Ausgabe 2/88 der Zeitschrift "Spuren Suchen", herausgegeben durch die Körber-Stiftung
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Fall Aiwanger: Widersprüche rund ums Flugblatt?

In Mallersdorf wusste man schon lange über die Vorwürfe gegen Hubert Aiwanger Bescheid – durch einen Lehrer, der mit dem Fall seit Jahren offen umgegangen sein soll. Angaben eines früheren Schülers werfen nun Fragen auf, der Lehrer verteidigt sich.

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Es war die Ausgabe 2/88 der Zeitschrift "Spuren suchen" der Körber-Stiftung: Ein gelbes Beiblatt mit einem großen Fragezeichen rief zur Teilnahme am "Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten" auf – mit Preisen im Gesamtwert von bis zu 250.000 D-Mark. Vom Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg im niederbayerischen Landkreis Straubing-Bogen reichte Schüler Roman Serlitzky eine Arbeit ein.

Titel des 30-seitigen Werks: "Letzte Heimat Steinrain? Zur Geschichte des Judenfriedhofs bei Mallersdorf-Pfaffenberg." 67 Jüdinnen und Juden waren dort zwischenzeitlich begraben. Erschossen von SS-Männern, bei einem sogenannten Todesmarsch aus dem Konzentrationslager Buchenwald. Später wurden sie umgebettet. Geblieben ist das "Jüdische Ehrenmal Steinrain", das heute als Gedenkstätte dient. Serlitzky wurde mit der Arbeit 1989 Landes- und Bundessieger.

Teil dieser Arbeit war auf Seite 29 auch jenes rechtsextreme Flugblatt, das 35 Jahre später die bayerische Landespolitik erschüttert. Es war damals unter anderem in der Schultasche des Elftklässlers Hubert Aiwanger gefunden und zunächst ihm persönlich zugeschrieben worden. Mittlerweile gibt sein älterer Bruder Helmut an, das Papier verfasst zu haben.

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Titelbild der Arbeit von Roman Selitzky

Aufruf zu fiktivem Bundeswettbewerb

In der preisgekrönten Schülerarbeit deuten zwei Pfeile auf das Flugblatt: "Als Negativbeispiel, wie sich andere Jugendliche derselben Altersstufe mit dem Dritten Reich beschäftigen, sei nicht verschwiegen ein Flugblatt, das in Schulklos zirkulierte und von der Schulleitung rechtzeitig kassiert wurde." Unüberhörbar sei auch "das Ressentiment gegen diesen Wettbewerb an sich".

Denn das Flugblatt bewirbt einen eigenen, fiktiven "Bundeswettbewerb". Das Thema: "Wer ist der größte Vaterlandsverräter?" Als erster Preis wird "ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz" genannt, vierter Preis ist ein "einjähriger Aufenthalt in Dachau". Zudem ist vom "Vergnügungsviertel Auschwitz" die Rede.

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Seite 29 der Arbeit von Roman Serlitzky mit dem Abdruck des Flugblattes

Flugblatt in Mallersdorf schon lange bekannt

Dass dieses Flugblatt existiert und aus dem Umfeld des heutigen Wirtschaftsministers und stellvertretenden Ministerpräsidenten stammt, bestimmt erst seit wenigen Tagen die Schlagzeilen. In Mallersdorf-Pfaffenberg hingegen sollen der Text und der angebliche Verfasser der Hetzschrift lange bekannt sein. Das erklärt der Historiker und Landwirt Johann Kirchinger im BR-Interview.

Kirchinger ist selbst Freie-Wähler-Mitglied und sitzt im Gemeinderat. Die Schule habe den Fall damals sehr diskret behandelt, erzählt er. Er selbst sei einige Jahrgangsstufen unter den Brüdern Hubert und Helmut Aiwanger auf das Mallersdorfer Gymnasium gegangen und könne sich aus dieser Zeit nicht an das Flugblatt erinnern. "Wir waren weit auseinander", sagt Kirchinger.

Angeblich hat der Lehrer mit dem Flugblatt "geprotzt"

Und doch habe der Fall im Ort die Runde gemacht. Er selbst kenne den Inhalt und die Vorwürfe seit knapp zehn Jahren: "Da gibt es einen pensionierten Lehrer, dessen Name hier auch jeder kennt, und der ist eben seit Jahren herumgegangen und hat damit geprotzt, dass er das einzige Exemplar dieses Flugblattes hat. Und das hat er jedem gezeigt, ob er es nun wissen wollte oder auch nicht." Weiter habe der Lehrer gesagt, "dass sie Hubert Aiwanger damals erwischt haben, wie er rechtsradikales Gedankengut verteilt hat". Ein großes Gesprächsthema – auf der Straße oder an Stammtischen – sei es aber nie gewesen.

Die Frage, ob in den Erzählungen des Lehrers jemals der Name des Bruders gefallen sei, verneint Kirchinger. Der Erklärung von Hubert Aiwanger, nicht selbst Verfasser des Flugblatts zu sein, glaubt er aber. Vor einer Woche gab überraschend der ältere Bruder des Ministers, Helmut Aiwanger, in einem Interview an, Verfasser des Flugblatts gewesen zu sein.

BR-Reporterinnen und -Reporter sprachen in den vergangenen Tagen mit vielen früheren Mitschülern und Lehrern über ihre Zeit mit Aiwanger am Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg Ende der 1980er Jahre. An das Flugblatt haben die meisten keine Erinnerung. Nur ein kleinerer Teil der Befragten war bereit, sich offen zu äußern.

Aiwanger damals einziger Beschuldigter

Dazu zählt auch der pensionierte Lehrer selbst, der weiter anonym bleiben möchte. Nach mehreren Gesprächen bekräftigt er nun seine Erinnerungen und Beobachtungen dem BR gegenüber sogar in einer eidesstattlichen Versicherung.

Nachdem das Flugblatt auf Schultoiletten entdeckt worden sei, habe Hubert Aiwanger im "Vorzimmer des Direktorats als einziger Beschuldigter" gesessen, erinnert er sich. "Mit den später in seiner Tasche gefundenen Flugblättern galt er als überführt." Der Lehrer gehörte damals dem Disziplinarausschuss an. Aus Sicht der damals Beteiligten habe es sich um eine "Ein-Mann-Aktion" gehandelt – und Hubert Aiwanger sei deswegen bestraft worden, erläutert er. "Er war der Verbreiter, der die Flugblätter in den Toiletten ausgelegt hat. Das war unstrittig." Nach Recherchen der SZ bestätigen mehrere Lehrer den Disziplinarfall.

Die Entscheidung, mit seinen Informationen den Schritt in die breite Öffentlichkeit zu gehen, traf der Lehrer nach eigenen Angaben erst im Juni dieses Jahres: Auslöser seien die Aussagen Aiwangers auf der Großdemonstration gegen das sogenannte Heizungsgesetz im Juni in Erding gewesen ("Demokratie zurückholen"). "Wenn ein durch demokratische Wahlen in höchste Staatsämter Gekommener behauptet, Leute wie er müssten die Demokratie zurückholen, dann heißt das, wir hätten keine Demokratie", so der ehemalige Lehrer.

Problem: Keine Zeugen äußern sich

Fragen zum Vorgehen des Lehrers werfen Äußerungen von Roman Serlitzky auf, der als Schüler die preisgekrönte Arbeit verfasst hatte. Dem Bayerischen Rundfunk schildert er: "Der Lehrer hat mich erst vor kurzer Zeit gebeten, einen Zwei- oder Dreizeiler zu schreiben: eine Bestätigung, dass das von Hubert Aiwanger stammt." Doch dies könne er selbst nicht bestätigen, "weil ich das nie wusste".

Weiter erzählt Serlitzky, der Lehrer sei mit dem Flugblatt auch auf Jahrgangstreffen "hausieren" gegangen. "Mir erscheint es so, dass es keine oder nur wenige Zeugen aus dieser Zeit gibt. Oder dass die nicht genannt werden wollen". Es brauche Zeugen, "die den Arsch in der Hose haben, ihre Namen zu nennen". Und die gebe es anscheinend nicht.

Lehrer weist Spekulationen zurück

Mehrfach betont Serlitzky, ihm sei der Verfasser des Flugblatts nie bekannt gewesen. Für seine Schülerarbeit damals habe ihm der Lehrer das Flugblatt zur Verfügung gestellt. "Und zwar nur als Kopie." Das Original habe er selbst nie besessen. "Wir haben das Flugblatt damals aufgenommen, und ich denke auch, dass es für den Wettbewerb vielleicht sogar zuträglich war. Das war natürlich eine knackige Geschichte." Er selbst hätte es von sich aus nicht thematisiert: "Vielleicht bin ich dafür zu konservativ."

Auch die eine oder andere Formulierung in der Arbeit stamme nicht von ihm selbst, sagt Serlitzky. "Zum Beispiel: 'Der braune Sumpf lebt noch.'" Der Lehrer habe den Text damals überarbeitet. Dass das Flugblatt auch in der Arbeit von Serlitzky behandelt wird, sei ihm wichtig gewesen, betont der Ex-Lehrer. Als Beleg dafür, "dass es den braunen Ungeist noch gibt an der Schule".

Spekulationen, er habe den Schüler kürzlich zu einer Anschuldigung Aiwangers drängen wollen, weist der Mann entschieden zurück: "Roman Serlitzky habe ich nur danach gefragt, was er von der Geschichte noch in Erinnerung habe und was er bestätigen könne." An seiner Darstellung der Ereignisse im Schuljahr 1987/88 hält der pensionierte Lehrer weiterhin fest: "Alle, die damals da waren, haben das mitbekommen." Der Fall sei im Lehrerzimmer bekannt gewesen, Aiwanger sei der "Überführte" gewesen. Wer gehofft hatte, Schulunterlagen könnten Licht ins Dunkel bringen, wurde enttäuscht: Laut Kultusministerium sind keine Akten zu dem Vorgang mehr vorhanden.

Im Video: Wie entscheidet Söder im Fall Aiwanger?

Wahlprospekte der Freien Wähler für die Landtagswahl am 8. Oktober
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Wie entscheidet Söder im Fall Aiwanger?

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