Fremde Heimat – Vom Kibbuz nach Coburg
Bildrechte: BR / Sorin Dragoi

Georg Levy steht vor dem Bezirksklinikum Kutzenberg

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Fremde Heimat – vom Kibbuz nach Coburg

Edith verbrachte ihre Kindheit in Coburg. Sie kehrte nie an den Ort zurück, aus dem sie vor den Nazis fliehen musste. Ihre Kinder traten im Mai 2023 diese besondere Reise an. Nicht ahnend, welche Gräuel kurz darauf in ihrer Heimat passieren sollten.

Über dieses Thema berichtet: BR Story am .

Über die Zeit, bis sie zwölf Jahre alt war, sprach Edith wenig. Sie lebte damals in Coburg, einem schmucken Städtchen mit der größten Burganlage Deutschlands und einigen großen Namen in der Stadtgeschichte. Doch der oberfränkische Ort hat auch eine dunkle Geschichte: Coburg war die erste deutsche Stadt, die Adolf Hitler zum Ehrenbürger machte und bereits im Jahr 1929 von der NSDAP regiert wurde. Vor 80 Jahren veränderte sich hier das Leben der kleinen Edith brutal – und innerhalb weniger Wochen war für die jüdische Familie die Flucht nach Lateinamerika der einzige Ausweg, um zu überleben.

Wie hat Edith als Kind gelebt, was sie geprägt? Und was war genau passiert, dass die Familie von einem Tag auf den anderen flüchtete? Gesprochen wurde in Ediths Familie darüber nie offen. Doch nun, im Frühjahr dieses Jahres, beschließen Ediths drei Kinder Andrea, Mario und George Levy, Antworten zu suchen – direkt vor Ort in Oberfranken. Vier Tage begeben sie sich auf Spurensuche nach der Kindheit ihrer jüdischen Mutter - zusammen mit weiteren Familienmitgliedern, auch, um ihre eigene Geschichte verstehen zu können.

Ein Leben im Kibbuz – den Konflikt vor der Haustür

George Levy wurde zwar in Argentinien geboren. Als junger Mann zog es ihn aber nach Israel. Sein Ziel: ein demokratisches Land mitaufzubauen. Seither lebt er im Kibbuz Shamir, von dessen Konzept er überzeugt ist: eine Siedlung mit basisdemokratischer Struktur, in der alle gemeinsam leben, wirtschaften, entscheiden. Shamir liegt nahe der Grenze zu Syrien und dem Libanon. Hier hat er bereits einige Kriege und Konflikte miterlebt. Trotzdem bleibt das Fleckchen Erde seine Heimat, in der er seine Frau kennengelernt, eine Familie gegründet hat. Weggehen will er nicht – kein Krieg, keine Wirtschaftskrise würde ihn dazu bewegen, sagt er – nichts ahnend, dass diese Option für ihn bald wieder relevant werden sollte. "Die Heimat verlässt Du nicht. Ich glaube, auch meine Mutter hätte ihr Leben nach diesem Motto gelebt, wenn sie und ihre Eltern nicht aus Deutschland verjagt worden wären. Das war nicht ihre freie Entscheidung, sie hatten keine Wahl."

Sorge um die Heimat

Besorgt ist George um seine Heimat trotzdem, wenn auch aus einem zu diesem Zeitpunkt noch ganz anderen Grund: Er sieht, wie viele andere auch, eine große Gefahr von innen für die Demokratie Israels – durch die rechts-religiöse und in Teilen rechtsextreme Regierungskoalition Israels und deren umstrittene Justizreform. Diese Regierung wolle mit neuen Gesetzen die Justiz einschränken und die eigene Macht ausbauen. "Sie versuchen, uns das Land wegzunehmen und sie wollen unsere Art zu leben ändern - unser Motto: Leben und Leben lassen. Ich bin nicht gegen irgendjemanden, lebe Du Dein Leben, wie Du es willst - aber versuche nicht, meins zu ändern", sagt er. Deshalb nimmt George noch bis kurz vor dem 7. Oktober an den Demonstrationen gegen die Reform teil. Denn gerade die eigene Familiengeschichte zeige ihm, wie wichtig es sei, nicht aufzugeben, sondern für Freiheit und Demokratie einzustehen.

Die Kindheit der Mutter – ein blinder Fleck im Leben der Geschwister

Es ist noch nicht lange her, dass George begonnen hat, sich mit seiner eigenen Geschichte zu beschäftigen. Denn da gibt es diesen blinden Fleck in seinem Leben: die Kindheit seiner Mutter Edith Wertheimer, einer deutschen Jüdin. Viel mehr als eine Liste von Vorfahren und ein paar Fotos aus ihrer Kindheit gibt es nicht. Die Familie gehörte damals wie jede andere zur Gesellschaft der Stadt dazu. Bis zu dem Tag eben, an dem seine Großeltern mit seiner Mutter Edith Hals über Kopf die Stadt verlassen mussten.

Mario, Georges großer Bruder, lebt ebenfalls in Israel: 150 Kilometer entfernt von George an der Küste. Hier hat er an einer Schule für Segel und Meereskunde Generationen von Kindern unterrichtet. Mittlerweile ist er Rentner. Von der Geschichte der Mutter weiß auch Mario nur wenig. "Es ist, als ob unsere Geschichte in Argentinien beginnt. Über die Zeit davor: kein Wort. Das ist nicht nur bei uns so, bei vielen Familien wurde nicht erzählt und nicht gefragt. Vielleicht wäre das meine Aufgabe gewesen, zu fragen", sagt er.

Die kleine Schwester Andrea ist die Einzige der Geschwister, die in Argentinien geblieben ist. Auch sie will bei der Spurensuche mit dabei sein. Sie hat am längsten mit der Mutter zusammengelebt und spricht sogar noch ein wenig Deutsch. Doch auch sie kennt Coburg nur aus wenigen Erzählungen – und möchte die Heimatstadt der Mutter kennenlernen.

Eine Reise in unbekannte Emotionen

Als sich die drei Geschwister im August 2023 am Münchner Flughafen treffen, hatten sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Auch Marios Tochter Dana ist mitgekommen. In der zweieinhalbstündigen Fahrt in den Norden Bayerns gibt es viel Zeit nachzudenken – wie es den Levys wohl mit der alten Heimat der Mutter gehen wird. "Ich habe keine Ahnung, was wir sehen, keine Ahnung, was ich fühlen werde. Das ist etwas Zusätzliches auf dieser Reise - wir erkunden Unvorhersehbares", sagt George.

Mehr als 60 ähnliche Schicksale in Coburg

41.000 Einwohner hat Coburg heute. Viel mehr wissen die Levys noch nicht über die Heimatstadt ihrer Mutter. Noch ist alles fremd. Doch sie werden erwartet: Gaby Schuller wird sie bei ihrem Besuch begleiten. Sie war es, die auf die Familiengeschichte der Levys gestoßen ist und sie nach Coburg eingeladen hat. Gaby Schuller erforscht gemeinsam mit anderen die Geschichte jüdischer Familien in Coburg und hält Kontakt zu Hinterbliebenen weltweit. Das Schicksal von Edith Wertheimer und ihrer Familie ist nur eines von mehr als 60 jüdischen Familien, deren Leben sich in kurzer Zeit dramatisch änderte. Schicksale, die aus Sicht von Gaby Schuller in Coburg noch immer zu wenig aufgearbeitet sind.

"Es gibt Bereiche in der Coburger Geschichte, die sehr gerne benutzt werden, um sie in den Vordergrund zu stellen: Queen Victoria, Prinz Albert keine Frage. Aber es gibt daneben halt auch die dunkle Periode, die auch zur Geschichte gehört und die auch nicht vergessen werden darf", sagt Schuller. Sie denkt, dass gerade diese dunkle Periode "häufig in den Hintergrund gedrängt wird. Und das tut mir sehr leid, weil das auch ein wichtiger Bestandteil ist."

Bislang kannten sich die Levys und die Coburgerin nur über das Internet. Jetzt tauchen sie gemeinsam in die düstere Vergangenheit der Familiengeschichte ein – vier Tage lang betreiben sie gemeinsam Spurensuche.

Coburg – Vorzeigestadt der Nazis

Auf den ersten Blick bietet Coburg keine Indizien zur Nazizeit. Sie besuchen das Kindheitshaus der Mutter, können aber die alte Wohnung nicht betreten. Konkreter wird es dann im Staatsarchiv: Hier hat kürzlich eine Ausstellung eröffnet, die zeigt, wie die Nationalsozialisten in Coburg versuchten, den öffentlichen Raum zu kontrollieren und dabei Coburger Juden zunehmend verfolgten und bedrohten. Diese Verbrechen wurden mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in ganz Deutschland Alltag, doch in Coburg ging das schon elf Jahre vorher los – mit dem sogenannten dritten deutschen Tag, wie Stadtheimatpfleger Christian Boseckert erzählt. An diesem Tag kam Hitler erstmals nach Coburg, mit 500 SA-Leuten – und gewann die Macht auf den Straßen, durch Gewalt.

Für die Nationalsozialisten ist Coburg ihre Vorzeigestadt. Hier wird die NSDAP erstmals in Deutschland zur stärksten Partei im Stadtrat gewählt, als erste Stadt hisst Coburg die Hakenkreuzfahne am Rathaus – schon zwei Jahre bevor Hitler an die Macht kommt. 17-mal besucht der Diktator die Kleinstadt. Regelmäßig gibt es Aufmärsche.

Urgroßmutter aus Heilanstalt deportiert

Edith ist damals in der Grundschule. Die Paraden haben ihr Angst gemacht, das hat sie Tochter Andrea anvertraut. Doch das war erst der Anfang für das Leid der Familie. Ein absoluter Tiefpunkt war das Schicksal der geliebten Großmutter Meta Frankenberg: Sie wird 1931 in die Heil- und Pflegeanstalt Kutzenberg eingewiesen - Diagnose: Schizophrenie, Depression, Melancholie. Eigentlich ist die Anstalt ein guter Ort für Menschen mit psychischen Problemen: Die ursprüngliche Idee der Klinik, die 1905 erbaut wurde, war es, diese Menschen inmitten von viel Natur individuell bestmöglich zu versorgen. Mit der Machtübernahme Hitlers ändert sich der Umgang mit psychisch Kranken oder geistig behinderten Menschen. Mehr als 400 Patientinnen und Patienten aus Kutzenberg werden von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet. Ediths Familie versuchte noch zu intervenieren, doch es war zu spät. Die Großmutter sehen sie nie wieder, sie wird nach Österreich deportiert. Das Datum, an dem Meta Frankenberg in der Gaskammer umgebracht wird, ist unbekannt. Auch diese schicksalshafte Klinik besuchen die Geschwister Levy – er ist nur 30 Kilometer entfernt von Coburg. Die ganzen Umstände erfahren sie erstmals auf ihrer Reise, als sie Einsicht in die originale Krankenakte bekommen. Einer der traurigsten Momente auf dieser Reise. Doch es gibt auch beglückende Begegnungen.

Besuch in der letzten Wohnung

Denn schließlich kommen sie der Geschichte der Mutter doch noch einmal sehr nahe: Ediths Kinder dürfen die letzte Wohnung in Coburg betreten, aus der ihre Mutter schließlich fliehen muss, um zu überleben. Ein sehr emotionaler Moment. George fasst es in Worte: "Das hier sind die Treppen, ganz sicher, und die Tür. Hierdurch ging unsere Mutter, als sie endgültig floh. Das bewegt mich." Vor dem Haus erinnern Stolpersteine an diese Tragödie. Andrea kennt noch eine Geschichte zur Wohnung: "Meine Mutter hat mal erzählt, dass Soldaten kamen, um nach ihrem Vater zu suchen. Er war nicht hier, er war auf der Arbeit. Aber sie hatte solche Angst, sie hat sich in einem Schrank versteckt."

Für die jetzigen Bewohner der Wohnung – ein Schauspieler mit Frau und drei Töchtern – ist der Besuch der Familie ebenfalls bewegend. "Es ist so lange her, die Dinge, die passiert sind. Wir fühlen uns nicht mehr konkret schuldig. Aber trotzdem hat man dieses ungute Gefühl. Das geht einem schon nah. Möchte man gerne irgendwie wiedergutmachen, was wir nicht können. Aber wenigstens so einen kleinen Teil dazu beitragen", sagt die heutige Bewohnerin. Was auch gelingt: Für die Familie Levy ist die Bereitschaft der Familie, für sie die Türe zu öffnen, mehr als wertvoll: "Wir sind wirklich glücklich und dankbar, dass Ihr hier lebt, Leute, wie ihr hier, das macht uns glücklich", sagt George. Und Dana: "Ich fühle mich jetzt vollständig. Also ich fühle mich hier nicht zuhause oder so, das nicht. Aber es ist jetzt greifbar geworden. Alles, was ihr so wichtig war: All das Schöne, das wir hier sehen, die Bäume, das viele Grün. Ich denke, das alles kommt von hier, das sind ihre Wurzeln."

Fehlende Aufarbeitung

Eine solche Offenheit, wie sie bei den Bewohnern der ehemaligen Wohnung Ediths erleben durften, vermisst George jedoch bei der Stadt Coburg. Die Ausstellung etwa war nur temporär und ist bereits wieder abgebaut. Der Stadtheimatpfleger Christian Boseckert räumt die Versäumnisse ein: "Das Coburg der Nachkriegszeit hat davon nichts wissen wollen. Erst nachdem die Tätergeneration jetzt auch ausstirbt und nachfolgende Generationen jetzt auch politische Entscheidungen treffen, hat sich das grundlegend gewandelt. Es ist eine Generationenfrage, die Sie hier stellen. Aber es ist mir schon klar, dass die Stadt Coburg, gerade bei der jüdischen Geschichte, im Vergleich zu anderen Kommunen sehr weit hinterherhinkt."

Für Familie Levy war es eine zutiefst emotionale Spurensuche. Und immer wieder keimt die Frage auf, was sie in so einer Situation getan hätten. Wie schnell auch sie sich mit Krieg und massiver Gewalt in ihrer neuen Heimat konfrontiert sehen müssen, war bei der Entstehung des Artikels noch nicht abzusehen.

Christian Limpert
Bildrechte: BR
Artikel mit Video-InhaltenVideobeitrag

Christian Limpert

Bildrechte: BR
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Zerrissene Israel-Flagge

Mit Blick auf den 7. Oktober 2023, dem Tag, an dem die Terror-Organisation Hamas Israel massiv angriff und dabei mehr als 1.400 Israelis tötete und mehr als 220 Geiseln entführte, ist der Film ein außergewöhnliches Zeitdokument. Fertig gestellt just vor den Angriffen der Hamas, gibt er Einblicke in die Gefühlslage der Israelis und hält genau diesen Moment fest, da Israel in Verkennung der Gefahr die Probleme eher innenpolitisch verortet, sich aber in einer relativen Sicherheit gegenüber Feinden von außen wähnt. Ein Zustand, der vorerst unwiederbringlich verloren erscheint. Im Anschluss an den Film folgt aus aktuellem Anlass ein Gespräch von Korrespondentin Sophie von der Tann, Studio Tel Aviv, mit dem Autor und Leiter des Studios, sowie ein kurzes Follow up: Wie hat die Familie Levy den Tag des Überfalls überlebt, wie geht es ihr heute? Und wie steht sie nun zu ihrer Regierung unter Benjamin Netanjahu, da das Land sich im Krieg befindet?

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!