03.06.2023, München - Zwei Züge von der Baureihe ICE4 im Münchner Hauptbahnhof. 25 Jahre nach dem Unglück von Eschede hat sich viel bei der Sicherheit verbessert. 101 Menschen sind vor 25 Jahren in Eschede beim bisher schwersten Zugunfall Deutschlands gestorben. 105 Personen haben überlebt.
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25 Jahre nach dem Zugunglück von Eschede

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25 Jahre Eschede-Unglück: Welche Lehren hat die Bahn gezogen?

Beim ICE-Unglück von Eschede 1998 sind 101 Menschen ums Leben gekommen, mehr als 70 wurden schwer verletzt. Der Zug war wegen eines gebrochenen Radreifens gegen eine Brücke geprallt. Welche Lehren haben Bahn und Gesellschaft seitdem gezogen?

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 am Samstagvormittag am .

Das ICE-Unglück von Eschede vor 25 Jahren war das schwerste Unglück eines Hochgeschwindigkeitszuges in Europa überhaupt. Dass es dazu gekommen ist, lag an den gummigefederten Radreifen.

Unfallursache von Eschede war ein Defekt an einem Radreifen

Diese Technik aus Straßenbahnen hatte die Bahn für ihre ICE-Züge übernommen, weil dadurch ein störendes Brummen wegfiel, bei dem sogar die Gläser im Speisewagen geklirrt hätten, sagt Professor Markus Hecht, Leiter des Fachgebiets Schienenfahrzeuge an der Technischen Universität Berlin:

Die Entgleisung ist dadurch entstanden, dass einer der gummigefederten Radreifen sich aufgefaltet hat und der Radreifen durch den Waggonfußboden in einem Abteil in der Nähe der Armlehne durchgestoßen ist. Und die sechs Personen, die in dem Abteil saßen, die haben natürlich schon gemerkt, dass es nicht in Ordnung ist, sich aber leider nicht getraut, die Notbremse zu ziehen.

Stattdessen suchten sie den Schaffner. Zu dem Zeitpunkt war noch der vierfache Bremsweg bis zur Unfallstelle da - auf die der ICE mit Tempo 200 zugerast ist. Doch der Schaffner schaffte es nicht bis in das Abteil. Der entgleiste Zug krachte in die Brücke. Die Brücke stürzte auf den Zug. Dabei wurde der Zug regelrecht aufgefaltet.

Während die Triebköpfe nicht beschädigt wurden, waren die übrigen Waggons mit Hunderten von Fahrgästen weitgehend zerstört. Der Landkreis Celle löste Katastrophenalarm aus, rund 2.000 Helfer und Einsatzkräfte verschiedener Rettungsorganisationen holten Tote und Verletzte aus dem Zug. Aber die Rettungskräfte konnten damals schwer zu den Eingeklemmten durchkommen, auch weil die Trennschleifmaschinen der Feuerwehr am Aluminium gescheitert waren.

ICE-Fenster seit Eschede leichter einzuschlagen

Seitdem gibt es zum Beispiel rote Punkte an den Fenstern, damit die von außen leichter eingeschlagen werden können.

Die gummigefederten Radreifen des ICE 1 wurden wieder durch Stahlräder ersetzt, und zwar bei der gesamten Flotte. Seit dem Unfall in Eschede werden im Fernverkehr der Deutschen Bahn keine Räder mehr mit Radreifen eingesetzt, sondern ausschließlich Vollräder.

Häufigere Ultraschallprüfung der Räder und Achsen

Eine weitere direkte Konsequenz war die Einführung und Weiterentwicklung der Ultraschalltechnik, mit der Räder und Radsatzwellen für alle ICE auf Risse überprüft werden, so die Deutsche Bahn. Zudem wurde die Instandhaltung verbessert. Paul Eichinger, der bei der Bahn damals für München verantwortlich war, erinnert sich daran, dass die Untersuchungsintervalle von einer Million Kilometer Laufleistung auf unter 100.000 Kilometer Laufleistung verkürzt wurden. Damit stehen die ICE auch länger in den Instandhaltungswerken, wo sie verschiedene Instandhaltungsstufen durchlaufen, die laut Bahn "von der Laufleistung abhängen und so ein hohes Sicherheitsniveau sicherstellen".

Zusätzliche Sicherung vor Brücken

Unter Brücken sind inzwischen Fangschienen verlegt worden, dass ein Zug bei einer Entgleisung nicht mehr seitlich ausbrechen kann wie in Eschede – das hatte man lange auf Betonschwellen für unmöglich gehalten, berichtet Markus Hecht, Eisenbahningenieur und Professor für Schienenfahrzeugtechnik an der TU Berlin. Aber in Zusammenarbeit mit der Fraunhofer-Gesellschaft sei es gelungen, das zu bewerkstelligen.

Neue Züge sind sicherer geworden dank "Crashmodulen"

In sämtlichen neuen Zügen sind in den Trieb-Köpfen sogenannte Crashelemente verbaut, die die Aufprallkraft zu großen Teilen abfangen können. Bis zu einer Geschwindigkeit von 37 Stundenkilometern bleiben Fahrgäste unverletzt und auch bei höheren Geschwindigkeiten dämpfen sie den Aufprall. Weil für ältere Fahrzeuge Bestandsschutz gilt und Übergangsfristen gelten, dauert es allerdings Jahre, bis sich diese von der EU vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen ausbreiten. Sie gelten allerdings für alle Arten von Nah- und Fernverkehrszügen.

Bad Aibling hätte "zweites Eschede werden können"

Professor Markus Hecht, weist darauf hin, dass beim Zugunglück in Bad Aibling 2016 mit zwölf Toten und vielen Verletzten moderne Züge zusammengestoßen waren. Das habe bei aller Tragik eine weit größere Katastrophe verhindern können, so der Schienenfahrzeugexperte.

"Da waren beide Fahrzeuge mit den Crash-Modulen, wie sie seit 2009 gelten, ausgestattet, und es gab zwar auch Todesopfer. Aber wenn die nach der alten Bauweise gebaut worden wären, hätte es etwa fünfmal so viele Todesopfer geben. Also wir hätten da wirklich ein zweites Eschede gehabt." Markus Hecht, Professor für Schienenfahrzeugtechnik an der TU Berlin

Hersteller hätten sich zunächst teilweise gesperrt, diese Module einzubauen. Seit 2014 sind die Crash-Module aber Vorschrift in den Zügen.

Grundsätzlich neue Sicherheitsphilosophie im Bahnbereich

Eisenbahn-Experte Markus Hecht betont, dass sich neben diesen Verbesserungen die ganze Sicherheitsphilosophie in Europa geändert habe und sich die Bahnen seitdem nicht mehr selber kontrollieren.

Die Deutsche Bahn war bis Eschede noch aus Bundesbahnzeiten her selber für ihre Sicherheit verantwortlich - "als eine Art Staat im Staat", sagt Markus Hecht. Den Fortschritt verdanke Deutschland der EU. "Dadurch ist es jetzt so aufgestellt wie bei der übrigen Industrie. Es gibt Sicherheitsbehörden, die Sicherheitsvorgaben machen und Eisenbahnunternehmen wie die Deutsche Bahn, die sich daran halten müssen."

Veränderte Risikobewertung - nicht mehr auf Unfälle "warten"

Über Jahre war es im Eisenbahnwesen üblich, technische Standards dann zu ändern, wenn es einen Unfall gab. Erst dann wurden Vorschriften angepasst. Diesen Eindruck habe man zwar auch heute noch oft, aber der Schienenfahrzeugexperte Markus Hecht verweist auf theoretische Risikoabschätzung, die zu besserer Prävention führe.

Man könne zwar in keinem technischen Thema auf 100-prozentige Sicherheit kommen. So akzeptiere die Gesellschaft beispielsweise auch Motorradfahren trotz vieler Toter oder Gasanschlüsse in Häusern, obwohl eine Explosionsgefahr besteht. Auf Eisenbahnfahrzeuge bezogen müsse im Vorhinein eine Risikobetrachtung durchgeführt werden. Das verlängere zwar Zulassungsfristen, aber es gebe die Chance, schwere Unfälle bei Eisenbahnen in Zukunft zu vermeiden.

Späte Entschuldigung der Bahn bei Opfern und Hinterbliebenen

Vonseiten der Verletzen und der Angehörigen der Todesopfer wurde oft kritisiert, dass es nach dem Unglück keine Verurteilungen gab und dass sich die Bahn nicht entschuldigt habe. Daran erinnert auch Paul Eichinger von der Bahngewerkschaft. Erst Rüdiger Grupe, zum Zeitpunkt des Unglücks noch nicht im Vorstand der Deutschen Bahn, habe sich erst 20 Jahre später bei den Opfern und deren Angehörigen entschuldigt. " 2018 hat er sich bei den Hinterbliebenen und bei den Verletzten für das Leid, für die Trauer und was da alles geschehen ist, entschuldigt."

Doch viel gelernt hat die Bahn aus Eichingers Sicht nicht. Der Gewerkschafter erinnert an das Zugunglück in Burgrain vor einem Jahr: "Ich kann mich nicht erinnern, dass sich hier die Bahn-Spitze bei den Hinterbliebenen oder bei den Verletzten entschuldigt hätte. Der Hintergrund ist sicherlich auch juristisch zu sehen. Aber Juristerei ist das eine, Moral und moralische Pflicht etwas ganz anderes. Das kommt leider Gottes zu kurz."

Aigner: Unglück ist "in unser Gedächtnis eingebrannt"

Zum Gedenken an das Unglück von 1998 trafen sich bei der offiziellen Gedenkfeier Opfer und Hinterbliebene zum stillen Gedenken am Mahnmal in Eschede. Auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP), Niedersachsens Verkehrsminister Olaf Lies (SPD), Bahn-Chef Richard Lutz sowie die Präsidentin des Bayerischen Landtags Ilse Aigner gedachten der Opfer zum Zeitpunkt des Unglücks um 10.59 Uhr und legten Blumenkränze an der Namenswand der Todesopfer nieder.

Ilse Aigner (CSU) sagte als Vertreterin Bayerns, das Unglück von Eschede habe sich "in unser Gedächtnis eingebrannt". Dass diese "furchtbare Tragödie auch in Bayern unsagbares Leid verursacht hat", sei aber nur wenigen bewusst. Und doch lebten und leben in Bayern unzählige Trauernde, kämen Überlebende traumatisiert nach Eschede zurück. "Denn der Zug fuhr in den Pfingstferien von München aus Richtung Norden", sagte Aigner. Egal, wie groß das Bemühen um Sicherheit und Sorgfalt sei, man werde wohl nie davor gefeit sein, dass solch ein Unglück geschieht.

Fazit: Bessere Sicherheitstechnik bei den Zügen - Probleme bei der Infrastruktur

Die ICE-Züge der ersten Generation sind in der Sicherheitstechnik nachgerüstet worden und es gibt mehrere moderne Baureihen. Inzwischen setzt die Bahn weniger auf Höchstgeschwindigkeit als früher. So ist der ICE 4, der auch Fahrräder zulässt, mit 265 Stundenkilometer nicht mehr ganz so schnell wie der ICE 1 mit 280 Stundenkilometern. 25 Jahre nach dem Unglück von Eschede gilt inzwischen die Schieneninfrastruktur als weitaus riskanter als die Züge, die darauf fahren.

Zugunglück von Eschede
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Zugunglück von Eschede

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