Joachim Meyerhoff in "Die Vaterlosen": Ein schreiender Mann steht in einem Bühnenbild aus Stäben, die ihn attackieren
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Joachim Meyerhoff in "Die Vaterlosen"

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Kammerspiele: Joachim Meyerhoff brilliert in "Die Vaterlosen"

Eine Gesellschaft im Umbruch, ein zynischer Held und ein schmerzhafter Clash der Generationen: Tschechows Frühwerk sagt erstaunlich viel über unsere Gegenwart. An den Münchner Kammerspielen mit einem großartigen Joachim Meyerhoff in der Hauptrolle.

Da ist er, auf der Bühne der Münchner Kammerspiele, der berühmte Generationenkonflikt: Dieses: "Früher war alles besser!", dieses: "Ich verstehe euch nicht mehr", dieses: "Gegen was muss ich kämpfen, um mich zu befreien?" und dieses: "Was muss ich bekämpfen, um nicht unterzugehen?". Vier Generationen hat die Regisseurin Jette Steckel in Anton Tschechows "Die Vaterlosen" ausgemacht, vier Generationen, denen sie im Programmheft die Begriffe Boomer oder Generation X, Y und Z zuordnet und sie damit auch im Hier und Jetzt verortet.

Talkeinlage der Vätergeneration

Dieser Generationenkonflikt ist eines der Grundmotive, die der 18-jährige Autor in seinem Erstling verarbeitete, der als eine Art ausuferndes Fragment bereits die ganze Hellsicht des Menschenflüsterers Anton Tschechow zeigt. Kein Wunder also, dass das Stück, das eigentlich eher unter dem Namen "Platonow" bekannt ist, in den Münchner Kammerspielen nun unter dem Titel "Die Vaterlosen" gespielt wird, den Tschechow ihm in seinem Tagebuch gab.

Dabei räumt Jette Steckel gerade der Vätergeneration in ihrer Inszenierung einen ganz besonderen Platz ein: Unter dem durchaus komischen Titel "Dad Men Talking" hat sie die würdige Eminenz der deutschen Theaterdramaturgie, den 74-jährigen Carl Hegemann, eingeladen, in jeder Aufführung einen anderen Talkgast seiner eigenen Generation zu empfangen. Was wohl als geistreich pointierter Effekt gedacht ist, entpuppte sich allerdings nun bei der Premiere mit dem ersten Gast, dem eigentlich als radikal bekannten Filmemacher Ulrich Seidl, als eher mau verpuffende Einlage.

Joachim Meyerhoff brilliert als Platonow

Und so steht naturgemäß trotzdem auch in München Platonow im Mittelpunkt, der langsam verblühende Dorfschullehrer, in den sich noch immer die Frauen verlieben. Der bringt in Gestalt von Joachim Meyerhoff mit seiner großartig in Szene gesetzten wechselwendigen Rückgratlosigkeit eine Festnacht durcheinander. Eine Hochzeit ist zu feiern, eine Zwangsversteigerung steht an. Wechsel, Veränderung und Zumutung liegen in der Luft, Hilflosigkeit, Resignation und Scheitern sind die Reaktion. Liebe ist die Sehnsucht, doch die Angst vor ihr stellt sich ihr zugleich in den Weg. Und Platonow, der verzweifelte Zyniker, spricht Wahrheiten aus, wenn er mit anderen redet, Wahrheiten, die eigentlich auch und vor allem ihn selbst betreffen: "Sofia, was ist das denn, dieses ganze Leben? Was ist das denn? Wozu machen Sie denn da so ein Theater? Wer hat Ihnen das Lügen beigebracht? Sie sind ja bis ins Mark verdorben."

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Bernardo Arias Porras, Katharina Bach, Edith Saldanha, Wiebke Puls, Edmund Telgenkämper und Walter Hess in "Die Vaterlosen"

Gemeint sind wir alle mit Fragen wie diesen, wir alle, auch und gerade im Hier und Heute. Und so hat Regisseurin Jette Steckel ihre "Vaterlosen" aus dem Zuschauerraum der Kammerspiele heraus entwickelt. Von dort herauf gibt es immer wieder Auftritte, von dort herauf bringt die Festtagsgesellschaft die Bierkisten und Champagnerflaschen. Dieses herrliche Kammerspiel-Ensemble, um sich dann auf dem schmalen Grat vor dem Eisernen Vorhang in der ersten Stunde dieser insgesamt vierstündigen Aufführung ganz nah zu sein, sich hineinzufinden und zu -fühlen in dieses Stück, das schon virtuos, wenn auch noch etwas mäandernd auf Tschechows Themenklaviatur zu brillieren weiß.

Die Wut der verletzten Frauen

Dann geht der Raum auf und öffnet den Blick auf den von Bühnenbildner Florian Lösche grandios entworfenen Wald aus tausend Fiberglas-Stäben. Und die Menschen rücken in immer größere Ferne zueinander, auch wenn sie sich körperlich manchmal verzweifelt nah sind. Sie suchen und verlieren sich zwischen den Stäben, fallen über sie und gehen krachend zu Boden, zucken zwischen ihnen und tanzen zur auflodernden Musik, so als dehnte sich dieses Stück über seine Dialoge hinaus in den Raum und in den Sound aus, so als formulierte sich sein Schrei nach Leben und nach Liebe in einer Art Gesamt-Bühneninstallation. Und wenn Platonow schließlich verjagt ist, wenn jede einzelne der von ihm verletzten Frauen ihre Wut wunderbar herausgekotzt hat, dann geht das Licht aus über einen Tschechow-Abend, der einem in seiner kruden und komplizierten Schönheit noch lange im Gedächtnis bleiben wird.

Sendungsbezug: "Die Kultur Podcast am 04.06.2023 um 12.12 Uhr"

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