Schulze und Özdemir auf dem Podium - davor Polizisten
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Schulze und Özdemir auf dem Podium - davor Polizisten

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"Noch nie erlebt": Entsetzen über Störer bei Grünen-Kundgebung

Polizeikette vor der Bühne, Dauerpfiffe im Publikum: Grünen-Politikerin Schulze zeigt sich schockiert über den Verlauf einer Kundgebung in Chieming. Ihr Appell an CSU und Freie Wähler: kein Öl ins Feuer gießen. Die sehen die Schuld bei der Ampel.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im BR Fernsehen am .

Buh-Rufe, Pfiffe aus Trillerpfeifen, "Hau ab"-Chöre: Die Rede von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir bei der Grünen-Kundgebung im oberbayerischen Chieming geht immer wieder im Protestlärm unter. Vorne im Bierzelt wird zwar heftig geklatscht, hinten aber ist die Stimmung aufgeheizt, zum Teil sogar aggressiv. Ein Teil der 2.500 Gäste stört die Veranstaltung systematisch. Aus Sicherheitsgründen bilden ein Dutzend Beamtinnen und Beamten sogar eine Polizeikette zwischen Podium und Publikum. Als eine BR-Reporterin Leute anspricht, um nach dem Grund für ihren Unmut zu fragen, schlagen einige auf ihr Mikrofon oder pfeifen ihr absichtlich ins Ohr.

Auf der Bühne versucht Özdemir vergeblich, die Lage zu beruhigen. "Man muss nicht unserer Meinung sein", ruft er ins Mikrofon. "Das ist das Schöne an Deutschland, das ist das Schöne an Demokratie." Sein Vorschlag: "Sie lassen mich jetzt reden, und nach der Rede bleibe ich hier. Ich gehe nicht sofort weg und biete an, dass wir gerne unten zusammen reden können." Der Lärm im Zelt aber hält an. Vor dem Bundesminister hatte schon die bayerische Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze versucht, sich Gehör zu verschaffen. "Zu einer Diskussionskultur gehört, dass man einander zuhört", ruft sie in die Menge.

CSU-Bürgermeister: Neue und negative Erfahrung

Dass einige aber am Zuhören überhaupt nicht interessiert waren, hat auch der CSU-Bürgermeister von Chieming, Stefan Reichelt, im Zelt beobachtet. Er zeigt sich zwar erfreut über die überraschend vielen Besucher – wegen des großen Andrangs habe eine ganze Menge draußen bleiben müssen. Aber es habe eben auch "Störer" im Zelt gegeben, denen die politischen Reden völlig egal gewesen seien. "Hauptsache laut, Hauptsache trillern", schildert er am nächsten Tag.

Eine ganz neue und eine negative Erfahrung sei das für ihn. "Weil es ja nicht der Demokratie entspricht", sagt der CSU-Politiker. "Die meisten Störer kannte ich nicht. Die waren mir gestern auch neu, das sind keine Gemeindebürger." Vorab hatte es in sozialen Netzwerken und Chatgruppen Aufrufe gegeben, gegen die Grünen-Kundgebung zu protestieren. Die Polizei teilt mit, zwar sei es sehr laut gewesen, es habe aber keine Sicherheitsstörung gegeben, auch Anzeigen lägen keine vor.

Schulze: "Immer noch schockiert"

Während sich Özdemir am nächsten Tag gelassen zeigt, hängt der Grünen-Spitzenkandidatin Schulze der Vorabend noch nach. "Auch am Tag danach bin ich immer noch schockiert über die Art der Auseinandersetzung", sagt sie dem BR. "Ich habe ja schon öfter im Bierzelt gesprochen. Aber so eine Stimmung und vor allem auch so einen massiven Polizeischutz habe ich noch nie erlebt." Wenn sich die Polizei Sorgen um die Sicherheit des Bundeslandwirtschaftsministers mache, dann sei eine Grenze überschritten, "nämlich die Grenze des politischen Meinungsaustausches und der Diskussionen".

Im Zelt seien auch Familien mit Kindern gewesen, "die wirklich verstört waren, über diesen Lärm und diese Trillerpfeifen". Sie selbst habe sich gesagt: "Ich lasse mich von euch nicht vertreiben." Am Ende hätten die Störer ihr Ziel nicht erreicht: "Denn wir haben unsere Veranstaltung abgehalten, wir haben über unsere Themen geredet."

Grüne appellieren an CSU und Freie Wähler

Und dennoch: Schulze macht sich grundsätzlich Sorgen um die politische Kultur in Bayern und Deutschland, wie sie schildert. "Ich habe ja 2018 schon Wahlkampf als Spitzenkandidatin geführt. Und ich kann ganz klar sagen: Der Ton ist eindeutig rauer geworden." Das sehe sie in den sozialen Netzwerken und merke sie auch bei Veranstaltungen, "dass ein gewisses Aggressivitätslevel von einigen Leuten schon da ist". In einer Demokratie sei es zwar wichtig, hart in der Sache zu debattieren. Bei Beleidigungen, Bedrohungen und Einschüchterungsversuchen aber sieht sie eine Grenze überschritten.

Und hier sieht Schulze auch im Wahlkampf alle demokratischen Parteien in der Pflicht – insbesondere CSU und Freie Wähler, die seit Wochen scharfe Attacken gegen die Grünen formulieren. "Liebe CSU, liebe Freie Wähler, hört auf, Öl ins Feuer zu gießen! Wenn ihr selbst dauernd die Grünen als Insektenfresser betitelt, wie es ja immer mal wieder passiert, dann wundert euch nicht, wenn andere Leute das als Aufforderungen nehmen, aggressiver aufzutreten." Das schade der Diskussionskultur und auch der Demokratie.

Söder: Ampel-Beschlüsse für Stimmung verantwortlich

CSU-Chef Markus Söder sieht die Verantwortung für eine Anti-Grünen-Stimmung aber keineswegs bei sich, sondern bei der Ampel in Berlin. "Ich war gestern Abend in dem Zelt nicht dabei, deswegen kann ich nichts sagen. Generell kann man aber einiges sagen: Die Ampel hat sehr viele Beschlüsse gefasst, einen nach dem anderen, die die Menschen immer tiefer verunsichern." Viele seien sauer. "Und das entlädt sich möglicherweise in Protest. Die beste Lösung wäre schlichtweg eine bessere Politik in Berlin."

Und auch Aiwanger argumentiert, die Grünen hätten, insbesondere mit dem Heizungsgesetz, viel Unmut auf sich gezogen. "Die Menschen fürchten um ihre Häuser, fürchten um die Möglichkeit, heizen zu dürfen, wie sie heizen wollen. Das hat viel Ärger verursacht und hat den Grünen auch viel Ärger eingebracht."

Politologe warnt vor zu starker Polarisierung

Ministerpräsident Söder hat sich schon vor Monaten auf eine Fortsetzung der Koalition mit den Freien Wählern nach der Landtagswahl festgelegt – und ein Bündnis mit den Grünen mehrfach kategorisch ausgeschlossen und sieht in der Partei den Hauptgegner. Der Münchner Politikwissenschaftler Stefan Wurster dagegen warnt davor, alle Brücken einzureißen. Er hält es für entscheidend, dass die demokratischen Parteien generell bereit seien, miteinander zu koalieren und Kompromisse zu schließen. In mehreren Bundesländern koaliere ja beispielsweise die CDU mit den Grünen. Auch in Bayern sei ein schwarz-grünes Bündnis nicht völlig ausgeschlossen, auch wenn nicht sehr wahrscheinlich.

Vom Grundsatz her gebe es diese Möglichkeit zwar noch. "Wenn natürlich über längere Zeit diese Polarisierung oder diese Auseinandersetzung in der Schärfe zwischen den Parteien geführt wird, die eben grundsätzlich eigentlich miteinander koalieren sollten, dann kann das schon zu einem Problem führen."

Im Audio: Störer bei Grünen-Kundgebung in Chieming

Özdemir auf dem Podium
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Özdemir auf dem Podium

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