Polizisten nehmen zwei Klimaschutzaktivisten der Letzten Generation in Präventivgewahrsam.
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Polizisten nehmen zwei Klimaschutzaktivisten der Letzten Generation in Präventivgewahrsam.

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Verfassungsgerichtshof entscheidet über Polizeiaufgabengesetz

Das Bayerische Polizeiaufgabengesetz soll in Teilen verfassungswidrig sein. Nach Ansicht der Kläger verletzt etwa der Präventivgewahrsam das Grundrecht auf Freiheit. Ist das so? Der Verfassungsgerichtshof wird am Vormittag darüber entscheiden.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Es ist der 12. Juni 2023, kurz vor halb ein Uhr mittags, als bei einem 25-jährigen Mann in Regensburg zwei Kriminalbeamte klingeln. Sie wollen Details zu einer geplanten Straßenblockade. Der Mann ist Aktivist bei der "Letzten Generation" und hat die Blockade über die Medien angekündigt. Kurz darauf kommen zwei weitere Polizisten. Der Mann muss für mehrere Stunden mit auf die Wache. "Ich wollte nicht freiwillig mitgehen. Dann wurde ich aus meinem Haus geschleift, über den Hof. Ich hatte nicht mal Zeit, mir die Schuhe anzuziehen", sagt der Aktivist im Interview mit BR24. Bei einer Straßenblockade rechne er damit, von der Polizei in Gewahrsam genommen zu werden, doch dass es jederzeit bei ihm zu Hause passieren könne, sei sehr unangenehm.

Bayerisches Polizeiaufgabengesetz besonders streng

Solche Fälle hat es in den vergangenen Wochen und Monaten bundesweit immer wieder gegeben. Mehrstündiger Präventivgewahrsam wie beim Regensburger Fall ist zum Beispiel in Berlin möglich. Dort dürfen Menschen maximal 48 Stunden in Gewahrsam genommen werden. In Bayern ist das anders. Bis zu 30 Tage kann der Präventivgewahrsam im Freistaat andauern, der auch noch einmal um einen Monat verlängert werden kann. Vor allem Ende 2022 mussten mehrere Klimaaktivisten wochenlang in Gewahrsam bleiben. Kritiker sprechen sich gegen die Dauer des Präventivgewahrsam im Bayerischen Polizeiaufgabengesetz aus. Dagegen wird geklagt.

Das Polizeiaufgabengesetz (PAG) regelt die Aufgaben und Befugnisse der Polizei im Bereich der Gefahrenabwehr - und damit auch präventive Maßnahmen gegen Personen, die die Rechtsordnung stören oder stören wollen. Darunter fällt auch der sogenannte Präventivgewahrsam. Damit will der Staat im Voraus Straftaten und Rechtsbrüche verhindern sowie drohende Gefahren abwehren. Ein Richter oder eine Richterin muss den Präventivgewahrsam unverzüglich bestätigen.

Rechtsprofessor äußert Kritik am Polizeiaufgabengesetz

Die bayerische Regelung sei einen schweren Eingriff in die Grundrechte, meinen mehrere Kritiker. Im Gespräch mit der Bayern 2 Radiowelt sagt Markus Krajewski, Rechtprofessor an der Universität Erlangen, der Präventivgewahrsam sei zwar ein akzeptiertes Mittel - schließlich sei er vom Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt - dennoch sei der Zeitraum für Gewahrsam unverhältnismäßig. "Wenn der Staat meint, dass da Straftaten begangen werden, dann soll er anklagen in einem öffentlichen Prozess." Gemeinsam mit Studierenden und Kollegen versucht Krajewski, mit einer Popularklage gegen die Regelungen im PAG vorzugehen. Wann darüber entschieden wird, ist noch nicht bekannt.

Fälle von Präventivgewahrsam in Bayern

In den letzten Wochen und Monaten hat die Bayerische Polizei gemäß des PAG gehandelt und beispielsweise immer wieder Klimaschutzaktivisten der Letzten Generation in Präventivhaft genommen. Im November 2022 hatten sich Mitglieder der Organisation zwei Mal binnen Stunden auf einer Hauptverkehrsstraße im Münchner Zentrum, am Stachus, festgeklebt. Zwölf von ihnen wurden für 30 Tage in Präventivgewahrsam genommen. Nur ein paar Wochen später hatte die Bayerische Polizei bei einer weiteren Aktion auf den Autobahnen A9 und A96 Präventivgewahrsam für vier Protestierende beantragt. Ein Richter des Amtsgerichts München lehnte den Antrag allerdings ab.

Zu Beginn der Corona-Pandemie, im Frühjahr 2020, waren nach Angaben des Bayerischen Landeskriminalamtes (LKA) 191 Personen in Präventivgewahrsam genommen worden wegen Verstößen gegen die Ausgangsbeschränkungen. Ein Jugendlicher soll demnach sogar elf Tage in Gewahrsam gewesen sein. Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bayerischen Landtag, die die Anfrage beim LKA gestellt hatten, kritisierte daraufhin, dass die Reform des PAG und insbesondere der bayerischen Regelungen zum polizeilichen Präventivgewahrsam überfällig sei.

"Abstrakt gefährlich" sein reicht für Präventivgewahrsam

Seit einer Änderung im bayerischen Polizeiaufgabengesetz im August 2017 genügt es, eine Person als abstrakt gefährlich einzustufen, um sie in Gewahrsam zu nehmen. In dieser Zeit hatte der SPD-Politiker Markus Rinderspacher eine Anfrage an das Innenministerium gestellt, um zu erfahren, wer wie lang in Gewahrsam genommen wurde. Aus dem Bericht geht hervor, dass die meisten Personen, die von der bayerischen Polizei in dieser Zeit in Präventivgewahrsam genommen wurden, keinen europäischen Pass hatten. Viele der Betroffenen leben in Wohnheimen und Erstaufnahmelagern. Beispielsweise hatte ein Mann angekündigt, dass er sich bei einem negativen Asylbescheid das Leben nehmen und auch seine Familie umbringen wolle. Die Bayerische Polizei hatte ihn daraufhin für 27 Tage eingesperrt.

Kläger: Polizeiaufgabengesetz nicht verfassungskonform

Der Bund für Geistesfreiheit (BfG) hat gegen das Bayerische PAG geklagt. Er fürchtet einen Überwachungsstaat, stört sich am Begriff der "drohenden Gefahr" und der Dauer des Präventivgewahrsams. Denn anders als beim Regensburger-Fall Anfang der Woche werden in Bayern Menschen meist mehrere Tage bzw. Wochen in Präventivgewahrsam genommen.

Die Neuerungen im PAG seien nicht mit der Bayerischen Verfassung vereinbar. Die Münchener BfG-Vorsitzende Assunta Tammelleo kritisiert, dass ein Polizeibeamter bei einer nicht näher definierten Gefahrenlage "meine Post lesen, mein Telefon abhören und meinen PC durchsuchen" dürfe. Das sei eines Rechtsstaats unwürdig.

Rechtsanwalt Rudolf Riechwald, der den BfG im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof vertritt, sieht im Präventivgewahrsam die eklatanteste Verletzung des Grundrechts auf Freiheit der Person. "Ohne konkreten Tatverdacht, ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft ist das grob verfassungswidrig."

Bayerisches Verfassungsgericht entscheidet über Klage

Die Entscheidung zur Klage will das Bayerische Verfassungsgericht am Mittwoch verkünden. Fünf Jahre hat sich der VGH für die Entscheidung Zeit genommen. Die Kläger rechnen sich nach eigenen Worten wenig Erfolgschancen aus, wollen aber die Öffentlichkeit sensibilisieren. Darüber hinaus laufen noch Klagen von Grünen, SPD und Jusos gegen das Polizeiaufgabengesetz. Eine Klage der Linkspartei hatte der Bayerische Verfassungsgerichtshof im vergangenen Jahr abgewiesen.

Wir haben diesen Artikel am 14.06.2023 ergänzt, um deutlicher zu machen, dass ein Gewahrsam wie im Fall des Regensburger Klimaaktivisten vom 12. Juni 2023 nicht nur in Bayern möglich gewesen wäre. Im aktuell zu entscheidenden Fall stören sich die Kläger an bayerischen Besonderheiten im PAG: am Begriff der drohenden Gefahr und an der Dauer des Präventivgewahrsams von bis zu 30 Tagen.

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