Autofriedhof Butscha: Fliehende Zivilisten wurden gezielt v. russischen Scharfschützen getötet, tote Insassen tagelang im Wagen liegen gelassen.
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Autofriedhof Butscha: Fliehende Zivilisten wurden gezielt v. russischen Scharfschützen getötet, tote Insassen tagelang im Wagen liegen gelassen.

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Plötzlich Krieg: Gewaltexzesse in den Vororten von Kiew

Der Kiewer Vorort Butscha wurde zum Inbegriff der Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine. Einen Monat lang haben russische Soldaten die Bewohner terrorisiert und gezielt Zivilisten gefoltert und erschossen.

Über dieses Thema berichtet: Radiofeature am .

Lidija Nikolajewna und Anna Wassiljewna sind Nachbarinnen. Sie wohnen seit mehr als 40 Jahren in der Jablunska Straße in Butscha in gegenüberliegenden Häusern. Die beiden hochbetagten Frauen trafen sich nach dem Mittagessen immer vor dem Gartentor auf der Straße, wo sich weitere Nachbarinnen dazugesellten – eine kleine Infobörse in Butscha. Der russische Angriff auf die Ukraine bereitete ihr ein Ende.

Besetzung von Butscha durch russische Truppen

Butscha wurde nur wenige Tage nach Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 eingenommen und fiel einen Monat lang unter Besatzung. "Die Soldaten haben die Fensterscheiben mit Maschinengewehren eingeschlagen", erzählt Lidija Nikolajewna, "als ich das Klirren der Scheiben hörte, bin ich rausgelaufen. Warum macht ihr das hier?", stellte sie die Soldaten zur Rede und ließ dabei fallen, dass sie selbst Russin sei. "Wir sind gekommen, um sie zu befreien", hätten die Soldaten doch glatt geantwortet. Lidija Nikolajewna stellte daraufhin erst einmal klar, dass sie von russischen Soldaten weder befreit werden wollte noch musste. "Ins Haus!", herrschte sie daraufhin ein Kommandeur an. "Ziehen Sie sich an und hauen Sie ab."

Lidija Nikolajewna konnte ihr Haus aber nicht räumen. Ihr Mann, erzählt sie, habe nahezu gelähmt im Bett gelegen, kurz vor der russischen Invasion hatte er einen Infarkt erlitten. Wutschnaubend sei der Kommandeur ins Haus gegangen und habe im Schlafzimmer, wo ihr Mann reglos im Bett lag, wild um sich geschossen. "Selbst im Fenster sind zwei Löcher." Dann kam er wieder raus: "Halt den Mund und verschwinde sofort ins Haus. Wenn ihr leben wollt, lasst euch hier nicht mehr blicken." Einen Monat, fügt Anna Wassiljewna hinzu, hätten sie verschreckt und völlig verdreckt in ihren Häusern ausgeharrt, die zu kalten Höhlen geworden waren. Die Wasser- und Gasleitungen hatten die Russen gezielt zerstört.

Die vorgebliche Befreiung endet in wahllosen Exekutionen

Viele Nachbarn der beiden Frauen haben die russische Okkupation nicht überlebt. "Hier vor diesem Haus saß ein Scharfschütze", erinnert sich Lena, eine junge Frau mit verweinten Augen, und zeigt auf ein von Schüssen durchsiebtes Gartentor. "Wir sind auf die Straße gegangen, um Wasser zu holen. Es war wie eine Safari. Mein Sohn schaut sich um und schon fliegt ihm eine Kugel am Kopf vorbei." Lena zittert am ganzen Leib, während sie erzählt. "Hier an der Kreuzung wurde unser Nachbar erschossen. Die Fotografie von ihm ging um die Welt. Er ist beim Fahrradfahren erschossen worden, unser Nachbar, Volodymyr."

Lena und ihr 17-jähriger Sohn konnten durch einen sogenannten "grünen Korridor" evakuiert werden – nicht ohne, dass die russischen Soldaten allen Zivilisten an einem Kontrollposten die elektronischen Geräte abknüpften. Für Eltern von kleinen Kindern war die Okkupationszeit eine noch schwierigere Herausforderung. Wie erklärt man ihnen Schüsse und Artilleriedonner? "Es war ein bisschen wie ein Spiel", sagt der Schriftsteller Sjargej Prylutzkij. "Während der zwei Wochen, die wir unter der Okkupation gelebt haben, versuchten wir, ihnen heile Welt vorzuspielen. Wir haben jede Hysterie vermieden und uns stattdessen heiter und ausgelassen gegeben, alles wird gut, alles in Ordnung. Um ihnen nicht zu zeigen, wie beschissen es ist."

Alltag im Krieg

Ukrainer haben inzwischen bewundernswerte Widerstandskräfte entwickelt. Sie lassen sich von Putins Bombenterror nicht beirren, gehen ins Theater, besuchen Ausstellungen und halten ihren Alltag so gut es eben geht aufrecht. Das ist wichtig, es stärkt die Gemeinschaft, den Willen, sich zu verteidigen. "Wenn wir uns hier um sechs Uhr abends bei Kerzenlicht versammeln und Uno spielen", sagt Evgen Spirin, "entsteht da eine Kraft, psychologisch hilft das. Hinter den Fenstern pfeifen Raketen, die Sirenen heulen, aber wir spielen Uno. Wir sind alle zusammen, alles ist gut."

Evgen war einer der freiwilligen Totengräber in Butscha. Er ist eigentlich Chefredakteur des Online-Magazins "Babel", aber der Krieg verlangt von jedem Spontaneität und Elastizität. Jeder, sagt Evgen, wisse, was er zu tun habe. Und in Butscha gab es viele Leichen, aber kaum jemanden, der sie würdig beerdigt. Die ukrainische Zivilgesellschaft beeindruckt durch ihren unermüdlichen Einsatz. "Das Böse tritt hier ja nicht zum ersten Mal auf", gibt Elena, Evgens Frau zu Bedenken und macht eine Handbewegung als wolle sie diesen unfassbaren Krieg mitsamt seinen Gräueln in einem Schwung wegwischen. "Es hat ein ganz normales Gesicht, zwei Beine und zwei Hände. Es ähnelt Dir selbst. Aber es ist etwas ganz Anderes."

Das Bayern 2 radioFeature zum Thema finden Sie hier: "Der Totengräber von Butscha - Stimmen aus einer geschundenen Stadt"

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