Die einjährige Judis Cahn ist Opfer der nationalsozialistische Diktatur. Das BR-Projekt ruft ihre und die Geschichten von 999 weiteren Münchner Jüdinnen und Juden in Erinnerung.
Bildrechte: Stadtarchiv München

Die Rückkehr der Namen

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"Die Rückkehr der Namen"

Das nationalsozialistische Regime hat Millionen Menschen verfolgt und ermordet. Ein BR-Projekt ruft nun die Geschichten von 1.000 Münchner Jüdinnen und Juden in Erinnerung, die Opfer der NS-Diktatur wurden.

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

Leonora Schwarzenberg sitzt am Computer und zeigt ihren Schülerinnen und Schülern ein schwarz-weißes Foto, das für das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte steht. Es zeigt ein Baby, das bäuchlings auf einem Fell liegt. Sein Kopf ist gehoben, der Blick geht aufmerksam in Richtung Kamera. Der Name des Mädchens: Judis Cahn. 1941 wurde es vom jüdischen Kinderheim in München deportiert und nach der Ankunft in Litauen erschossen. Da war es gerade einmal ein Jahr alt.

Computerspiel zeichnet Deportation der Münchner Jüdinnen und Juden nach

Judis Cahn ist während des NS-Regimes verfolgt und getötet worden, weil sie Jüdin war. Damit sie und die anderen Ermordeten nicht in Vergessenheit geraten, will Geschichtslehrerin Leonora Schwarzenberg mit ihren Schülerinnen und Schülern des Wittelsbacher Gymnasiums in München durch ein Computerspiel einen neuen Zugang zur Geschichte erproben. Dabei schlüpfen sie in die Rolle eines Bloggers, dem historische Bilder zugespielt werden. Sie sollen entschlüsseln und verstehen, was zu sehen ist. Und wofür die Bilder stehen. "Ich bin Fan von Geschichtsunterricht, sonst wäre ich keine Geschichtslehrerin“, sagt Leonora Schwarzenberg im Gespräch mit dem BR-Politikmagazin Kontrovers. Man müsse aber auch den Geschichtsunterricht neu denken und die Leute in ihrer digitalen Lebenswelt abholen, findet sie.

Opfer sollten auch aus der Erinnerung gelöscht werden

Das Konzept des sogenannten "Serious Game" scheint zu funktionieren. Die Schülerinnen und Schüler spielen es voller Konzentration, nehmen den Inhalt ernst. Auch im Internet findet das Spiel Anklang.

Es wurde mit Hilfe der Abteilung Public History der Stadt München entwickelt. Maximilian Strnad vom Kulturreferat sieht darin einen neuen Weg, um der Opfer der NS-Zeit zu gedenken. "Die Nationalsozialisten haben tatsächlich nicht nur die Menschen ermordet, sondern auch versucht, die Erinnerung an sie auszulöschen aus unserem Gedächtnis“, sagt er. "Und deswegen ist eine der wichtigsten Aufgaben, die wir haben, ihre Namen, ihre Gesichter, das Andenken an sie zurückzuholen."

Auch die Geschichte der einjährigen Judis Cahn wird erzählt

Die damals einjährige Judis Cahn ist das jüngste Opfer unter den 1.000 Münchnerinnen und Münchnern, die im Verlauf der ersten Deportation von Münchner Juden vom NS-Regime ermordet wurden. Ihr Foto ist für Maximilian Strnad ein besonderes Zeitdokument. "Dieses Bild ist wirklich schwer zum Anschauen, wenn man weiß, was mit ihr passiert ist. Dass auch sie erschossen worden ist, am 25. November 1941. Das zeigt eigentlich die ganze Brutalität dieses nationalsozialistischen Regimes."

Die Idee: Schicksale "zurückholen"

Eines von 1.000 Schicksalen, an die auch Andreas Bönte, stellvertretender Programmdirektor Kultur des Bayerischen Rundfunks, in Zusammenarbeit mit der Stadt München erinnern möchte. "Ich glaube, in dem Moment, wenn man die Menschen, also auch diese Geschichten, die Schicksale, wieder zurückholt, kann man erstmal wirklich fassen, was damals mit diesen Menschen passiert ist", sagt er.

1.000 Paten für getötete Münchner Jüdinnen und Juden

Das Gedenken soll von der aktiven Teilnahme der Bevölkerung leben. 1.000 Patinnen und Paten wurden dafür gewonnen. Die Münchnerin Irene Hofer hat die Patenschaft von Judis Cahn übernommen. "Ich habe das Foto gesehen, und ich habe die Daten dazu gelesen. Und da steht das Geburtsdatum und Todesdatum. Und da war mir klar, dass sie ein Jahr und drei Monate alt war", erzählt sie. Als sie gefragt wurde, ob sie mitmachen wolle, habe sie nicht lang überlegt.

Erinnerungsweg für Demokratie und Toleranz

Am 11. April begeben sich die Paten auf einen Erinnerungsweg, der auf dem Münchner Odeonsplatz endet. Der Ort, an dem die Nationalsozialisten alljährlich ihren Putschversuch von 1923 feierten.

Aber bei "Die Rückkehr der Namen" geht es nicht nur ums Erinnern. Das Projekt soll auch zum Einsatz für Demokratie und Toleranz aufrufen. Andreas Bönte: "Die Demokratie starb langsam, ja, und man muss ja immer wieder sagen: Die NSDAP kam auf demokratischem Wege an die Macht. Und dann kam es plötzlich, zack zack zack, ein Gesetz gegen die Juden, ein Gesetz gegen Sinti und Roma, hintereinander weg. Daneben die Euthanasie-Morde. Alle haben es irgendwo mitgekriegt, aber weggeschaut. Und das darf halt nie wieder passieren."

Auch deswegen erinnert Irene Hofer voller Überzeugung an die kleine Judis Cahn. "Wir müssen sehr wachsam sein. Wir dürfen nie aufhören zu erinnern", sagt sie. "Nie!"

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