte in Deutschland Kommunen, die Menschen aufnehmen wollen und Platz für Schutzsuchende haben, heißt es in dem Aufruf. Diese Angebote müsse die bundesdeutsche Politik wahrnehmen. Zudem sei eine nachhaltige Planung für die Aufnahme der Menschen in den Wohnungs- und Arbeitsmarkt umzusetzen. "Um gesellschaftlichen Spannungen entgegenzuwirken, sollte die Gesellschaft involviert und müssen Debatten sachorientiert, empiriebasiert und konstruktiv geführt werden.

Knaus’ Konzept: Zuwanderungssteuerung mithilfe von Drittstaaten

Freilich gibt Knaus auch zu bedenken: Je mehr Menschen nach Italien kämen und in Europa bleiben könnten, desto mehr versuchten es, und umso mehr riskierten, im Mittelmeer zu ertrinken. Eine Lösung gebe es nur über die Politik.

Deutschland müsse einen Vorschlag für eine humane Kontrolle der Migration machen, erklärte Knaus. "Möglich wäre etwa, an einem Stichtag Menschen, die keinen Schutz brauchen oder auch Menschen, die einen Asylantrag stellen, in ein sicheres Drittland zu bringen, wo Asylverfahren etwa durch den UNHCR stattfinden könnten." Das, meint Knaus, würde zu weniger Toten führen und wäre zugleich im Interesse Italiens. "Aber dann bräuchten wir trotzdem noch mehr Seenotretter, um sicherzustellen, dass wir in Kürze null Tote im Mittelmeer haben."

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