Die Kirche St. Martin in Deggendorf
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Die Kirche St. Martin in Deggendorf

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Wozu noch Kirche? Eine Spurensuche in Gemeinden

Jedes Jahr verlassen mehr Menschen die katholische Kirche. Kürzlich wurde ein neuer Negativrekord bekannt: Mehr als eine halbe Million Menschen traten 2022 aus. Wie haben die Gemeinden das aufgenommen und wozu braucht es die Kirche eigentlich noch?

Über dieses Thema berichtet: Mittags in Niederbayern und Oberpfalz am .

Mehr als eine halbe Millionen Menschen sind 2022 aus der katholischen Kirche ausgetreten. Besonders betroffen sind diejenigen Bistümer, deren Bischöfe dem Synodalen Weg besonders kritisch gegenüberstehen. Das ist beispielsweise im Bistum Regensburg und im Bistum Passau der Fall. Wie gehen Gemeinden in Niederbayern damit um und wie blicken sie in die Zukunft?

Pfarrer aus Deggendorf erschrocken über Zahlen

Mit ernster Miene, aber dennoch freundlich, öffnet Franz Reitinger die Türe zum Pfarrhaus der mitgliedstärksten katholischen Gemeinde des Bistums Regensburg. Rund 7.000 Katholiken zählt die Pfarrei St. Martin in Deggendorf. Aber auch hier sind über 200 im vergangenen Jahr ausgetreten. Seit 2017 ist Reitinger Pfarrer der Gemeinde – seit seiner Amtszeit ist die Pfarrei um gut 1.000 Katholiken geschrumpft.

Er sei immer wieder entsetzt über die Zahlen, sagt er im BR-Interview: "Ich bin immer wieder erschrocken. Zum einen weil wir immer wieder mit dem Ergebnis konfrontiert werden. Das heißt, dass uns einfach per Brief mitgeteilt wird, diese und jene Leute sind ausgetreten. Und zum anderen, dass wir eigentlich kaum Einfluss darauf haben."

Reitinger sieht vor allem die öffentliche Wahrnehmung als Grund für viele Austritte. Außerdem empfindet Reitinger, dass die Gemeinde vor Ort nach wie vor positiv wahrgenommen wird – etwa bei Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen.

Austrittsgründe: Missbrauch und Kirchensteuer

Warum die Menschen ausgetreten sind? Mehrere Pfarrer aus niederbayerischen Gemeinden sehen die Gründe dafür im zu langsamen Aufarbeiten des Missbrauchsskandals und weil sie unzufrieden mit der Kirchensteuer sind. So sei es ihnen in Gesprächen mit den Menschen berichtet worden. Ein reines Imageproblem habe die Kirche allerdings nicht.

Das sieht auch Franz Reitinger so. "Allerdings meine ich auch, dass bei uns einiges reformiert werden müsste." Es gebe viel zu wenig Priester, "da sollte man noch mal genauer hinschauen". Auch der Synodale Weg habe verschiedene Vorschläge gebracht. "Man muss ein bisschen beherzter auf die Reformanliegen hören und vielleicht mehr ermöglichen als manche meinen."

Theologiestudent ringt mit Zölibat

Philipp Schüssler ist Oberministrant in der Pfarrei St. Martin in Deggendorf. Der 20-Jährige studiert Katholische Theologie an der Uni Regensburg. Ob er Priester werden möchte, da ist er sich zurzeit noch unsicher. "Natürlich wartet man schon auf Reformen, das Zölibat ist natürlich was, bei dem man sich überlegt, will man es eingehen", sagt er.

Schüssler sieht das Zölibat selbst als sehr zweischneidig, weil es ein Kriterium sei, bei dem man prüfen könne, ob man bereit ist für diese Berufung Familie aufzugeben oder nicht. "Gleichzeitig werden die Seelsorge-Bereiche für Pfarrer immer größer und man ist dadurch als Priester immer einsamer."

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Der Oberministrant von St. Martin in Deggendorf, Philipp Schüssler.

Hat die Kirche ein Imageproblem?

Viele der befragten Gemeinden unterscheiden die "Institution Kirche" von der eigentlichen Kirchenarbeit in den einzelnen Pfarrgemeinden. Theologiestudent Philipp Schüssler wünscht sich für sich und die junge Kirchengeneration, dass sich die Kirche wieder mehr auf ihre ursprüngliche Aufgabe konzentriert: "Also ihr Kerngeschäft ist es nicht - wie sie es im Moment macht - sich mit sich selber groß zu beschäftigen." Die Kirche biete momentan keinerlei Orientierung, meint Schüssler, dabei sei das doch eigentlich ihre Aufgabe.

Von zwei Altersschichten - die "älteren Semester" und "jungen Erwachsenen", die aus der Kirche austreten - spricht Pfarrer Sebastian Wild aus der Pfarrgemeinde Aldersbach, die zum Bistum Passau gehört. Sebastian Wild wünscht sich wieder mehr Ansehen der Kirche als Raum für Gemeinschaft und Austausch. "Wir haben inzwischen das Problem, dass man beim Stammtisch, oder in Kreisen außerhalb der Kirche beim Thema Glaube teilweise entsetzt angesprochen wird mit Worten: "Was? Du hast noch was mit Kirche zu tun?"

Gemeindearbeit wichtiger denn je

Der Deggendorfer Pfarrer Franz Reitinger will jedenfalls wieder mehr Menschen für die Kirche begeistern. Zum Beispiel durch soziale Aktionen. Er veranstaltet einen regelmäßigen Gottesdienst für Bedürftige, bei dem es gratis Essen gibt. In Deggendorf gibt es außerdem ein Schutzkonzept zur Prävention von Missbrauch. Dabei werde genau beobachtet, wie mit Kindern umgegangen wird. Beispielsweise müssen Gruppenleiter ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen.

Für Reformen setzt sich auch die bundesweite Kircheninitiative "Wir sind Kirche" stark ein. Zu den Mitgliedern zählt Sigrid Grabmeier aus Deggendorf. Sie hofft, dass die Kirche wieder mehr von sich selbst absieht: "Viele Themen der jungen Leute heute kommen meines Erachtens viel zu wenig vor, es wird viel zu sehr darauf geachtet, dass diejenigen, die noch treu sind, nicht verloren gehen."

Austreten und dann wieder eintreten?

Es gibt aber auch Gründe, in der Kirche zu bleiben. Diese Erfahrung haben auch Heinrich Zogler aus Aldersbach bei Passau und seine Frau gemacht. Vor fünf Jahren sind sie aus der Kirche ausgetreten. Jetzt wünschen sich beide wieder mehr Orientierung – und sind wieder eingetreten: "Man zählt nicht mehr zur Gemeinschaft und ist plötzlich Außenseiter. Eigentlich hat sich seit unserem Wiedereintritt geändert, dass wir wieder eine ruhiges Leben führen. Wenn wir mal nicht mehr sind, dann wissen wir, wo wir hingehören", so Zogler.

Er empfand vor allem die Vorstellung, anonymisiert beerdigt zu werden, als ungut. Er kennt niemanden sonst im Umkreis, der wieder eingetreten ist. Für ihn ist Kirche ein sicherer Raum.

Trotz "allem" sieht das auch Sigrid Grabmeier so. Für sie ist Kirche nach wie vor "ein großes Zelt". Vor allem eines ist für sie jedoch unabdingbar: die Gleichberechtigung der Frau "muss schleunigst her" und diese Reform würde auch der Deggendorfer Pfarrer Reitinger begrüßen.

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