Hügeliges Weideland, von Baumreihen begrenzt, im Vordergrund ein übervoll mit Heu beladener Wagen, gezogen von zwei Pferden, die eine Bäuerin führt.
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Auf einmal nicht mehr die Zukunft: "Kornernte", undatiertes Foto, aus einer Serie "Westfalen 1951-1960" von Bernhard Wübbel (1921-2013).

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Deutscher Sachbuchpreis: "Ein Hof und elf Geschwister"

Eine Jahrhunderte alte Lebenskultur fand plötzlich ihr Ende: In seinem mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichneten Buch "Ein Hof und elf Geschwister" schildert Ewald Frie, wie sich das bäuerliche Leben seit den 1940er Jahren radikal veränderte.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

"Was mich überrascht hat, war, dass meine ältesten vier Geschwister die Landwirtschaft als zukunftsweisend, als etwas, was Chancen eröffnet, gesehen haben", erzählt Ewald Frie im Interview mit dem BR. "Das hätte ich wissen können, habe ich mir aber nicht so deutlich vorgestellt, weil bei mir und den Geschwistern um mich herum die Landwirtschaft gesehen wurde als etwas, was viel Arbeit macht, was aber im Grunde genommen ein bisschen von gestern ist, nicht viel Möglichkeiten bietet und woraus man am besten so schnell wie möglich aussteigt."

Historische Umbrüche an Details illustriert

In seinem mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichneten Buch "Ein Hof und elf Geschwister" blickt der Historiker Ewald Frie aus einer persönlichen Perspektive auf das Thema: Am Beispiel des elterlichen Guts im Münsterland beschreibt er die großen Umbrüche in der Landwirtschaft und der bäuerlichen Lebenskultur in einer Zeitspanne, die sich von der Hochzeit der Eltern 1943 bis in die Gegenwart erstreckt.

Vom Melkschemel zum Fußball

Plastische Details machen deutlich, was es lange Zeit für die Kinder bedeutete, in einem bäuerlichen Familienbetrieb aufzuwachsen: Den Älteren etwa war es nicht möglich, in einen Sportverein einzutreten, denn meistens, vor allem aber zu den Erntezeiten, brauchte man jede Arbeitskraft. Ewald Frie hingegen, das neunte von elf Kindern, durfte, nachdem der technische Fortschritt mit Melkmaschinen und Mähdrescher so manche Hand ersetzt hatte, Mitglied im Fußballverein werden.

Viehmesse: Das "Hochamt der Bullenzucht" als Indikator des Fortschritts

Was auf der einen Seite neue Freiheiten schuf und vor allem auch den Bäuerinnen die Arbeit erleichterte, bedeutete auf der anderen Seite blad erhöhten Konkurrenzdruck für die Bauern: Ewald Frie verdeutlicht das unter anderem am Beispiel der monatlichen Viehmesse in Münster, dem "Hochamt der Bullenzucht", wie er die ritualisierte Verkaufsschau nennt. Die Preise für besonders schwergewichtige Exemplare schnellten plötzlich – und oft aus schwer nachvollziehbaren Gründen – in schwindelerregende Höhen.

Züchter mit weniger leistungsstarken Tieren gerieten ins Hintertreffen. In den 1950er und 60er Jahren konnten kleinere Höfe bald nicht mehr mit der zunehmend technologisierten Landwirtschaft mithalten. Allerdings sah ein mittlerer Hof, wie der von Ewald Fries Eltern, in den neuen Möglichkeiten eine Chance, konnte durch gepachtete Ländereien expandieren und – zumindest vorerst – überleben.

Bildungsexpansion ermöglicht neue Lebenswege

Parallel zu den erheblichen Umbrüchen in der Landwirtschaft erzählt das Buch am Beispiel der verschiedenen Ausbildungswege der Geschwister von Ewald Frie auch ein Stück Bildungsgeschichte der jüngeren Bundesrepublik. Einschneidend war die Einführung des BAföG im Jahr 1971 – der staatlichen Unterstützung für Schulbildung, Ausbildung und Studium.

"Für unsere Familie bedeutet das, dass, während in der Generation meiner Eltern alle Geschwister eine landwirtschaftliche Ausbildung bekamen, jetzt auf einmal für meine Geschwister und für mich eine Ausbildung jenseits der Landwirtschaft möglich und zumindest von meiner Mutter auch gefördert wurde – mit der Idee, es solle möglich sein, selbstbestimmt den Platz zu suchen, der für mich der Beste ist."

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Ewald Frie

Interviews mit den Geschwistern und "Hofarchiv"

Das besondere Leseerlebnis des Buchs von Ewald Frie besteht in den amüsanten Szenen, in denen die Geschwister als Komplizen oder zumindest Insider der bäuerlichen Lebenskultur auftauchen: Etwa, wenn sie in der Schule dem Lehrer die Namen der elterlichen Kühe vorlesen mussten und dieser das dahinterliegende System der Abstammungsstruktur der Tiere nicht verstand. Für seine Recherche führte Frie nicht nur ausführliche Gespräche mit seinen Geschwistern, sondern durchforstete auch das "Hofarchiv", wie es im Quellenanhang des Buchs heißt: mehrere Kisten mit Dokumenten, darunter Protokollbücher des Vaters über die Milchleistung der Kühe.

"Dieses 'Hofarchiv', wenn man die Kisten so nennen will, beinhaltet das, was früheren Generationen wichtig gewesen ist, es aufzubewahren", erklärt Ewald Frie. "Das Interessante ist, dass das eigentlich die Übergabeprotokolle sind oder die Verträge, die zwischen Eltern und Kindern gemacht worden sind. Die Hofübergabe ist das große Thema auf dem Land, weil da über die Zukunft aller Beteiligten entschieden wird und über deren Art von dem Hof zu profitieren, von ihm zu leben, sich auf ihn zurückziehen zu können, wenn andere Sachen nicht klappen."

Verlust und Gewinn unsentimental abgewägt

Die Absicherung der verschiedenen Generationen durch Übergabeverträge geht auf Zeiten zurück, in denen die kommunale Armenfürsorge gerade für Bauern nicht einsprang. Sämtliche Familienmitglieder mussten sich daher alles selbst erwirtschaften – auch Rücklagen für Notfälle, Krankheiten, Alter. Heute befindet sich das 'Hofarchiv' auf dem Gut in der alten Bauernschaft bei Nottuln, das der älteste Bruder übernommen hat. Er ist bereits in Rente.

Eine weitere Besonderheit des Buches liegt im weiten Fächer der unterschiedlichen Perspektiven von elf Geschwistern auf den nachhaltigen Transformationsprozess der Landwirtschaft und der bäuerlichen Lebenskultur. Bei all dem Verlust und Gewinn einer jeden Generation sorgfältig darzustellen und völlig unsentimental abzuwägen, ist das große Verdienst von Ewald Frie.

Ewald Frie: "Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland" ist bei C H Beck erschienen, 192 Seiten, 23 Euro.

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