Bayerns Ministerpräsident Söder hält trotz der Vorwürfe an seinem Stellvertreter Aiwanger fest.
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Hubert Aiwanger (Freie Wähler) beim Volksfest in Keferloh bei München.

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Aiwanger bleibt: Eine Entscheidung, die keine Ruhe lässt

Eine Woche und einen Tag hat die Flugblatt-Affäre rund um Freie Wähler-Chef und Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger gebrodelt. Noch immer sind viele Fragen offen – aber die Zukunft Aiwangers ist geklärt. Ruhe wird das nicht bringen. Eine Analyse.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

In den Minuten, als es um seine Zukunft geht, ist Hubert Aiwanger (Freie Wähler) da, wo er sich wohlfühlt: beim Volk. Im Keferloher Festzelt marschiert er durch die Menge. Die Blaskapelle spielt, die Menschen klatschen und filmen. "Hubert", ruft einer. Hubert bestellt ein alkoholfreies Bier. Er wirkt gelassen. Es würde ihn wundern, wenn Söder ihn rauswirft, sagt er.

Mehr als 200 Stunden Spekulationen

Seit Tagen wird über die Zukunft von Bayerns stellvertretendem Ministerpräsidenten und Wirtschaftsminister Aiwanger spekuliert, nachdem am Freitag vor einer Woche ein Bericht der Süddeutschen Zeitung über ein Flugblatt herausgekommen war. In diesem wurde bei einem fiktiven Bundeswettbewerb der "größte Vaterlandsverräter" gesucht und ein "Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz" als Preis ausgelobt. Zwar hat Aiwangers Bruder Helmut sich dazu bekannt, das Schreiben verfasst zu haben, aber der Politiker Hubert Aiwanger steht seither in der Kritik, da seine Rolle beim Verfassen und der Verbreitung des antisemitischen Flugblattes unklar blieb. Weitere Vorwürfe wurden gegen ihn laut. Auch ging er, so die Kritik, mit der ganzen Sache nicht transparent und offen genug um.

Mehr als 200 Stunden: Vorwürfe, Gegenvorwürfe und viele Fragen. Und in dieser Gemengelage musste Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) entscheiden: Hält er an seinem Vize fest, oder entlässt er ihn etwas mehr als einen Monat vor der Landtagswahl?

Entlassung wäre "nicht verhältnismäßig"

Pünktlich um 11 Uhr tritt Söder im Prinz-Carl-Palais, nahe der Staatskanzlei, vor die Presse. Seine Miene ist ernst. Die Pressekonferenz war kurzfristig einberufen worden – erst an diesem Morgen. Trotzdem ist für die zahlreich erschienenen Journalisten nicht genügend Platz in dem Saal. Viele Kameras sind vor Söder aufgebaut.

Er holt tief Luft, bevor er ansetzt: "Meine sehr verehrten Damen und Herren", sagt er. "Ich habe eine Entscheidung getroffen." Söder spricht mit ruhiger Stimme. Er liest vom Blatt ab. "Ich habe es mir dabei nicht leicht gemacht. Glauben Sie das mir."

Dass er an Aiwanger festhält, sagt er in keinem Satz. Stattdessen formuliert er: "In der Gesamtabwägung – dass kein Beweis vorliegt, die Sache 35 Jahre her ist, dass seitdem nichts Vergleichbares vorgefallen ist – wäre eine Entlassung aus dem Amt aus meiner Sicht nicht verhältnismäßig."

Söder in der Zwickmühle

Für Söder war die Entscheidung heikel. Einige Beobachter sagen, es sei womöglich die schwerste Entscheidung seiner Regierungszeit gewesen. Die Zwickmühle: Die Beweislage ist dürftig. Was Aiwanger vorgeworfen wird, liegt Jahrzehnte zurück. Aiwanger selbst spricht von "Kampagne" und "Hexenjagd", viele Bürger halten die Diskussion um seine Person ebenfalls für überzogen.

Hätte Söder Aiwanger also entlassen, hätte er ihn womöglich weiter in die Opferrolle gedrängt, und die Freien Wähler hätten kurz vor der Wahl davon profitiert. Hinzu kommt, dass Söder weiter mit den Freien Wählern koalieren möchte.

Gleichzeitig musste sich Söder glaubwürdig von Aiwangers möglichen Verfehlungen distanzieren. Die Kritik an seinem Vize war in den letzten Tagen zunehmend auch zum Druck auf Söder geworden. Aus der Opposition kamen Aussagen wie, dass die Entscheidung zeigen werde, welchen moralischen Kompass die Staatsregierung habe.

Söder musste heute also vor allem eines liefern: eine gute Begründung für seine Entscheidung.

Gründe für die Entscheidung

Gleich zu Beginn betont Söder deswegen: "Ich möchte Sie teilhaben lassen an dem Abwägungsprozess, der am Ende zu der Entscheidung geführt hat." Dann folgen in knapp zehn Minuten vier Gründe, die aus Söders Sicht für Aiwanger sprechen, klar strukturiert: Ja, Aiwanger habe in seiner Jugend schwere Fehler gemacht. Aber er habe sich entschuldigt, distanziert und Reue gezeigt. Beweise gebe es bis heute nicht. Seit der Jugend sei nichts Vergleichbares passiert. Und niemand sei heute mehr so, wie er es mit 16 gewesen sei.

Gleichzeitig betont Söder, dass es kein "Schwamm drüber und weiter so" geben könne. Es sei "Schaden entstanden" und "Glaubwürdigkeit verloren". Aiwanger müsse jetzt Vertrauen zurückgewinnen und das Gespräch mit jüdischen Gemeinden suchen. Aiwanger sehe das genauso.

Im Video: Ausschnitt aus dem Statement von Söder

Ministerpräsident Söder
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Ministerpräsident Söder

Schlussstrich unter der Flugblatt-Affäre?

Es ist der Versuch, das Thema hinter sich zu lassen, nach vorne zu schauen. Söder sagt: "Ich bedauere die Angelegenheit. Damit ist die Sache aus meiner Sicht aber abgeschlossen." Aiwanger sagt: "Ich freue mich, dass wir politisch weiterarbeiten können, und in diesem Sinne arbeite ich für Bayern weiter."

Allerdings, abgeschlossen sein dürfte das Thema noch nicht. Denn noch immer sind viele Fragen offen. Zum Beispiel, warum seinerzeit überhaupt ein Verdacht auf den Schüler Aiwanger fiel. Dessen Antwort heute: "Das entzieht sich meiner Kenntnis."

Opposition will weiter Aufklärung

25 Fragen hatte die Staatskanzlei an Aiwanger verschickt. Seit Freitag lagen seine Antworten vor. Klarheit haben sie nicht gebracht. Mehrfach schreibt Aiwanger: "Mir ist der Vorgang nicht im Detail in Erinnerung", "Das entzieht sich meiner Kenntnis", "An Details kann ich mich nach 36 Jahren nicht mehr erinnern." Der Vorfall sei aber ein "einschneidendes Erlebnis" für ihn gewesen, das "wichtige gedankliche Prozesse angestoßen habe".

Von Bayerns Opposition kommt Kritik. "Hubert Aiwangers Antworten überzeugen nicht", lässt der Spitzenkandidat der FDP, Martin Hagen, mitteilen. Der Spitzenkandidat der Grünen, Ludwig Hartmann, sagt: "Die schwerwiegenden Vorwürfe sind nicht ausgeräumt." Katharina Schulze, die zweite Spitzenkandidatin der Grünen, ergänzt: Söder habe es versäumt, Haltung zu zeigen, Klarheit zu schaffen und Schaden von Bayern abzuwenden. SPD-Spitzenkandidat Florian von Brunn spricht von einem "traurigen Tag für Bayern". Die SPD werde im Wahlkampf umso stärker als "Bollwerk gegen Rechts" auftreten. Die AfD-Spitzenkandidatin Katrin Ebner-Steiner zeigte sich nicht überrascht von der Entscheidung: "Ohne Freie Wähler als Mehrheitsbeschaffer ist Söder machtlos", sagte sie.

Thema dürfte Wahlkampf weiter dominieren

Kommenden Donnerstag gibt es auf Antrag der Opposition eine Sondersitzung des Landtages. Der sogenannte Zwischenausschuss wird sich dann mit der Flugblatt-Affäre beschäftigen. Eine Seltenheit, seit 1951 ist dieser Ausschuss erst sechsmal zusammengetreten, das letzte Mal 2008 zur Finanzkrise.

Kommenden Donnerstag hätte der Ausschuss die Möglichkeit, einen Antrag auf die Abwahl von Aiwanger zu stellen. Damit würde die Opposition den Ball wieder zu Söder spielen – und ihn im Wahlkampf damit weiter unter Druck setzen.

Im Video: Politikwissenschaftler von Lucke - Entscheidung richtig, aber Aiwangers Antworten dürftig

Albrecht von Lucke; POLITIKWISSENSCHAFTLER
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Politikwissenschaftler von Lucke - Entscheidung richtig, aber Aiwangers Antworten dürftig

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