Das Zugunglück von Eschede: Am 3. Juni rast ein ICE mit mehr als 200 km/h gegen einen Brückenpfeiler. 101 Menschen finden den Tod.
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Das Zugunglück von Eschede: Am 3. Juni rast ein ICE mit mehr als 200 km/h gegen einen Brückenpfeiler. 101 Menschen finden den Tod.

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ICE-Unglück in Eschede – Geburtsstunde der Notfallseelsorge

Als am 3. Juni 1998 beim ICE-Unglück von Eschede 101 Menschen starben und etwa 100 weitere zum Teil schwer verletzt wurden, war auch der katholische Seelsorger Andreas Müller-Cyran aus München vor Ort. Es war die Geburtsstunde der Notfallseelsorge.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Es ist kurz vor 11 Uhr, als ein Rad am ersten Wagen des ICE 884 Wilhelm Conrad Röntgen bricht. Der Zug entgleist, sechs Kilometer vor dem Ort Eschede. Andreas Müller-Cyran wird als Notfallseelsorger an den Unfallort berufen – damals eine noch neue Einrichtung. Der katholische Diakon, Rettungsassistent und Psychologe kann sich auch heute noch gut an den Einsatz erinnern. Viele ICE-Waggons lagen durcheinander, erzählt er. Bei seiner Ankunft seien viele Einsatzkräfte "in erster Linie nur noch mit der Bergung von Verstorbenen" beschäftigt gewesen.

Eschede: Notfallseelsorger aus München am Unfallsort

Andreas Müller-Cyran musste in dieser Situation nicht nur die vom Unfall betroffenen Menschen betreuen, sondern auch die Einsatzkräfte. Denn dem Seelsorger war klar: Gerade Letztere könnten durch eine Katastrophe selber mit psychischen Traumatisierungen zu tun haben und psychisch belastet sein, erzählt er heute. Müller-Cyran musste in Eschede einen Weg finden, wie die Notfallkräfte bei dem über mehrere Tage andauernden Einsatz Pausen bekommen, in denen sie zur Ruhe finden.

Der Einsatz in Eschede gilt bis heute als Geburtsstunde der Notfallseelsorge. Seitdem hat sich viel verändert. Betroffene nehmen inzwischen deutlich mehr die psychosozialen Auswirkungen von Katastrophen wahr, Hilfsangebote wurden in den Jahren seit dem Zugunglück ausgebaut. Durch das von Müller-Cyran gegründete Krisen-Interventions-Team in Bayern breitete sich die Idee der Notfallseelsorge in Deutschland und darüber hinaus aus. Heute sind Seelsorger am Ort eines schweren Unfalls oder einer Naturkatastrophe völlig selbstverständlich.

Notfallseelsorge: Nicht gesetzlich festgelegt

Trotzdem ist Müller-Cyran mit der Situation nicht zufrieden: Es gebe keinerlei gesetzlich festgelegten Regelungen. "Die Einsatzkräfte werden von den Trägern in sehr unterschiedlicher Qualität ausgebildet. Auch wenn die Arbeit tagtäglich umgesetzt wird in Deutschland, ist es andererseits so, dass die Grundlage, die Finanzierung, auch die Qualität dieser Arbeit nicht verbindlich geregelt ist."

Katastrophen wie das Zugunglück bei Eschede sind zum Glück nur Ausnahmen. 95 Prozent der Einsätze für Notfallseelsorger finden im häuslichen Bereich statt. Der evangelische Pfarrer Dirk Wollenweber ist seit über 18 Jahren in der Notfallseelsorge tätig. Er und seine Kollegen werden meist von Hilfskräften an den Unfallort gerufen, um Angehörige nach einem traumatischen Erlebnis psychologisch zu betreuen.

Einsatz bei Suizid, Unfällen und vermissten Angehörigen

"Wir werden natürlich auch gerufen, wenn Menschen sich suizidiert haben, um die Angehörigen zu betreuen und als Bindeglied zwischen den Einsatzkräften und den Angehörigen zu fungieren. Wir werden gerufen, wenn große Unfälle passiert sind. Wir werden gerufen, wenn Menschen vermisst werden."

Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger werden meist von den katholischen und evangelischen Kirchen ausgebildet. Die Ausbildung besteht aus rund 100 Unterrichtseinheiten, etwa zu Psychotraumatologie, Psychohygiene, aber auch Kommunikation und Stressbewältigung. Die meisten Notfallseelsorger haben oft einen christlichen Hintergrund, doch die Religiosität der zu Betreuenden spielt keine Rolle.

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