Ein Dosis Covid-19-Impfstoff wird auf eine Spritze aufgezogen; eine Hand mit Gummihandschuh hält das Fläschchen mit dem Impfstoff
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Ein Dosis Covid-19-Impfstoff wird auf eine Spritze aufgezogen - dass sie mehr Nebenwirkungen hat, als offiziell angegeben, ist nicht belegt.

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#Faktenfuchs: Umfrage kein Beleg für häufige Impf-Nebenwirkungen

Die Aussagen eines Forschers befeuern die Diskussion um die Häufigkeit von Impf-Nebenwirkungen. An der Machart und der Aussagekraft der Untersuchung gibt es Zweifel. Die Charité distanziert sich von der Untersuchung. Ein #Faktenfuchs.

Seit Beginn der Impfkampagne sind Nebenwirkungen ein großes Thema. Gerade aufgrund der im Rahmen der Covid-19-Pandemie erstmals großflächig angewandten mRNA-Technologie gab es viele Unsicherheiten. Nach knapp anderthalb Jahren Impfkampagne zeigen zahlreiche Studien, dass schwerwiegende Nebenwirkungen sehr selten sind und die Vakzine häufig vor einem schweren Krankheitsverlauf schützen.

Im Netz wird dennoch häufig behauptet, Nebenwirkungen träten viel öfter auf als berichtet.

Solche Kommentare gibt es schon länger, nun wird die Diskussion um Nebenwirkungen durch die Aussagen eines Forschers angeheizt. Viele BR24-User haben sich mit Fragen dazu an die Redaktion gewandt. Der #Faktenfuchs hat sich gemeinsam mit der BR-Redaktion “Wissen und Bildung” sowie dem BR-Data-Team die Aussagen und die Zahlen angeschaut.

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Charité-Untersuchung zu Nebenwirkungen: Methodik und Ergebnisse fragwürdig

Mediales Aufsehen erregte Ende April eine oft als Studie bezeichnete Online-Umfrage mit dem Titel “ImpfSurv” des Mediziners Harald Matthes, der eine Stiftungsprofessur an der Berliner Charité innehat. In einem Interview mit dem MDR sagte der Forscher über das Ergebnis seiner Untersuchung, dass 0,8 Prozent der gegen Corona Geimpften schwere Nebenwirkungen hätten.

Das wären deutlich mehr als in den Sicherheitsberichten des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) vermerkt. In der aktuellsten Ausgabe berichtet die Behörde, für 0,02 Prozent aller Impfungen seien schwerwiegende Reaktionen gemeldet worden. Matthes’ Untersuchung ergibt also einen 40-fach höheren Wert. In einem zuvor erschienenen Interview mit dem Focus Anfang April sprach Matthes noch von "mindestens 70 Prozent" Untererfassung bei Nebenwirkungen. Zahlreiche Medien hatten die Aussagen aufgegriffen.

Allerdings gibt es an der Untersuchung Kritik. So hat Matthes bislang keine Einblicke in die Methodik seiner Untersuchung gewährt, sie kann also nicht von anderen Forscherinnen und Forschern überprüft werden. In der Wissenschaft ist es üblich, dass Vorgehensweise und Ergebnisse vor der Veröffentlichung durch andere Wissenschaftler begutachtet werden, etwa durch ein Peer-Review-Verfahren.

Charité distanziert sich und prüft ob Vorgaben eingehalten wurden

Bei der Untersuchung handelt es sich um eine Online-Befragung, die zum Zeitpunkt von Matthes’ Interviews noch nicht beendet war, Zwischenergebnisse wurden nicht veröffentlicht. Auch Tage nach dem Interview konnten sich User noch registrieren. Kurz vor der Veröffentlichung dieses Artikels war die Webseite samt Anmeldung zur Umfrage über die Charité nicht mehr abrufbar, es erschien stattdessen eine Fehlermeldung.

Die Charité erklärte auf Anfrage, dass Matthes als Stiftungsprofessor im Rahmen der Wissenschaftsfreiheit an der Charité wissenschaftlich arbeiten, also forschen und lehren könne - er dabei aber “die Regelungen für Gute klinische Praxis, Gute wissenschaftliche Praxis sowie die Auflagen der Ethikkommission für seine Untersuchungen einhalten” müsse. Ein Sprecher sagte: “Wir prüfen aktuell, ob diese Vorgaben eingehalten wurden. Bis auf Weiteres weisen wir daher aktuell über die Internetpräsenz der Charité auf diese offene Internetumfrage nicht hin.“

Für die Teilnahme an der Befragung konnte sich vorher augenscheinlich jede und jeder mit einer E-Mail-Adresse anmelden. Das wirft etwa die Frage auf, ob Internetnutzer nicht einfach mit verschiedenen E-Mail-Adressen mehrmals haben teilnehmen können.

Auf eine Anfrage des Bayerischen Rundfunks zur Methodik reagierte Matthes nicht.

Unterschiedliche Definition von "schweren Nebenwirkungen"

Matthes definiert den Begriff "schwere Nebenwirkungen" anders als etwa das PEI. Im Interview mit dem MDR definiert er den Begriff damit, dass eine medizinische Behandlung erforderlich ist.

Das PEI nutzt hingegen die Definition des Arzneimittelgesetzes, das zum Beispiel Nebenwirkungen, die tödlich oder lebensbedrohend sind oder eine stationäre Behandlung notwendig machen, als schwerwiegend listet. Auch deshalb lassen sich die Angaben von Matthes und die des PEI nicht miteinander vergleichen.

Arzneimittelkommissions-Chef: Underreporting lässt sich kaum durch Zahlen belegen

Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, sagt, grundsätzlich gebe es zwar vor allem bei neuen Arzneimitteln bzw. Impfstoffen ein "Underreporting", also dass weniger Nebenwirkungen gemeldet werden, als tatsächlich auftreten.

Dieses "Underreporting" jedoch mit Prozentzahlen zu belegen - davor warnt Ludwig: "Das führt zu einer maximalen Verunsicherung der Personen, die sich ja eigentlich impfen lassen sollen und ist auch durch wissenschaftlich fundierte Zahlen aus klinischen Studien nicht vernünftig belegt."

Er weist auch darauf hin, dass Matthes kein Experte auf dem Gebiet der Pharmakovigilanz, also der Überwachung von Arzneimitteln, sei und es auch in der internationalen Literatur keine Daten oder Belege für eine Größenordnung, wie von Matthes beschrieben, gebe. Auch beim Vergleich mit den Zahlen aus Impfregistern anderer Länder müsse man vorsichtig sein, die Zahlen ließen sich nicht pauschal auf Deutschland übertragen.

Der Regensburger Infektiologe Bernd Salzberger kritisiert die Aussagen von Matthes ebenfalls. "Die Häufigkeit von Nebenwirkungen mit einer solchen Untersuchung einzuschätzen ist extrem schwierig", sagt Salzberger. "Wir bekommen durch eine solche Untersuchung ein sehr subjektives Bild, das ist auch manchmal wichtig. Aber ich glaube nicht, dass es repräsentativ ist."

PEI hätte sich Austausch mit Matthes gewünscht

Eine Sprecherin des Paul-Ehrlich-Instituts schrieb Ende April auf #Faktenfuchs-Anfrage: "Die öffentlich zugänglichen Informationen zum Studiendesign (der Charité-Untersuchung, d. Red.) lassen zumindest Fragen hinsichtlich der Aussagekraft der Studie aufkommen."

Es sei "bedauerlich", dass Matthes seine Erkenntnisse bisher nicht mit dem Paul-Ehrlich-Institut diskutiert habe, schreibt die Sprecherin. "Um beurteilen zu können, ob eine relevante Diskrepanz vorliegt, sollte Herr Prof. Matthes dem Paul-Ehrlich-Institut seine Erkenntnisse mitteilen."

Charité distanziert sich von Matthes’ Untersuchung

Die Charité distanziert sich indes von "ImpfSurv". Sprecher Markus Heggen schreibt auf Anfrage: "Bei dieser Untersuchung handelt es sich um eine noch nicht einmal abgeschlossene offene Internetumfrage, im engeren Sinne also nicht um eine wissenschaftliche Studie." Die Datenbasis sei "nicht geeignet, um konkrete Schlussfolgerungen über Häufigkeiten in der Gesamtbevölkerung zu ziehen und verallgemeinernd zu interpretieren."

Heggen verweist zudem darauf, dass Matthes eine Stiftungsprofessur für Integrative und anthroposophische Medizin innehabe. "Zum Themenkomplex Covid-19 und Impfungen ist unsere Expertise in anderen Instituten und Kliniken der Universitätsmedizin verortet."

Matthes ist ärztlicher Leiter und Geschäftsführer des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe, einer Klinik für Anthroposophische Medizin.

Impfstoff-Forscher: Häufigere Nebenwirkungen lassen sich aus internationalen Studien nicht ableiten

Der Impfstoff-Forscher Leif Erik Sander schreibt in einem Statement auf Twitter, dass es international sehr große Untersuchungen gebe, die sich auf detaillierte Gesundheitsdaten von Millionen Menschen stützten und die Rate der Impfkomplikationen sehr detailliert angeben würden. "Eine Rate von 0,8 Prozent ´schwerer Nebenwirkungen` ist aus diesen qualitativ hochwertigen, international unabhängig begutachteten Studien nicht ableitbar." Beispiele für große internationale Studien gibt es z.B. hier und hier.

Der Infektiologe betont dennoch, wie wichtig er es finde, dass es viele methodisch unterschiedliche Studien zu Impfkomplikationen gebe. "Das stärkt Vertrauen und hilft seltene Komplikationen zu erkennen. Aber wichtig ist, Ergebnisse kritisch einzuordnen und Limitation zu benennen."

Fazit

Die Aussagen und Zahlen von Harald Matthes sind kein Beleg für ein häufigeres Auftreten von Nebenwirkungen als offiziell berichtet. Das heißt nicht, dass es nicht tatsächlich mehr Fälle sein könnten, die Methode von Matthes’ Umfrage lässt Experten zufolge aber keine repräsentativen Rückschlüsse auf die Allgemeinheit zu.

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