07.07.2023, Ukraine, Bachmut: Eine ukrainische Panzerhaubitze «Bohdana» feuert auf russische Stellungen.
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Sicherheitsexperte: "Streumunition das geringere Übel"

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Sicherheitsexperte: "Streumunition das geringere Übel"

Streumunition für die ukrainische Gegenoffensive: Sicherheitsexperte Rafael Loss erklärt im BR24-Interview, warum die international sehr umstrittene Munition von der Ukraine gefordert und von den USA geliefert wird.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Die USA liefern Streumunition für die von der Ukraine geführten Gegenoffensive gegen die russischen Besatzungstruppen. Streumunition, die in Form von Streubomben eingesetzt wird, ist allerdings vom Großteil des Westens seit 2010 geächtet.

Im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video unten) erklärt Rafael Loss, Sicherheitsexperte vom European Council on Foreign Relations, warum die Ukraine diese Art von Munition trotzdem im Kampf gegen Russland einsetzen möchte.

BR24: Herr Loss, wie sind Streubomben einzuschätzen? Sind sie ein legitimes Mittel in einem Krieg oder sollten sie verboten sein?

Rafael Loss: Ich denke, Streubomben mit all ihren Konsequenzen sind kein Mittel erster Wahl irgendeines militärischen Kombattanten. Sie sind immer mit Risiken für die eigenen Soldatinnen und Soldaten und natürlich aber auch mit ihren Langzeitfolgen für Zivilistinnen und Zivilisten eine Gefahr.

Im Video: Streubomben: Soll die Ukraine gegen Russland Streumunition bekommen?

Streumunition mit gefährlicher Langzeitwirkung

BR24: Ein eingängiger Grund, weshalb der Einsatz dieser Art von Munition so umstritten ist, oder?

Loss: Streumunition wurde ganz lange als legitimes Mittel der Kriegsführung betrachtet. Während des Kalten Krieges zum Beispiel hat ein Großteil der Nato-Strategie auf Streumunition zur Verteidigung Westdeutschlands und des erweiterten Allianz-Gebiets gebaut. Auch haben die Vereinigten Staaten während des Vietnamkriegs in Südostasien massiv Streumunition eingesetzt, die Sowjetunion in ihrem Afghanistan-Feldzug. Aber man hat dann festgestellt, dass diese Waffen sicherlich eine Langzeitwirkung entfalten. Dahingehend, dass viel der Submunition, wie diese Sprengköpfe dann genannt werden, eben nicht dann explodieren, wenn sie sollen, sondern erst viele Jahre später. Gegebenenfalls, wenn Kinder oder Mitarbeiter humanitärer Organisationen, die mit der Minenräumung beschäftigt sind, ihnen zu nahekommen. Und infolgedessen hat man sich im internationalen Kontext in den 2000er-Jahren darauf geeinigt, dass man versucht, ein Übereinkommen für das Verbot dieser Waffen anzustreben.

Sicherheitsexperte: Ukraine versucht Völkerrecht einzuhalten

BR24: Überschreitet die USA also mit der Lieferung von Streumunition nun eine rote Linie?

Loss: Zunächst einmal ist das Übereinkommen, das den Einsatz, die Herstellung und die Weitergabe von Streumunition verbietet, von 111 Staaten weltweit unterzeichnet worden. Dazu gehören nicht die Ukraine, auch nicht Russland, auch nicht die USA und zum Beispiel auch so Länder wie Finnland, Polen oder Rumänien nicht. Das heißt, diese Länder unterliegen nicht den konkreten Verbotsmaßnahmen dieses Vertragswerks. Natürlich müssen sie sich aber gebunden fühlen an das humanitäre Völkerrecht, was versucht, den Krieg gewissen Regeln zu unterwerfen, zum Beispiel über Verhältnismäßigkeit oder das Diskriminations-Gebot, was Staaten dazu aufruft, in Kampfhandlungen zu unterscheiden, zwischen zivilen und militärischen Zielen und Akteuren. Das heißt selbst wenn die Ukraine dem Streumunitionsverbot kein Mitgliedstaat des Vertragswerks ist, muss sie sich aber dennoch an das humanitäre Völkerrecht halten.

BR24: Und das tut die Ukraine ?

Loss: Ich glaube, die Einschätzung, die NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sicherlich ebenfalls teilt, so wie die Bundesregierung, der amerikanische Präsident und auch ich als Analyst, versucht die Ukraine systematisch das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Das greift keine zivilen Ziele an. Sie bemüht sich, zivile Ziele zu schützen. Sie greift das Territorium Russlands nur an, wenn sie sich verspricht, dort militärische Ziele zu treffen. Andersherum muss man Russland den Vorwurf machen, und da bin ich nicht alleine, das macht auch die Nato, das machen auch unabhängige Organisationen wie Human Rights Watch zum Beispiel, dass Russlands systematisch Kriegsverbrechen innerhalb eines verbrecherischen Krieges begeht und dafür auch Streumunition einsetzt.

BR24: Wenn Russland Streumunition einsetzt, ist das schlecht. Wenn die Ukraine Streumunition einsetzt, ist das aber in Ordnung? Ist das kein Widerspruch?

Loss: Wenn ein Staat nicht Vertragspartei dieser Übereinkunft gegen Streumunition ist, hängt es davon ab, dass sich dieser nach wie vor an das humanitäre Völkerrecht hält. Und da sehe ich die Bedingungen auf ukrainischer Seite durchaus gegeben. Das bedeutet, den Einsatz von Streumunition mit allen Einschränkungen, die sich die ukrainische Regierung auch auferlegt, so zu reglementieren, dass er eben dem humanitären Völkerrecht entspricht und nicht das wiederholt, was die russischen Streitkräfte seit Februar 2022 in der Ukraine veranstalten.

Streumunition: "Eigener Munitionshaushalt wird wirtschaftlicher"

BR24: Geht es hier jetzt also auch um "Auge um Auge"? Weil Russland Streumunition eingesetzt hat, will die Ukraine das jetzt auch tun?

Loss: Das Ziel der Ukraine war nicht eine Waffengleichheit herzustellen, also nicht Streumunition russischer Art und nach russischen Einsatzvorschriften mit Streumunition ukrainischer Art und nach ukrainischen Einsatzvorschriften zu bekämpfen. Es ergibt sich eine bestimmte militärische Logik aus dieser Anfrage, die die ukrainische Regierung ja schon lange an ihre internationalen Unterstützer gestellt hat.

BR24: Können sie diese Logik erläutern?

Loss: Da ist zunächst einmal das Effizienz-Argument, wenn es darum geht, Flächenziele zu bekämpfen. Wie zum Beispiel die eingegrabenen russischen Besatzungskräfte mit ihrem Bunkeranlagen im Südosten und im Osten der Ukraine oder die russischen Panzerkolonnen, die im besetzten Gebiet unterwegs sind. Also Streumunition, die über eine größere Fläche wirkt, einzusetzen im Vergleich zu mehreren konventionellen Granaten, die aus einem Gefechtskopf bestehen.

Gleichzeitig kann das auch dazu führen, dass der eigene Munitionshaushalt aus Sicht der Ukraine wirtschaftlicher eingesetzt wird, dass man also weniger Artilleriegeschosse für die gleiche Wirkung nutzen kann. Und das würde auch dazu führen, dass die Artilleriesysteme weniger gefordert werden, dass die Lebensdauer zum Beispiel eines Kanonenrohrs von einer Panzerhaubitze ein wenig länger durchhält, als es das tun würde, wenn man mehr Munition konventioneller Art verschießen müsste und weniger Streumunition eben für das für das gleiche Ergebnis.

Im Audio: Sicherheitsexperte Rafael Loss im BR24-Interview

Rafael Loss, Sicherheitsexperte vom European Council on Foreign Relations
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Rafael Loss

Streumunition "kann größere Fläche von Grabensystemen bekämpfen"

BR24: Fernab von einer Kritik, die man an dieser Art der Munition hat. Kann Streumunition der Ukraine in ihrem aktuellen Kampf gegen das russische Grabensystem an der Front helfen?

Loss: Wenn man sich ein ganz konkretes Einsatzszenario vorstellt, mit dem sich die Ukraine im Moment konfrontiert sieht, dann sind das die Befestigungsanlagen, die die russischen Besatzungstruppen in den vergangenen Monaten zum Beispiel in Cherson aufgebaut haben. Da gibt es Panzersperren, da gibt es aber auch natürlich Gräben, aus denen die Soldaten der russischen Streitkräfte heraus die ukrainischen Verteidiger unter Feuer nehmen. Und wenn man jetzt eine konventionelle Artilleriegranate hernimmt und versucht, solche Befestigungen zu bekämpfen und die Granate in einem Graben einschlägt, dann hat die nur eine sehr begrenzte Sprengwirkung. Selbst wenn die Splitter sich von dieser Explosion ausbreitend durch das Grabensystem ihren Weg bahnen, ist die Flächenwirkung doch sehr begrenzt. Wenn man das vergleicht mit dem Einsatz einer Streumunition, die eben im Anflug auf dieses Grabensystem ihre Submunition verstreut, dann kann eine viel größere Fläche von Grabensystemen bekämpft werden. Man braucht also weniger Munition, was wiederum das Haushalten für die Ukraine mit der eigenen Artilleriemunition und den eigenen Artilleriesystemen vereinfacht.

Westliche Waffenlieferung: "Bitten nach Streumunition hätte gedämpft werden können"

BR24: Noch mehr könnten bei der aktuellen Gegenoffensive aber auch Kampfjets helfen, die der Ukraine jedoch immer noch nicht geliefert werden. Kann die Lieferung von Streumunition jetzt dahingehend als eine Art Kompromiss verstanden werden?

Loss: Ich halte das politische Argument, dass die Streumunition ein Feigenblatt gewissermaßen ist für die Biden-Regierung in ihrer Unterstützung der Ukrainer, für wenig stichhaltig. Ich glaube, es geht tatsächlich mehr um ein Nachhaltigkeits-Argument. Man hat es nicht geschafft, im Kontext der internationalen Koalition der Unterstützer der Ukraine rechtzeitig zum Beispiel die eigene Produktion von konventioneller Artilleriemunition hochzufahren. Man hängt sich immer noch auf an der Debatte, ob man nun Kampfflugzeuge der Ukraine zur Verfügung stellen möchte bzw. kann und wie lange das dann dauert. Und deswegen glaube ich, dass man auf Streumunition zurückgreift, um einen gewissen Zeitraum zu überbrücken, bis diese Entscheidungen tatsächlich getroffen sind, bzw. bis die Produktionsraten konventioneller Artillerie tatsächlich hoch genug sind, um eine nachhaltige Unterstützung der Ukraine sicherzustellen.

Gleichzeitig hätte man, wenn man als Unterstützer-Koalition der Ukraine diese Entscheidung bereits getroffen hätte, vielleicht die Dringlichkeit auch der ukrainischen Bitten nach Streumunition etwas dämpfen können. Und man hätte vielleicht eine Situation vermeiden können, in der der Einsatz eben dann doch international geächteter Munition nicht so notwendig ist, wie er das jetzt ist, zumindest aus Perspektive der Ukraine.

Deutschland "aus politischer Erwägung" nicht gegen Streumunition

BR24: Ist das auch der Grund, weshalb Deutschland so verhalten gegenüber der Lieferung von Seiten der USA reagiert?

Loss: Deutschland hat sich als Vertragsstaat des Übereinkommens über Streumunition gewissermaßen verpflichtet, auch einer ja Universalisierung dieses Vertragswerks beizuwohnen. Das heißt, es muss diese Werte dieses Vertragswerks tatsächlich auch befördern. Und dazu gehört, dass man eben den Einsatz von Streumunition kritisiert, so wie er durch Russland geschieht in der Ukraine. Dass man die Lieferung von solchen Systemen auch nicht gutheißt, im konkreten Fall, aber dass man sicherlich aus politischen Erwägungen auch nicht in einer solchen Situation den USA und vor allem auch der Ukraine in den Arm fällt oder in den Rücken fällt.

Denn man muss dann explizit tatsächlich sagen, dass, wenn man der Ukraine den Einsatz von Streumunition verweigert und sie auf ineffizientere Wege ihr Ziel erreichen muss, das dann gegebenenfalls ukrainische Leben kostet. Nicht nur Leben von Soldatinnen und Soldaten, die ja diese Befestigungsanlagen, die die russischen Streitkräfte in den vergangenen Monaten errichtet haben, unter ohnehin schon großen Kosten überwinden müssen, sondern dass das gegebenenfalls auch bedeuten kann, dass ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten länger unter russischer Okkupation leben müssen als das durch den Einsatz von Streumunition, eben um weitere Gebiete zu befreien, der Fall wäre.

BR24: Russland hat wiederum die US-Lieferung von Streumunition heftig kritisiert.

Loss: Russlands Reaktion auf alle Waffenlieferungen, soweit man das beobachten konnte, waren immer extrem zynisch. Die russische Regierung hat Vorwürfe erhoben an die Unterstützer der Ukrainer zu Sachverhalten, die es selber systematisch nutzt, um sich Vorteile in seinem Kampf gegen die Ukraine zu verschaffen. Insofern, glaube ich, ist das kein Sonderfall, den Streumunition da tatsächlich darstellt. Vielmehr nutzt Russland Streumunition vor allem auch gegen zivile Ziele schon seit Beginn der groß angelegten Invasion seines Nachbarlandes, der Ukraine. Und das ist international von unabhängigen Quellen auch zahlreich nachgewiesen worden, unter anderem von Human Rights Watch, die gleichzeitig natürlich auch den Einsatz der Streumunition durch die Ukraine und die Biden-Regierung für die Lieferung von Streumunition kritisieren. Das ist eine gewisse gesinnungsethische, grundsätzliche Ablehnung von diesem Waffensystem, die aber einer militärischen Logik und, ich denke auch nicht notwendigerweise, dem humanitären Völkerrecht entgegensteht.

"Einsatz von Streumunition trotz aller Kosten das geringere Übel"

BR24: Ist es also in Ordnung, dass die Ukraine jetzt Streubomben einsetzt, auch wenn sie damit wahrscheinlich ihr eigenes Gebiet mit Blindgängern für die Nachkriegszeit vermint?

Loss: Sie sind sicherlich im aktuellen Kontext, mit dem sich die Ukrainer konfrontiert sieht, das geringere Übel. Die Ukraine ist ein demokratischer Staat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern gegenüber verpflichtet ist und infolgedessen auch viel investieren wird, um die besetzten Gebiete und die Kampfgebiete, die sich größtenteils auf ukrainischem Territorium befinden, zu katalogisieren. Und es wird eine Aufgabe von Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten sein, hier alle Kampfmittel zu beseitigen. Die Submunition von Streumunition, die die Ukraine gegebenenfalls in ihrer Gegenoffensive einsetzen wird, ist davon aber nur ein sehr, sehr kleiner Prozentteil. Das Problem, mit dem die Ukraine langfristig umgehen muss, besteht ohnehin. Insofern muss man, glaube ich, eine Kosten-Nutzen-Rechnung anlegen und auch die Kosten-Nutzen-Rechnung der ukrainischen Regierung nachvollziehen, die zu dem Schluss gekommen ist, dass der Einsatz von Streumunition trotz aller Kosten das geringere Übel ist.

BR24: Danke für das Gespräch.

Dieser Artikel ist erstmals am 16. Juli 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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