Einsatzfahrzeuge vor ausgebrannter Fassade
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Terroranschlag auf Moskauer Konzerthalle

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"Wanne voll Eiswasser": Kritik an Putin nach Terroranschlag

Russische Propagandisten konstruieren abenteuerliche Verschwörungstheorien, um die Ukraine für den Terroranschlag auf eine Konzerthalle mitverantwortlich machen zu können. Kritiker werfen dem Kreml dagegen eine "strategische Fehleinschätzung" vor.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Um Verschwörungstheorien ist Propagandist Sergej Markow nicht verlegen, wenn es darum geht, dem Kreml zu huldigen: "Der Terroranschlag in Crocus City kann nicht von muslimischen Gläubigen verübt worden sein. Er fand im heiligen Monat Ramadan statt, einer Zeit des Fastens und Gebets", schreibt der "Politologe" über das blutige Attentat auf einen voll besetzten Konzertsaal in Moskau, bei dem Dutzende von Zuschauern zu Tode kamen. Für Markow waren bezahlte Terror-Söldner am Werk, die nach ihrer Tat Richtung Ukraine flüchten wollten – eine völlig unbewiesene Mär, die vom russischen Geheimdienst und Putin persönlich in Umlauf gebracht wurde.

Jeder, der Islamisten als Schuldige verdächtige, gehe der amerikanischen CIA auf den Leim, so Markow, der grundsätzlich immer die Ukraine für jede Art von negativen Nachrichten verantwortlich macht. Weil die USA kürzlich Russland öffentlich vor Terrorattacken warnten, witterte der "Politologe" eine Intrige, die Putin "indirekt" eine Mitschuld zuschieben solle.

"Lieber schnell abtrocknen"

So devot äußerten sich bei weitem nicht alle russischen Kommentatoren, ganz im Gegenteil. Blogger Wadim Schumilin hält eine Verantwortung islamistischer Täter für "immer wahrscheinlicher", was für Putin nicht nur "unbequem", sondern auch "eine Zumutung" sei: "Es ist wahrscheinlich unangenehm, sich erst Hals über Kopf in ein großes Abenteuer gegen die verdammten Angelsachsen zu stürzen, wohlgemut den Drachen und Weltbeherrscher herauszufordern, den Ersten Weltkrieg neu aufzulegen – und plötzlich unsanft aus dieser wunderbaren Welt gerissen zu werden. Wir sehen uns in eine Lage zurückversetzt, in der ein paar mittelalterliche Unholde Jagd auf uns machen."

Schumilin forderte Putin auf, "endlich aufzuwachen" und einzusehen, dass Russland selbst "in Flammen" stehe, wobei er offen ließ, ob er damit ethnische oder religiöse Konflikte meint: "Natürlich ist das schlimm. Es ist, als würde man durch eine Wanne mit Eiswasser aus einem wunderbaren Traum geweckt. Ich möchte mich lieber schnell abtrocknen, wegdämmern und auf den Großen Sieg warten."

"Für Kabul ist Russland Teil des Westens"

Für den in London lehrenden Exil-Politologen Wladimir Pastuchow sind die Kreml-Ideologen mit Putin an der Spitze auf ihre eigene Propaganda-Mär hereingefallen, wonach sie gegen den Westen für mehr Weltgerechtigkeit kämpfen: "In Moskau kann Putin den schon halb betäubten Russen erzählen, dass er sich im Krieg mit dem kollektiven Westen befindet. Für Kabul ist er selbst ein Teil dieses Westens, aber gleichzeitig ist er schwach und deshalb besonders widerwärtig." Das gelte auch für Pekings Wahrnehmung. Der Kreml sei einer "strategischen" und somit schwerwiegenden Fehleinschätzung erlegen und habe "kulturelle Codes" falsch gedeutet.

Der Osten betrachte Russland als "Überläufer" und "Abtrünnigen" aus der westlichen Welt und so werde Putin dort, in Zentralasien und dem globalen Süden, auch behandelt, nämlich verächtlich und herablassend, keineswegs wie ihresgleichen: "Das Land wird sich noch tiefer in Richtung Terror und Bürgerkrieg bewegen, und das wird sprunghaft geschehen." Zu den kurzfristigen Risiken gehörten die Wiedereinführung der Todesstrafe, die Wiederaufnahme der Praxis des Entzugs der Staatsbürgerschaft, die teilweise Abschaltung vom Internet, die Einführung des Kriegsrechts und die Beschleunigung einer weiteren Mobilisierungswelle.

"Maßstäbe der Unberechenbarkeit setzen"

Der russische Politikwissenschaftler Konstantin Kalaschew schrieb ironisch: "Früher war es unter Politikexperten üblich zu sagen, dass Putin gern unberechenbar sei. Wenn das der Fall wäre, ist es jetzt an der Zeit, neue Maßstäbe zu setzen." So könne der Kreml einräumen, dass die Ukraine mit dem Terroranschlag nichts zu tun habe und den Krieg "einseitig" beenden.

Putin reagierte jedoch in den ersten Stunden nach dem Anschlag mit keinem Wort, was teils heftig kritisiert wurde: "Der nationale Führer war seit dem Terroranschlag 16 Stunden lang 'offline'. Während seiner Regierungszeit haben viele dieses Merkmal längst bemerkt – das Abtauchen in kritischen Momenten."

Putin: "Durchschlupf auf ukrainischer Seite"

Putin meldete sich schließlich mit einem kurzen "Appell". Wenig verwunderlich, dass er die Ukraine verantwortlich machte, wenn auch vergleichsweise vorsichtig: "Alle vier direkt beteiligten Täter des Terroranschlags, alle, die Menschen erschossen haben, wurden gefunden und festgenommen. Sie versuchten sich zu verstecken und zogen in Richtung Ukraine, wo nach vorläufigen Ermittlungen auf der ukrainischen Seite ein Durchschlupf für sie zum Überqueren der Staatsgrenze vorbereitet wurde."

Der Präsident schien sich selbst Mut machen zu wollen, denn ein islamistischer Terrorakt hätte verheerende innenpolitischen Folgen: "Niemand wird in der Lage sein, in unserer multiethnischen Gesellschaft den giftigen Samen der Zwietracht, der Panik und des Streits zu säen. Russland hat wiederholt schwierige, manchmal unerträgliche Prüfungen durchgemacht, ist dadurch aber noch stärker geworden. So wird es jetzt auch sein."

"So lange wie Moses, aber nicht so erfolgreich"

Der auch im Westen viel zitierte kremlkritische Politologe Wladislaw Inosemtsew ereiferte sich über Putins ziemlich verspätete und ausweichende Reaktion. Die Behörden seien in einer "ziemlich schwierigen" Lage, weil es nicht gelungen sei, das Eindringen und die Flucht der Terroristen zu verhindern: "Putin schwieg in einer Situation, in der sich unter den Menschen schnell das Gefühl eines Mangels an Sicherheit, Vertrauen und überhaupt Machtlosigkeit ausbreitete, das es vielleicht seit den 1990er Jahren nicht mehr gegeben hat. Wieweit sind wir gekommen? Wo können wir mit neuen Schlägen rechnen? Werden sie genauso ungeschoren davonkommen wie gestern?" Das könne zu einer "groß angelegten" Änderung des Meinungsklimas führen, wobei unklar bleibe, in welche Richtung das Pendel ausschlage.

Im Übrigen habe Putin jetzt das Problem, dass er mit Ländern wie dem Iran den Schulterschluss suche, die für islamistischen Staatsterrorismus bekannt seien: "Die Eröffnung einer neuen Front im Kampf gegen den Terror bedeutet nicht nur, vom Ziel der 'Entnazifizierung' der Ukraine abgelenkt zu werden, sondern auch zum Ausgangspunkt zurückkehren zu müssen, von dem aus Wladimir Putin Russland inzwischen fast so lange geführt hat wie Moses, aber nicht so erfolgreich."

"Mit solchen Leuten gegen Europa befreundet"

Thema dürfte auch werden, dass Putin den radikal-islamistischen tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow weitgehend gewähren lässt, um im Kaukasus Ruhe zu haben. Ultrapatriotische russische Blogger schimpfen seit Monaten darüber und sind obendrein über Arbeitsmigranten aus islamischen Nachbarländern Russlands empört.

Ein Blogger mit 52.000 Fans hielt Putins übereilten Verweis auf die Ukraine für einen "sehr großen Fehler". Der Kreml habe Russland mit Waffen geflutet und extrem polarisiert, ja zu einem "Pulverfass" gemacht. Grundsätzlich jeder mit genügend Geld könne aufrüsten und Terroranschläge vorbereiten: "Es ist klar, dass es sich um islamistische Tadschiken und nicht um Ukrainer handelt. Was hat Kiew damit zu tun, und warum sind wir mit solchen Leuten gegen Europa befreundet?"

Auch der von den Russen eingesetzte "Gouverneur" der Krim, Sergej Aksjonow, äußerte sich ungehalten: "Sie werden zu einem Nährboden für extremistische und terroristische Ideologien, in dem ausländische Geheimdienste Vollstrecker für die Umsetzung ihrer kriminellen Pläne finden können. Ich wiederhole: Das Problem ist längst überfällig und überreif, es muss gelöst werden. Unter Berücksichtigung der Realitäten der Kriegszeit. Das ist eine Frage der nationalen Sicherheit." Insofern wäre eine Beteiligung islamistischer Terroristen für Putin in mehrfacher Hinsicht "hochexplosiv".

"Daher bleibt alles, wie es ist"

Polit-Blogger Anatoli Nesmijan (113.000 Fans) analysierte: "Jede Krise ist in erster Linie innenpolitischer Natur. Unsere Krise kommt auch von innen. Das Land hat ein günstiges Umfeld für die Existenz terroristischer Gruppen geschaffen. Die Regierung selbst schürt Hass, die Regierung verübt den grausamsten Terror gegen die Menschen in unserem Land, die Regierung selbst nährt Abtrünnige, die fähig und bereit sind, zu den Waffen zu greifen. Es gilt, grundlegende Probleme zu lösen und nicht an Folgen und Symptomen herumzudoktern." Die "unterbelichteten" Verantwortlichen im Kreml würden das aber kaum verstehen: "Daher bleibt alles, wie es ist."

"Ukraine Zufluchtsort für uns alle"

In russischen Kommentarspalten wird sarkastisch gespottet, die Hauptsache sei ja wohl, dass der Kreml und das Parlament mit einer "dreifachen Polizeikette" abgesperrt seien. Bei der Beerdigung des Regimekritikers Alexej Nawalny seien Hunderte von Sicherheitskräften aufmarschiert, bei einer Moskauer Massenveranstaltung mit 6.500 Plätzen niemand. Kaum jemand glaubt, dass sich die Täter in die Ukraine absetzen wollten, schließlich sei es viel einfacher, nach Kasachstan auszureisen: "Ja, die Ukraine wird zu einem Zufluchtsort für uns alle."

Hohn gab es auch für die Geheimdienst-Behauptung, der Anschlag sei "sorgfältig" vorbereitet worden: "Dann ist es höchste Zeit, den Geheimdienst aufzulösen." Offenbar hätten die russischen Sicherheitsbehörden mal wieder "schlauer als alle anderen" sein wollen: "In einem U-Bahn-Waggon ist immer derjenige, der es getan hat, der Erste und Lauteste, der sich über den üblen Geruch der Luft empört."

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