Familienministerin Lisa Paus mit Kanzler Scholz bei der Kabinettssitzung am Mittwoch
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Familienministerin Lisa Paus mit Kanzler Scholz bei der Kabinettssitzung am Mittwoch

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Veto in Berlin: "Erpressung" oder nur ein weiterer Ampel-Streit?

Das Veto gegen Lindners Wachstumspaket hat heftige Reaktionen hervorgerufen: Die FDP sieht darin Erpressung - die grüne Ministerin Paus dagegen einen Verteilungskonflikt. Die Union wittert Regierungsunfähigkeit, die Wirtschaft einen "Cannabis-Nebel".

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Nach der Sommerpause sollte alles besser werden, das hatte sich die Ampel-Koalition vorgenommen. Weniger Streit, dafür mehr Geschlossenheit wollte man zeigen und - wie es Kanzler Scholz formulierte - "weniger laut, aber weiter mit Ergebnissen" regieren.

Lange gehalten hat dieser Vorsatz nicht: Gleich in der ersten Kabinettssitzung kam der Rückfall in den Hickhack, wie beim Gerangel um das Gebäudeenergiegesetz: Familienministerin Lisa Paus (Grüne) blockierte ein Gesetz mit Steuererleichterungen für Unternehmen von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und forderte mehr Geld für die Kindergrundsicherung.

Milliarden-Entlastungen für Wirtschaft in der Warteschleife

💬 Mitdiskutieren lohnt sich: Die folgende Passage hat die Redaktion aufgrund der Kommentare des Nutzers "Perry" im Rahmen des BR24 Projekts "Dein Argument" ergänzt.

Lindners Wachstumschancengesetz sieht rund 50 Steuererleichterungen für Firmen vor, mit denen die Wirtschaft jährlich um etwa 6,5 Milliarden Euro entlastet werden soll. Eines der Kernelemente ist eine vorgesehene Prämie für Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen. Ein weiterer zentraler Punkt des Gesetzesentwurfs (Stand 14.08.23) ist eine Stärkung der steuerlichen Forschungsförderung, also dem Anteil der Steuergelder, die in die Forschung fließen.

Ebenfalls geplant ist eine Verbesserung des steuerlichen Verlustabzugs - also die Möglichkeit, Verluste aus vergangenen Jahren mit zukünftigen Gewinnen zu verrechnen - und die Anhebung der GWG-Grenze (geringwertige Wirtschaftsgüter, etwa Computerzubehör oder Büromöbel) von 800 auf 1.000 Euro. Lindner und seine Liberalen wollen so die Konjunktur ankurbeln. 💬

Schwelender Streit um die Kindergrundsicherung

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte noch eine Ergänzung an dem Wachstumspaket durchgesetzt und signalisierte danach seine Zustimmung. Es gebe "große Einigkeit", versicherte Habecks Sprecherin.

Die Familienministerin jedoch blockierte im Kabinett das Vorhaben. Man könne nicht so viel Geld in die Wirtschaft stecken, aber nicht mehr in die Kindergrundsicherung für Familien mit geringen Einkommen, argumentierte Paus.

Der Streit um die finanzielle Ausstattung der Kindergrundsicherung schwelt in der Ampel schon lange. Vor allem die Grünen wollen durchsetzen, dass Leistungen erhöht werden. Dafür reicht das von Lindner bisher bewilligte Geld ihrer Meinung nach nicht aus.

"Erpressung" oder nur "Verteilungskonflikt"?

Nach der Blockade durch Paus witterte die FDP daher politische Erpressung. Paus wies das zurück: "Ich halte nichts davon, wirtschaftliche Unterstützungsmaßnahmen oder höhere Verteidigungsausgaben gegen mehr Mittel für armutsbedrohte Familien auszuspielen", sagte sie der "Welt". Als Familienministerin trete sie "selbstverständlich für Familien ein. "Verteilungskonflikte" seien ganz normal.

FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai warf Paus dagegen vor, sie tue genau das, was sie anderen vorwerfe und spiele Soziales gegen die nötige Unterstützung für Deutschlands Wirtschaft aus.

Der Kanzler verspricht eine Lösung noch im August

Die SPD versuchte, den Konflikt herunterzuspielen. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) bestritt, dass es überhaupt eine Meinungsverschiedenheit gebe: "Ich stelle keinen Ärger in der Bundesregierung fest", sagte sie in Hessen.

So weit ging Kanzler Scholz nicht, versprach aber, den Dissens rasch beizulegen. Das Wachstumschancengesetz werde bei der Kabinettsklausur in Meseberg Ende August beschlossen, versicherte Scholz auf dem NRW-Unternehmertag in Düsseldorf. Die Tage bis dahin werde man nutzen, um das Gesetz "noch ein bisschen schöner zu machen".

In Meseberg soll sich auch Streit um Kindergrundsicherung klären

In Meseberg will Scholz dann auch gleich einen Schlussstrich unter den Streit um die Kindergrundsicherung ziehen: Er hatte Paus bereits vor ihrem Veto aufgefordert, bis Ende August hierzu einen geeinten Gesetzentwurf vorzulegen. Dieser sei "in den letzten Zügen", versicherte Paus Anfang der Woche.

Im Finanzministerium geht man davon aus, dass in Meseberg auch das Wachstumspaket durchgeht - vielleicht erweitert um Maßnahmen für mehr Wohnungsbau. Es habe schließlich "keinerlei inhaltliche Einwände, von keinem Ressort" gegen den Gesetzentwurf gegeben. Hintergrund der Paus-Blockade sei nur der Streit um die Kindergrundsicherung.

Die Liberalen fordern eine "gemeinsame grüne Position"

Was im Finanzministerium aufstößt, ist auch, dass die Grünen nicht mit einer Stimme sprechen. "Der grüne Koalitionspartner ist nun gebeten, intern seine Prioritäten zu klären und eine gemeinsame grüne Position in die Koalition einzubringen", so der Appell. "Dass ein Koalitionspartner intern so unterschiedliche Auffassungen bei einer so zentralen Frage hat, macht mich sprachlos", erregte sich FDP-Fraktionschef Dürr.

Unterstützung für Paus vom linken Flügel

In der Tat hatte Habeck dem Wachstumsgesetz zugestimmt, Außenministerin Baerbock sagte nichts - und Paus entschied sich für Blockade, wofür sie Unterstützung vom linken Flügel ihrer Partei erhielt.

"Wer Geld für Steuersenkungen für Unternehmen hat, hat doch wohl auch Geld für Kinder in Armut, oder?", sekundierte etwa die Chefin der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich. Die Geschäftsführerin der Bundestags-Grünen Irene Mihalic erklärte, wenn es Geld für wirtschaftliche Impulse gebe, müsse "auch Geld für diejenigen da sein, die es am dringendsten benötigen".

Aus der SPD-Fraktion kam hingegen Unterstützung für Lindner: "Das Verschieben des Gesetzes ist für mich nicht nachvollziehbar. Die Wirtschaft braucht jetzt Maßnahmen", sagte Fraktionsvize Verena Hubertz dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

FDP: Grüne verhindern Impulse für Unternehmen

Immerhin bleibt der ganz große Koalitions-Krach aus, solange die fünfköpfige grüne Ministerriege nicht geschlossen gegen das Wachstumspaket Stellung bezieht. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai warnte dennoch, "die innere Zerstrittenheit der Grünen" verhindere "essenzielle wirtschaftliche Impulse für Deutschland.

Aus Lindners Finanzministerium hieß es, wenn die Familienministerin mehr als die geplanten zwei Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung haben wolle, müsse sie Vorschläge zur Gegenfinanzierung machen und bedenken, "dass alle sozialen Ausgaben ein starkes wirtschaftliches Fundament benötigen".

CSU diagnostiziert "geballte Regierungsunfähigkeit"

Aus den Reihen der Union wurden die Meinungsverschiedenheiten als fehlende Regierungsfähigkeit interpretiert. "Offensichtlicher kann man geballte Regierungsunfähigkeit und mangelnden gemeinsamen Regierungswillen kaum zur Schau stellen", sagte der Vorsitzende der CSU-Abgeordneten im Bundestag, Alexander Dobrindt, der "Augsburger Allgemeinen".

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann nahm den Kanzler in die Pflicht, nun Führungsstärke zu demonstrieren. "Die Bürger und Unternehmen erwarten völlig zu Recht vom Bundeskanzler, dass er endlich die Führung übernimmt, die er versprochen hat, und unser Land nach vorne bringt", sagte Linnemann.

Wirtschaft entsetzt über "Blutgrätsche" gegen Lindner

Vertreter der Wirtschaft äußerten sich entsetzt über die Verzögerung des Wachstumspaketes. "Damit hat Familienministerin Lisa Paus der grünen Regierungsbeteiligung ein unglaubliches Eigentor geschossen", erklärte Marie-Christine Ostermann, Präsidentin des Verbandes "Die Familienunternehmer". Das alles sei eine "Blutgrätsche gegenüber dem Finanzminister".

In der "Rheinischen Post" erklärte Ostermann, die Ampel benötige "dringend einen echten Neustart". Bei der Kabinettsklausur in zwei Wochen müsse der Kanzler "Ruhe in seine chaotische Mannschaft bringen".

Unternehmer wähnen die Ampel im "Cannabis-Nebel"

Ähnlich äußerte sich der Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft. Während Deutschland in eine Rezession rutsche, leiste sich "die Bundesregierung einen Kampf persönlicher Eitelkeiten einzelner Minister", so der Vorsitzende der BVMW-Bundesgeschäftsführung, Christoph Ahlhaus.

"Dieser Bundesregierung scheint die Legalisierung von Drogen wichtiger zu sein als die Rettung unseres Wohlstands und damit des sozialen Friedens", meint er mit Blick auf die Cannabis-Pläne: "Wenn der Cannabis-Nebel verraucht ist, sollte der Bundeskanzler endlich von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen."

Paus: Gesetzentwurf liegt Kanzleramt vor

Familienministerin Lisa Paus betont inzwischen, sie habe den Gesetzentwurf zur Kindergrundsicherung inzwischen dem Kanzleramt und dem Finanzministerium vorgelegt. "Die Kindergrundsicherung wird kommen. Der Gesetzentwurf ist mittlerweile im Vorhabenclearing und liegt dem Bundeskanzleramt und auch dem Bundesfinanzministerium vor", sagte die Grünen-Politikerin dem Nachrichtenportal "The Pioneer". "Wie vom Kanzler gewünscht, habe ich unterschiedliche Varianten vorgelegt."

Paus hatte bereits der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» gesagt, dass der Gesetzentwurf von ihrer Seite aus fertig sei. Sie zeigte sich zuversichtlich, dass es bis zur Kabinettsklausur Ende des Monats eine Einigung geben werde.

Mit Informationen von dpa

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