Margit Golla vom mobilen Pflegedienst der Caritas muss einen straffen Zeitplan einhalten auf ihrer Tour zu den Pflegebedürftigen.
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Margit Golla vom mobilen Pflegedienst der Caritas muss einen straffen Zeitplan einhalten auf ihrer Tour zu den Pflegebedürftigen.

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Pflegenotstand: "Situation brenzlig"

Die Situation in der Pflege sei brenzlig, warnt DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt. Immer mehr Pflegebedürftige stehen auf der Warteliste für eine ambulante Pflege. Dabei kämpfen die Pflegeteams jetzt schon, um ihre bestehenden Patienten zu versorgen.

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Wasserburg am Inn. Margit Golla vom mobilen Pflegedienst der Caritas ist startklar für ihre heutige Tour: "Wir fangen circa um sieben Uhr an und nach Plan sind wir zwischen halb zwölf und zwölf fertig." Neun Einsätze im Landkreis stehen heute auf ihrem Plan und jeder ist minutengenau getaktet. Das Diensthandy der Pflegekraft zeichnet die Tour auf. Der Zeitplan darf sich nicht verschieben: "Es sind ja teilweise Patienten, die bettlägerig sind, die sind am Vortag zum letzten Mal versorgt worden. Die liegen auch über Nacht dann manchmal in nassen Windeln. Die warten definitiv, dass sie versorgt werden", erklärt Grolla.

Mangelnde Attraktivität des Pflegeberufes

Wie menschenwürdig ist diese Versorgung noch möglich? Die Zahl der Pflegebedürftigen hat sich in den letzten 20 Jahren in Deutschland etwa verdoppelt. Die Zahl der Pflegekräfte sei jedoch bei weitem nicht entsprechend gestiegen, sagt Gerda Hasselfeldt, Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes und ehemalige Bundesgesundheitsministerin. Der Handlungsdruck sei groß, so Hasselfeldt, denn der demografische Wandel und die mangelnde Attraktivität der Pflegeberufe würden in den nächsten Jahren dazu beitragen, dass bereits 2028 in Bayern weniger neu ausgebildete Pflegekräfte auf den Markt kommen als aktive Pflegekräfte in den Ruhestand gehen – bei gleichzeitiger Zunahme an Pflegebedürftigen.

"Es gibt hier keine Patentlösung, keine schnelle Lösung. Aber angesetzt werden muss erstens an der Attraktivität des Berufs, zweitens an der grundlegenden Reform der Pflegeversicherung und drittens am gesellschaftspolitischen Diskurs, der notwendig ist", sagt Hasselfeldt. Zum Beispiel auch darüber, wie wieder mehr soziales, nachbarschaftliches Engagement im Pflegenotstand helfen und finanziert werden könnte. In Landsberg am Lech startet mit der sogenannten Quartierpflege demnächst ein entsprechendes Pilotprojekt.

Versorgungssicherheit in Gefahr

In Wasserburg am Inn steht Margit Golla inzwischen vor der Tür ihres ersten Patienten. Golla wird ihm gleich seine Morgenmedikation geben – dafür sind drei Minuten eingeplant. Als sie klingelt, wartet der Mann schon, Margit Golla ist heute seine erste Ansprache. Bei der knappen Einsatzzeit geht sich nur ein winziger Ratsch aus. Nach genau drei Minuten ist Margit Golla fertig. Sie hat Routine, schließlich macht sie den Job schon seit zwanzig Jahren.

Für ihren nächsten Patienten hat sie ein bisschen mehr Zeit – eine Ganzkörperwäsche. Dafür muss sie den Patienten aus seinem Rollstuhl heben und hat insgesamt eine Dreiviertelstunde Zeit. Allein kann dieser Patient gar nichts mehr machen. Weil der Pflegedienst das niemals stemmen könnte, hat er zusätzlich noch eine 24h-Pflegekraft. Margits Zeit reicht wirklich nur für die gebuchten Leistungen.

Im ambulanten Bereich, sagt Gerda Hasselfeldt, werde die Versorgung schlechter: "Wir erleben, dass Leistungen, die bisher gewährt wurden, abgewählt wurden. Dass beispielsweise nicht mehr morgens und abends die Pflegekraft kommt und damit ist die Versorgungssicherheit in Gefahr, also eine Unterversorgung der Pflegebedürftigen." Ihrer Ansicht nach braucht es eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung: "Die Pflegeeinrichtungen leiden nicht nur unter dem Mangel an Arbeitskräften, sondern sie leiden auch unter der Unterfinanzierung der Pflegeversicherung", so Hasselfeldt.

Akuter Personalmangel

Das knappe Personal muss Pflegedienstleiterin Marina Rotter gut im Blick haben. Vom Büro aus verfolgt sie Tour der ambulanten Pflegekraft und sieht dort, dass Margit Golla bereits die Hälfte ihrer Pflegetour geschafft hat. Fünf Minuten hängt sie inzwischen hinterher – eine verhältnismäßig kleine Abweichung. Heute sei alles im Rahmen, so Maria Rotter. Zeit ist ein knappes Gut, denn die Caritas in Wasserburg kämpft mit akutem Personalmangel. Das Team ist in den letzten Jahren stark geschrumpft – zehn Pflegekräfte sind in Rente gegangen oder haben gekündigt. Nachfolgerinnen gibt es nicht. Die 80 Patienten des Pflegedienstes müssen trotzdem versorgt werden. "Manchmal ist man schon resigniert. Besonders wenn man dann immer bei Mitarbeiterinnen anrufen muss und darum bitten, ob sie einspringen. Weil ich denke, jeder hat's verdient, dass er mal einen Tag freihat." Es sei nicht schön, wenn man dann immer wieder in den Dienst gerufen werde.

Gerade eben hat sich eine Mitarbeiterin krankgemeldet. Rotter braucht Ersatz für die Frühschicht morgen. Aber es gibt nur zwei Kolleginnen, die sie aus der Freizeit holen könnte: "Wenn ich bis 15.30 Uhr keinen Anruf von der Dame erhalte, dann werde ich morgen die Tour fahren, weil ich sonst keinen an der Hand hab, der einspringen kann." Margit Golla ist für morgen schon eingeteilt. Eigentlich arbeitet sie Teilzeit, oft kommt sie aber auf 45 Stunden die Woche. Zum Glück ist ihr Sohn mittlerweile volljährig. Trotzdem belastet das: "Jedes Mal, wenn mein Mann und ich zum Beispiel ausmachen, dass wir einen Ausflug machen, weiß ich eigentlich am Vorabend noch nicht genau, ob das tatsächlich stattfinden kann. Das ist nervig." Diese Unplanbarkeit und Belastung durch Überstunden, die niemals abgefeiert werden können, ist einer der Hauptkündigungsgründe.

Mehr Planungssicherheit für Mitarbeiter

Pflegekräfte brauchen eine verlässliche Dienstplangestaltung – das fordert auch DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt. Durch sogenannte Springerpools könnte beispielsweise vermieden werden, dass Pflegekräfte aus ihrer Freizeit zurückgeholt werden müssen. Die Attraktivität des Berufs müsse gesteigert und die Bedingungen für die Pflegekräfte verbessert werden, zum Beispiel auch eine echte Entbürokratisierung, so Hasselfeldt. Die Entwicklung in der Pflege ist "wirklich brenzlig, wenn wir uns diesen Aufgaben und Herausforderungen nicht stellen", warnt Gerda Hasselfeldt. "Ich hoffe sehr, dass es eine breite gesellschaftspolitische Diskussion über die Zukunft der Pflege in unserem Land gibt."

Margit Golla steuert inzwischen ihre letzte Patientin an: Insulin spritzen, Zucker messen – dafür hat die Pflegekraft hier sechs Minuten Zeit. Am Ende der strammen Schicht wirkt Margit noch immer gelassen: "Ich muss einfach strukturiert und konzentriert arbeiten. Also ich muss in der Früh schauen, dass ich alles, was ich brauche, dabei habe. Und dann bei der Sache bleiben, mich nicht ablenken lassen." Kurz nach zwölf Uhr ist Feierabend für Margit Golla. "Ich bin jetzt froh, dass ich eine Pause machen kann. Dass ich mal einen Schluck trinken kann oder eine Kleinigkeit essen." Vorläufig ist der Arbeitstag zu Ende. Aber das Diensthandy ist an - falls Margit für den Spätdienst einspringen muss, in vier Stunden dann.

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