Der russische Präsident vor einem Mikrofon, einen Stift in der Hand haltend
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Wladimir Putin bei einem Treffen mit der Generalstaatsanwaltschaft

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"Spuk der Guillotine": So streitet Russland über die Todesstrafe

Nach dem Terroranschlag in Moskau fordern russische Nationalisten rabiat die Wiedereinführung der Todesstrafe. Der Kreml versucht offenbar, die Debatte zu bremsen, doch die "Verrohung" schreitet voran – nicht zu Putins Gunsten, sagen Experten.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

In Russland gebe es drei Themen von immerwährender Aktualität, schreibt ein russischer Politikwissenschaftler ironisch auf seinem Telegram-Kanal (externer Link): "Die Wiedereinführung der Todesstrafe, die Bestattung von Lenins Mumie und die Absenkung der Benzinpreise." Was die Todesstrafe betrifft, gerät Putin nach dem Terroranschlag in Moskau massiv unter den Druck der öffentlichen Meinung. Gerade seine treuesten Anhänger, die rechtsnationalistischen Kreise, fordern eine drastische Verschärfung der Strafgesetze.

Es ist umstritten, ob diese Radikalisierung im Sinne des Kremls ist: "Eine endgültige Entscheidung darüber würde seinen Handlungsspielraum einschränken und das Regime schwächen", schreibt der Wissenschaftler weiter. "Wer hat andererseits behauptet, dass die Aktivitäten der Regierung während der schrecklichen russischen Wiedergeburt vernünftig und im Einklang mit ihren Interessen stehen müssen?"

Politologe: "Brutalisierung" der russischen Gesellschaft

Politologe Dmitri Michailitschenko sieht ähnliche Risiken für Putin. Er könne kein Interesse am "endgültigen Triumph" der Scharfmacher haben, die politische Tagesordnung sei derzeit eindeutig nicht zu seinen Gunsten, schreibt Michailitschenko auf Telegram. Damit spielt der Experte auch auf die andauernde Debatte über die Einwanderungspolitik an. Kurzfristig rechnet der Politologe nicht mit der Wiedereinführung der Todesstrafe, doch mittelfristig erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, durch die "Verrohung" und "Brutalisierung" der russischen Gesellschaft: "Einen Teil der Gesellschaft setzt diese politische Debatte unter Stress und fördert Ängste, das ist jedoch die Minderheit, obwohl gerade diese Menschen sowohl wirtschaftlich als auch soziokulturell von großer Bedeutung sind."

Regimekritiker Leonid Nikitinsky schrieb in einem Essay für die "Novaya Gazeta" (externer Link): "Politisch ist die ‚Rückkehr‘ der Todesstrafe eine sehr schlechte Idee. Die Reaktion auf Terror mit Terror täuscht nur eine Illusion des Handelns vor, ist eine 'Tarnoperation‘ oder so etwas wie eine Schlaftablette, unter deren Einfluss man die Ankunft des nächsten ‚schwarzen Schwans‘ leicht verpennen kann." Bezogen wird diese Formulierung in Russland oft auf schwer vorhersehbare Krisen im Wirtschaftskontext. "Sie haben die Angewohnheit, in ganzen Schwärmen zu fliegen", schreibt Nikitinsky weiter.

Auch der St. Petersburger Kommunalpolitiker Boris Wischnewski fürchtete für den Fall einer Wiederanwendung der Todesstrafe um die "Beseitigung der Freiheitsreste" (externer Link), ohne dafür mehr "Sicherheit" zu bekommen: "In unserer Geschichte gab es bereits mehrere Beispiele dafür, dass diejenigen, die ein Loch gruben oder zum Graben desselben anspornten, später in genau diesem gesetzlichen ‚Loch‘ landeten, das für andere vorgesehen war", schreibt der Kolumnist in der "Novaya Gazeta".

Gerichtspräsident: "Erhöhte Spannung kein Grund für Härte"

Seit 1996 ist die Todesstrafe in Russland durch eine Entscheidung des damaligen Präsidenten Boris Jelzin "ausgesetzt". Der Oberste Gerichtshof hatte dieses Moratorium am 2. Februar 1999 bestätigt (externer Link) – solange, bis Geschworenengerichte geschaffen würden, was seit 2007 der Fall ist. Gleichwohl hatte das Gericht am 19. November 2009 einen "unumkehrbaren Prozess" zur Abschaffung der Todesstrafe verkündet.

Gerichtspräsident Waleri Zorkin hatte zuletzt am 29. Juni 2022 eine mögliche Wiederanwendung der Todesstrafe als "sehr schlechtes Signal" für die Gesellschaft bezeichnet und dabei der Nachrichtenagentur RIA gegenüber ausdrücklich betont, für alle seine Richterkollegen zu sprechen. Er vertrat die Ansicht, dass die Verfassung geändert werden müsse, falls wieder Hinrichtungen geplant seien: "Die erhöhte Spannung in einer bestimmten historischen Zeit ist kein Grund, ungerechtfertigt und einseitig hart vorzugehen."

Die kremlnahe Nachrichtenagentur RIA Nowosti forderte dagegen in einem aggressiven Kommentar blutige Konsequenzen nach dem Terroranschlag: "Wir hoffen wirklich, dass sich unsere Gesetzgeber vollständig beruhigen, kühlen Kopf bewahren, alles gründlich abwägen, diskutieren und endlich zulassen, dass die Mörder wie tollwütige Hunde gehängt werden." Erstens seien drei Viertel aller Russen Umfragen zufolge dafür, und zweitens gebe es eine "höhere Gerechtigkeit".

Dient die Debatte der Ablenkung?

Putin muss angesichts solcher Stimmungsbekundungen um sein Image als "starker Mann" fürchten, der alles unter Kontrolle hat. Dazu haben seine bisherigen, recht vagen Äußerungen zu den mutmaßlichen Tätern des Terroranschlags nicht beigetragen. Bei einem Treffen mit der russischen Generalstaatsanwaltschaft forderte Putin eine "gerechte Strafe" für die Terroristen, ohne näher zu erläutern, was er damit meint. Gleichzeitig kam er auf die Migrationspolitik zu sprechen, die viele Russen umtreibt, weil Hunderttausende von Arbeitskräften aus Zentralasien das Land am Laufen halten: "Die Situation in diesem Bereich ist für Millionen von Menschen sehr wichtig und beunruhigend und muss unter Kontrolle gebracht werden."

Das russische Wirtschaftsblatt "Wedomosti" will aus der Kreml-Verwaltung erfahren haben, dass es dort "keine einheitliche Meinung" zum Thema Todesstrafe gebe (externer Link): "Man muss die Risiken kalkulieren – ist die Aufhebung des Moratoriums besser als eine lebenslange Haftstrafe?" Die Debatte im Parlament und der Öffentlichkeit diene in erster Linie der "Ablenkung".

Putins Sprecher Dmitri Peskow hatte behauptet, der Kreml nehme an der laufenden Debatte "nicht teil". Das Wirtschaftsblatt "Kommersant" meinte unter Berufung auf Eingeweihte (externer Link), in der Regierung sei das tatsächlich kein Thema, die Rechtsextremen liefen der "Lokomotive mal wieder voraus".

Auch aus dem rechten Lager kommt Gegenwind

Ultra-Nationalist und Blogger Alexander Chodakowski (550.000 Follower auf Telegram) bekannte, dass sein Bauchgefühl "Rache" verlange, warnte jedoch vor Kontrollverlust: "Die christlichsten Zaren Russlands ließen denen, die ihrer Meinung nach die Hinrichtung verdienten, mit der Axt den Kopf abschlagen. Auf dem Roten Platz, dem Ort der Hinrichtung, sind noch heute historische Zeugnisse davon erhalten. Das geschah nicht aus Blutgier, sondern um dem Volk zu demonstrieren, dass es nicht nur vor äußeren, sondern auch vor inneren Feinden geschützt ist. Manchmal landeten nicht nur Volksfeinde, sondern auch sogenannte 'Volksfeinde' auf dem Hackklotz oder am Galgen. Deshalb bin ich dafür, dass dieses Werkzeug nicht in die Hände korrupter und gleichgültiger Beamter gelangen sollte, die es missbrauchen."

Der Präsident habe zwar das Recht auf Begnadigung, müsse "in besonderen Fällen" aber auch die Todesstrafe verhängen können. Chodakowski verwies darauf, dass an der Front täglich Menschen getötet werden: "Deshalb empfinde ich, ein einigermaßen humaner Mensch, nicht das geringste Mitleid mit diesen Kreaturen [Anm. d. Redaktion: den Terroristen], ganz unabhängig von ihrer Religion und Nationalität. Wenn es sich um Russen mit einem seit ihrer Kindheit umgehängten Kreuz am Hals handeln würde, wäre meine Reaktion dieselbe."

"Spuk der Guillotine" als unbeherrschbare Dynamik

Politologe Ilya Graschtschenkow befürchtet bei einer Wiedereinführung der Todesstrafe "stalinistische Repressionen" und Zustände wie in den 1930er Jahren. Er warnte auf seinem Telegram-Kanal vor einer Dynamik, die Putin nicht mehr beherrschen könne: "Ganz generell kann man durch das Thema Todesstrafe seine eigenen Roten Garden und eine 'Kulturrevolution' [Anm. der Red. wie einst unter Mao in China] heranziehen, wo die 'Eliten' dem 'Volksterror' ausgesetzt waren. Für manche mag dieses Bild verlockend erscheinen, aber man sollte nicht vergessen, dass sie mit der Zeit anfangen, jeden auf den Platz zu zerren und mit Stöcken zu traktieren, nicht nur die verhassten Minister und Bürgermeister."

Der "Spuk der Guillotine" schwebe bereits über Russland, urteilte Blogger Dmitri Sevrjukow und verwies auf Telegram darauf, dass in der aktuell populärsten TV-Serie über russische Straßengangs in den 1990er Jahren die Probleme auch "durch Aufhängen" gelöst würden. Die politische Rhetorik und das Denken der Handelnden kreise immer stärker um die Todesstrafe: "Es scheint, dass die Richtung bereits feststeht und die weitere Entwicklung Russlands nicht nur eng mit Wachstumsplänen, sondern auch mit der Todesstrafe verbunden sein wird. Natürlich erfordert die Komplexität der Zeiten eine besondere Härte der Strafe."

Todesstrafe als Hafterleichterung

Der Tod sei für russische Straftäter bisweilen die "mildere" Bestrafung als lebenslange Haft, argumentierte der viel zitierte Blog "Glavmedia" via Telegram. In den entsprechenden Justizvollzugsanstalten werde das Licht in den Doppel-Zellen niemals ausgeschaltet, selbst Gespräche zwischen Ehegatten seien dort verboten. Die Steckdosen seien nur zwischen 7.15 und 8.00 Uhr zum Rasieren benutzbar. Die Handschellen würden nur zum Beten und unter der Dusche abgenommen. Fernsehgeräte seien erst nach zehn Jahren Haftaufenthalt erlaubt: "Übrigens betteln die meisten (...) in den ersten zehn Jahren darum, so schnell wie möglich erschossen zu werden, um nicht länger unter diesem Regime zu leiden, sondern bei vollem Bewusstsein sterben zu dürfen. Jetzt allerdings bitten sie darum, an die Front geschickt zu werden."

Bittere Ironie in den Kommentarspalten

Unter russischen Lesern hält sich der Rachedurst offenbar in Grenzen, was die Todesstrafe in Bezug auf die Terroranschläge betrifft. In den Kommentarspalten überwiegt Sarkasmus: "Sie werden an sich selbst denken und sie nicht wiedereinführen", heißt es da mit Blick auf den Kreml. "Vielleicht wird es [Ex-Präsident Dmitri] Medwedew auf sich nehmen, die ersten hundert Hinrichtungen persönlich durchzuführen? Danach sind dann die anderen dran, jeder sollte mal schießen dürfen", empfahl ein Kommentator mit bitterer Ironie. Plötzlich lösten sich die "Blutgerinnsel" bei allen an der Debatte Beteiligten offenbar gleichzeitig, spottete jemand.

Ein anderer gab zu bedenken, dass es an jedweder Unabhängigkeit der russischen Justiz fehle: "Bevor über die Rückkehr der Todesstrafe gesprochen wird, ist es notwendig, in Russland Gerichte im eigentlichen Sinn zu schaffen, die derzeit nicht existieren, und die erforderliche Anzahl von Kandidaten für Richterämter juristisch auszubilden. Aber derzeit gibt es niemanden, der sie unterrichten könnte, da es nur noch wenige Menschen gibt, die sich mit dem Gesetz auskennen, und diese nicht unterrichten dürfen."

Entlässt Putin Sicherheitschefs?

Der kremlkritische Wladislaw Inosemtsew, Direktor des Moskauer Zentrums zur Erforschung der postindustriellen Gesellschaft, spricht von einem "kolossalen Versagen" der russischen Sicherheitsbehörden, an dem Putin nichts mehr ändern könne und bilanziert: "Die Behörden werden diesen Terroranschlag nicht als Rechtfertigung für ein erneutes 'Anziehen der Schrauben' nutzen können: Es wird keine Wiedereinführung der Todesstrafe geben und eine umfassende Mobilisierung wird eher vertagt als beschleunigt." Die Tragödie werde "einfach vergessen". Allerdings hieß es in der "Moscow Times" auch, Putin plane demnächst einen Personalaustausch an der Spitze des Innenministeriums und der Sicherheitsdienste.

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