Filmszene aus "Past Lives"
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Filmszene aus "Past Lives"

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Film "Past Lives": Von nicht gelebten Leben

Der Debüt-Film von Regisseurin Celine Song dreht sich um Menschen, die sich aus den Augen verlieren und wieder finden. Eine platonische Jugendliebe, die weiterwirkt – ein Vierteljahrhundert lang und über Grenzen hinweg.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Es gibt Wege im Leben, die sind vorgegeben: Auf den Kindergarten folgt die Schule, auf die Schule der Beruf. Je älter man wird, desto individueller werden die beschrittenen Wege. Möglichst schnell Geld verdienen oder erst noch studieren? Im Heimatort Wurzeln schlagen oder ins Ausland gehen? Befreundet bleiben oder eine Beziehung eingehen? Dass dieser ganz normale Gang der Dinge von einer höheren Macht beeinflusst sein könnte, dürfte wohl den wenigsten in den Sinn kommen. "Im Koreanischen gibt es ein Wort: In-Yun. Das bedeutet Vorsehung. Oder Schicksal", heißt es im Film.

In "Past Lives", einem ebenso geerdeten wie philosophischen Drama von Regisseurin Celine Song, wird dieser Gedanke zur Leitfrage. Hätte man ein anderes Leben geführt, wenn man sich an einem gewissen Punkt in der Vergangenheit anders entschieden hätte? Songs Spielfilmdebüt basiert auf persönlichen Erfahrungen. Als sie noch klein war, ist sie mit ihren Eltern von Südkorea nach Kanada ausgewandert. Das Leben davor wurde zurückgelassen, Sandkastenliebe inklusive. Nach jahrelanger Funkstille begegnen sich die beiden wieder. Und alles ist wie früher.

Alter Ego der Regisseurin

In den 90er-Jahren wäre aus so einer Geschichte eine romantische Komödie mit Happy End geworden. "Past Lives" allerdings bringt das reale Leben auf die Leinwand. Von der Kindheit in Südkorea springt die Handlung zwölf Jahre in die Zukunft, wo es zur ersten, aber nur digitalen Wiederbegegnung im Internet kommt. Erst weitere zwölf Jahre später kommt es im New York der Gegenwart zum realen Treffen. Die Vertrautheit ist sofort da, auf eine erste ungelenke Umarmung folgen ein langer Spaziergang durch die Stadt und Gespräche über Gott und die Welt und das Leben, das die beiden in der Zwischenzeit geführt haben.

Nora, das Alter Ego von Regisseurin Celine Song, ist eine aufstrebende Bühnendramatikerin, glücklich verheiratet mit einem Schriftsteller und wohnt im New Yorker Künstlerviertel East Village. Kindheitsfreund Hae Sung ist Ingenieur, lebt noch immer in Seoul und blickt auf die Scherben einer in die Brüche gegangenen Langzeitbeziehung. Seine Englischkenntnisse sind rudimentär, den asiatischen Kontinent hat er so gut wie nie verlassen und überhaupt sei er so durch und durch koreanisch, erzählt Nora später ihrem Ehemann Arthur. Dessen Frage, ob sie mit Hae Sung durchbrennen würde, verneint Nora lachend. Halb im Scherz, halb ernsthaft besorgt spinnt er die filmreife Begegnung weiter: "Was für eine gute Geschichte das doch ist: Kindheitsfreunde treffen sich 20 Jahre später wieder und realisieren, dass sie für einander bestimmt sind. Aber in der Geschichte wäre ich der böse weiße, amerikanische Ehemann, der dem Schicksal im Weg steht."

Reflexion über das Abschiednehmen

Es ist nur einer von unzähligen Momenten, in dem Blicke und wenige Worte Bände sprechen. Auch wenn sich Arthur und Nora über das kitschige RomCom-Potential der Geschichte lustig machen – beide wissen, dass Hae Sung einen Teil von Noras Identität ausmacht, den Arthur nie in Gänze wird greifen können. Zudem steht Hae Sung für ein Leben, das nicht gelebt werden konnte, weil eine höhere Macht – in diesem Fall Noras Eltern – das Band zwischen den beiden durchtrennt hat. Es gehört zu den großen Stärken von "Past Lives" und den durchweg großartigen Darstellern, dass die Handlung nie ins Melodramatische kippt, sondern stets nachvollziehbare Emotionen transportiert.

Die größte Kunst jedoch ist, dass diese überaus persönliche Geschichte einen universellen Kern hat. Denn Celine Songs Film ist nicht nur eine Studie über unerfüllte Liebe, sondern eine Reflexion über das Abschiednehmen. Über Bedauern und Gewissheit. Über Entscheidungen, die man nicht hat beeinflussen können und solche, die man ganz bewusst getroffen hat. Der Film vermittelt keine Gefühle, sondern ein Gefühl – und zwar eins, das jeder im Kinosaal auf das eigene Leben übertragen kann. Bei vielen dürfte das bittersüße Erinnerungen wecken und den Blick nach Innen lenken. Und dort wird er eine ganze Zeitlang verweilen.

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