Schriftsteller Maxim Biller.
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"Mama Odessa" von Maxim Biller: Schatten des nahenden Gewitters

Weil Russland die Ukraine angriff, verlor Maxim Biller kurz den Glauben an die Literatur. Nun erscheint sein Familienroman "Mama Odessa". Kein Buch über den Krieg. Und dennoch ein Buch ohne Frieden.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Welchen Sinn habe es zu schreiben, sprich: aus einer Wirklichkeit Fiktion zu machen, die hinterher in die Wirklichkeit zurückkehre und die Menschen vielleicht für ein paar Monate klüger und ab und zu sogar besser mache – aber doch nichts gegen den Kriegsterror eines einzelnen Serienmörders und seiner Hunderttausenden Helfershelfer ausrichten könne?

Das fragte sich der Schriftsteller Maxim Biller letztes Jahr, kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine in der Wochenzeitung "Die Zeit". In Kiew, Cherson und Odessa, so Biller weiter, sei wieder einmal der Zweite Weltkrieg ausgebrochen, nur dass diesmal die Russen angefangen hätten. Resigniert über die beschränkte Wirkmacht von Literatur kündigte der Autor dann an: Er wolle mit dem Schreiben aufhören.

"Mama Odessa": Neues Buch von Maxim Biller

Wort gehalten hat er nicht. "Mama Odessa" heißt sein neues Buch, trägt also ausgerechnet den Namen jener strategisch so wichtigen wie kulturell aufgeladenen Hafenstadt am Schwarzen Meer, die gerade wegen von russischen Raketen zerstörten Häusern oder festsitzenden Frachtschiffen voller Getreide in den Nachrichten ist.

Hat Maxim Biller tatsächlich einen Roman über den Krieg verfasst? Bereits nach den ersten Seiten ist zu erahnen: Der russische Angriffskrieg wird in diesem Roman mit keinem Wort erwähnt werden. Was, wie sich zeigen wird, der gesamten Lektüre einen eigenartigen Schauder verleiht. Zunächst aber widmet sich "Mama Odessa" wieder einmal den großen Biller-Themen: Familienwahnsinn, Jüdischsein, Emigration und natürlich die eitle Pfauenwelt der Literaturszene.

Die Grinbaums – eine unglückliche Familie

Erzählt wird der Roman aus der Perspektive des deutschen Schriftstellers Mischa Grinbaum, der in Sachen Alter, Habitus, Eitelkeit und Witz einiges mit seinem Schöpfer Maxim Biller teilt. Dieser Mischa Grinbaum ist ein mehr oder minder erfolgreicher Autor und Kolumnist, der sich hierzulande vor allem dank seiner jüdischen Emigrationsgeschichten einen Namen gemacht hat.

Gleich zu Beginn des Romans, als er die Wohnung seiner verstorbenen Mutter ausmistet, stößt der Schriftsteller auf einen vergessenen Brief. Einen Brief, den seine Mutter in den späten Achtzigern an ihren Sohn geschrieben, aber nie abgeschickt hat. Darin bereut die Mutter, damals nicht zu ihrem sterbenden Vater in die Sowjetunion, genauer: in dessen Heimat Odessa, zurückgekehrt zu sein. Ein Anflug von aufrichtiger Reue, der so gar nicht zum Ton der sonst bitteren, bissigen und immer leicht sarkastischen Mutter passen will. Ein Bekenntnis, das Sohn Mischa sein Leben und das seiner Eltern noch einmal von Grund auf überdenken lassen wird.

Es ist nämlich so: 1960 mussten die Grinbaums aus Odessa fliehen. Und das, obwohl die jüdische Familie dort in den Fünfzigern lange Zeit halbwegs zufrieden war. So zumindest erinnern es Mutter und Sohn. Tatsächlich aber wirkt in Odessa immer noch die Schande des Massakers vom Tolbuchinplatz nach. 1941 hatten Nazis hier auf grausamste Art knapp 25.000 Tausend Juden bei lebendigem Leib verbrannt und umgebracht. Nur durch viel Glück überlebt dieses Massaker damals Mischas Großvater, einem zu gleichen Teilen untalentierter wie melancholischer Maler. In den nach dem Krieg langsam wieder an Selbstbewusstsein gewinnenden Juden in der Stadt arbeitet dieses Trauma freilich weiter. Vor allem weil die herrschenden Sowjets zwar einen Gedenkstein für das Massaker errichten, dabei aber das Jüdischsein der Opfer verschweigen.

Gegen diesen latenten Antisemitismus der Sowjets protestiert 1960 ein kleiner Kreis selbstbewusster Zionisten, allen voran Mischas Vater und dessen bester Freund, der Schwerenöter Lassik Stein, wofür sie von der kommunistischen Partei hart sanktioniert werden. Als dann bei einem Ausflug mit dem Auto fast die ganze Familie umkommt, weil ein KGB-Agent ein Nervengift auf das Lenkrad gepinselt hat, entschließen sich die Grinbaums zur Flucht. Was Vater Grinbaum seinem Land nie verzeihen wird und Mutter Grinbaum nie ihrem Ehemann. In Deutschland erodiert die Ehe der beiden nach und nach, bis sie zerbricht. Am Ende einen Vater, Mutter und Sohn eigentlich nur ihr Talent zum Unglücklichsein sowie eine leise Sehnsucht nach Odessa.

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"Mama Odessa" von Maxim Biller

Spannend ist, wie Biller diese zarte Nostalgie nach Odessa ausgestaltet, vor allem für die Elterngeneration des Romans. Für den Vater, der immerzu von Israel träumt, ist Odessa so etwas wie das Tel Aviv am Schwarzen Meer. Für die Mutter und auch den Sohn symbolisiert Odessa aber vor allem einen Gegenentwurf zum geläufigen Verständnis russischer Kultur. Es ist ja gerade ein nicht seltenes Phänomen, dass zur Verteidigung Russlands gegen das barbarische Gebaren des Putinismus die großen Literaten Tolstoi, Dostojewski, Gogol ins Feld geführt werden, sprich das goldene 19. Jahrhundert der russischen Literatur. Damit aber fatalerweise auch jene Stimmen, die jene heute nicht unproblematische Idee der russischen Seele mitentwickelten.

Literatur als Ersatzheimat

Die literarischen Fixsterne der Grinbaums sind andere. Die Dichterin Anna Andrejewna Achmatowo etwa, oder Boris Leonidowitsch Pasternak. Dichter des frühen 20. Jahrhunderts, Künstler. Weniger deftige, weniger epische Stimmen, die ob ihres feinen Sensoriums schnell ins Visier der kommunistischen Kulturpolitik gerieten. Erzählerisch ist das ein toller Schachzug Billers, weil er damit einerseits an diesen künstlerisch so fruchtbaren Ort der russischen Literatur appellieren kann, ohne in postlinke Verklärungsreflexe zu verfallen. Dieses leicht über dem Roman schimmernde literarische Firmament dient vor allem Sohn Mischa und Mutter Aljona zur Selbstverortung und als Identifikationsraum.

Vor allem aber der "Mama Odessa", Aljona. Denn die verarbeitet ihr verlorenes Leben in Odessa, indem sie Kurzgeschichten schreibt. Nur für sich, irgendwie neben dem Alltagsstress als Hausfrau und Mutter, am liebsten im Auto auf dem Baumarktparkplatz. Erst im Alter wird sie einige ihrer Geschichten veröffentlichen und damit kurz ins Rampenlicht der deutschen Literaturwelt rücken, die sie natürlich, und das beschreibt Biller auch ganz herrlich boshaft, schnell wieder vergisst. So ist sie, die Literatur, die Biller hier zeichnet: Der gesellschaftliche Nutzen ist ephemer, zumindest im Privaten aber weiß sie zu vermitteln, klären, kompensieren. Eher psychologisches denn ein politisches Remedium.

Der Effekt des Verschweigens

Vielleicht auch deshalb verzichtet Biller hier auf ein Thematisieren des russischen Angriffskriegs. In jedem Fall macht das Verschweigen desselben die Lektüre dieses Romans besonders eindrücklich. Schwärmt etwa der Erzähler von Odessa und träumt von der Idee Hochzeitsfotos auf der berühmten, riesigen Treppe, von der im monumentalen Stummfilm "Panzerkreuzer Potemkin" ein Kinderwagen herunterrollt, dann denkt man als Leser natürlich immer all die Gewalt, all die donnernden Raketen, all die Zerstörung und all das Leid, das dort gerade geschieht mit. Unsere Gegenwart also liegt wie der drückende Schatten eines nahenden Gewitters über der Gegenwart des Geschilderten. Dies verleiht dem Unglücklichsein, der Wurzellosigkeit und all den Lippenbekenntnissen von Kultur und Politik, über die sich dieser Mischa Grinbaum immer sehr komisch das Maul zerreißt, die Tönung einer dunklen Prophetie.

"Mama Odessa" von Maxim Biller ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.

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