Lehrermangel an Bayerns Schulen: Das Problem ist seit Jahren bekannt, keine Maßnahme des Kultusministeriums hat wirklich geholfen.
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Lehrermangel an Bayerns Schulen: Das Problem ist seit Jahren bekannt, keine Maßnahme des Kultusministeriums hat wirklich geholfen.

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"Es reicht!": Warum immer weniger Menschen Lehrer werden wollen

Gesundheitsprüfung, Burnout, Druck von oben: In Bayern sind laut BLLV aktuell 4.000 Lehrerstellen unbesetzt. Neue Lehrer kommen kaum nach. Die Not ist groß: In einigen Fällen berichten Lehrer sogar davon, dass sie Noten erfinden müssten.

Über dieses Thema berichtet: BR24 Infoblock am .

"Es ist ganz klar: Wir haben viel zu wenig Kolleginnen und Kollegen. Das geht nicht spurlos an uns vorbei. Das führt dazu, dass Kollegen aufgrund der Überbelastung nach einem Jahr zusammenbrechen und dann auch noch ausfallen", sagt eine junge Lehrerin aus München. Wir nennen sie Alexandra Müller, sie möchte anonym bleiben.

Sie ist seit fünf Jahren im bayerischen Schuldienst. Derzeit ist sie mit ihren Nerven und ihrer Kraft am Ende. Und sie ist nicht alleine. Sie sorgt sich aber nicht nur um ihre Kollegen an der Mittelschule, sondern besonders auch um ihre Schülerinnen und Schüler. Ihnen kann Alexandra Müller nicht mehr gerecht werden. Für die junge Lehrerin ist dies das Schlimmste.

"Viele hören nach dem Referendariat wieder auf"

Der Schulalltag ist für junge Lehrkräfte oft abschreckend. Referendare, die frisch an eine Schule kommen, sind häufig überfordert. Davon berichtet auch eine junge Lehrerin aus Bayreuth. Wir nennen sie Steffi, auch sie möchte unerkannt bleiben. Steffi sagt: "Das Studium bereitet absolut nicht gut darauf vor." Der Lehrermangel macht auch und im Besonderen den Referendaren zu schaffen. Sie müssen Lücken füllen - mehr unterrichten als eigentlich vorgesehen - Klassenlehrerfunktionen übernehmen.

Das hat auch Steffi erfahren. Sie selbst wird sich nach ihrer Lehrerausbildung eine Auszeit nehmen. "Mich schreckt es ab, ein Leben lang im Beamtenverhältnis zu sein. Das ist wie in einem Korsett." Viele andere Referendare fühlen und handeln ähnlich, ein Großteil hört sogar ganz auf. So gehen viele ausgebildete Lehrkräfte dem bayerischen Schulsystem verloren, bevor sie überhaupt richtig im Beruf angefangen haben.

Lehrkräfte berichten: Die Schüler leiden besonders

Gefrustet, verzweifelt, wütend: So beschreibt Lehrerin Isabel Franz ihren Gemütszustand. Die 35-Jährige arbeitet an einer Münchner Mittelschule, engagiert sich im Jungen Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (Junger BLLV).

"Meine Kolleginnen und ich sind völlig überlastet. Wir müssen den Lehrermangel an der Schule deckeln. Wir vertreten viel, es fällt viel aus. Dabei arbeiten wir deutlich mehr. Die Probleme werden ja auch größer." Sie beklagt: Die Lehrkräfte hätten keine Zeit mehr für ihre Schüler. "Kollegen schleppen sich krank in die Schule, weil sie wissen, es kann nichts aufgefangen werden." Es findet an vielen Schulen nur noch das sogenannte Kerngeschäft statt, die Hauptfächer. Ausflüge, Klassenfahrten, AGs und Sportstunden fallen hingegen vielerorts aus.

Noten zum Teil erfunden, damit Schüler nicht wiederholen müssen

Andere Lehrer sind wütend, dass die Probleme an Bayerns Schulen offenbar nicht ernst genommen werden. Eine junge Lehrerin schreibt BR24: "Aktuell bin ich einfach sehr frustriert, wie das Kultusministerium die aktuelle Situation fast schon wegredet."

Ein weiterer Mittelschullehrer berichtet, dass die Noten zum großen Teil erfunden seien. "Zwar werden Proben geschrieben und bewertet, aber wenn wir das realistisch machen würden, müssten so viele Schüler wiederholen, dass die unteren Klassen explodieren."

Zu wenig Lehrkräfte – erstmals in allen Schularten

Monika Faltermeier, Vorsitzende des Jungen BLLV, berät junge Lehrerinnen und Lehrer in Krisensituationen. Immer häufiger kommen sie zu ihr in die Beratung, weil sie erschöpft, frustriert, überlastet sind.

"Die jungen Lehrkräfte leiden unglaublich, weil wir hier junge Menschen haben, die mit unheimlich viel Idealismus diesen Beruf ergreifen, in die Praxis kommen und glauben, hier können sie sich endlich verwirklichen, Kindern helfen, sich zu entfalten." Aber dann treffen sie auf Rahmenbedingungen, die veraltet und unzureichend seien, kritisiert die 38-Jährige das bayerische Schulsystem.

Das Problem: Immer mehr Schüler - weniger Lehramts-Studierende

Das belegen auch Zahlen und Prognosen des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV). Bei stetig steigenden Schülerinnen- und Schülerzahlen (knapp 15 Prozent mehr bis 2035) nimmt die Zahl der Lehramtsstudierenden ab. Vor allem die Mittelschulen in Bayern sind vom Lehrermangel betroffen.

Gut 123.000 Lehrkräfte gibt es an den allgemein bildenden Schulen im Freistaat laut Kultusministerium. Knapp die Hälfte davon arbeitet in Teilzeit.

Tabuthema: Angehende Lehrkräfte von undisziplinierten Kindern geschockt

Christopher Regl ist vor 24 Jahren mit Idealismus in den Dienst getreten. Er ist Mittelschullehrer in München-Pasing. Dort unterrichtet er fast alle Fächer. Mit großer Sorge beobachtet er seit Langem, wie sich die Situation an Bayerns Schulen durch den Lehrermangel immer mehr verschlechtert. "Das ist echt ein Drama. Jede Schule läuft weiter, obwohl das Personal nicht da ist. So geht das jeden Tag, seit Jahren, seit Jahrzehnten!", schimpft der 53-Jährige. Er vermisst das ehrliche Interesse von Politik und Gesellschaft an der realen Situation an Bayerns Schulen.

Parallel ist Christopher Regl Dozent für Lehramts-Studierende im Fachbereich Kunstpädagogik an der LMU München. Aktuell unterrichtet er dort rund zwanzig angehende Grundschullehrkräfte. Wenn seine Studierenden von ihren Praktika aus der Schule zurückkommen, berichten sie ihm immer wieder, wie frustriert sie von der Schulrealität sind. "Ich war schockiert, wenn ich ehrlich bin. Die haben mir gesagt, das mit den Kindern ist so schwierig, das war ich nicht gewohnt, dass junge Menschen das so deutlich aussprechen. Das war bisher ein Tabuthema."

Akuter Notstand an Mittelschulen: Lehrkräfte arbeiten unbezahlt mehr

Wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen arbeitet Christopher Regl an freien Tagen, unbezahlt, hilft in der Schule aus, wenn Not am Mann ist. Der Pädagoge kritisiert: "In jeder normalen Firma setze ich mich mit den Leuten zusammen, reagiere darauf, was machen wir anders. Aber es wird einfach weitergemacht wie im Kommunismus, als wäre nichts passiert. Es ist unsäglich. Und die jungen Leute sagen: Nö, ohne mich."

Lehrerverbände weisen schon seit Jahren auf Lehrermangel hin

Der Junge BLLV weist seit Jahren darauf hin: "Die Lage ist schwierig und unglaublich belastend. Die Lehrer sind nicht am Limit, sondern über dem Limit. Und es ist auf kurze Sicht auch keine Besserung, keine Lösung in Sicht."

Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Bayern sagt zum Lehrerberuf: "Er ist unsexy geworden." Schon seit Jahren sei das bayerische Bildungssystem auf Kante genäht, kritisiert Martina Borgendale, Vorsitzende GEW Bayern. Nun habe sich die Lage verschärft. Man wollte das aber nicht wahrhaben. Die Ausbildung und die Arbeitsbedingungen müssten sich ändern, fordert die GEW.

Lehrermangel? Kultusminister Michael Piazolo widerspricht sich selbst

Im BR24-Interview bestätigt der bayerische Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) zunächst den Lehrermangel. "Es ist klipp und klar so, dass wir weniger Bewerber haben an ausgebildeten Lehrkräften als wir jedes Jahr brauchen. Insofern müssen wir uns jedes Jahr anstrengen, diese Lücke zu füllen", sagt Piazolo. So werden laut Kultusminister im kommenden Schuljahr Hunderte Lehrer fehlen. Das sei jetzt schon klar, so Piazolo.

Mit unterschiedlichen Maßnahmen versucht der Kultusminister gegenzusteuern: mehr Quereinsteiger, Lehrkräfte aus anderen Bundesländern abwerben, A13: bessere Bezahlung für Grundschul- und Mittelschullehrkräfte, Arbeitszeitkonto, Abschaffung des Numerus clausus im Grundschulbereich, Regionalprämie von 3.000 Euro.

Später im BR24Live-Gespräch rudert Kultusminister Piazolo zurück und spricht nicht mehr von einem Lehrermangel. „Es gab in Bayern noch nie so viele Lehrer wie jetzt“. Man habe fast 6000 Lehrerstellen in dieser Legislaturperiode geschaffen, sagt Michael Piazolo. Es bleibt die Schwierigkeit, diese Stellen mit Lehrkräften zu besetzen. Den BLLV und seine Behauptung, es würden rund 4000 Lehrkräfte in Vollzeit fehlen, kritisiert der Kultusminister: „Die Zahlen sind so nicht richtig.“ Auf BR24-Anfrage liefert das Kultusminister selbst dazu keine Zahlen.

Mehr Lehrer an Bayerns Schulen: Das muss sich ändern

Es müsse sich endlich etwas ändern, um mehr Lehrkräfte für Bayerns Schulen zu gewinnen, fordern Lehrerverbände und Lehrkräfte. So müsse die Ausbildung flexibler, moderner und praxisnäher werden. Die Verantwortlichen im Kultusministerium sollten sich mehr auf Augenhöhe mit Lehrkräften und Schulleitungen austauschen. Die starren Strukturen im bayerischen Bildungssystem müssten abgebaut, die Aufstiegschancen erleichtert werden. Eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft sei, so Kultusminister Piazolo, den Lehrerinnen und Lehrern mehr Wertschätzung entgegenzubringen.

Dann sagen vielleicht auch junge Menschen: Lehrer sein ist cool!

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Offenbar ist der Lehrerjob unattraktiv: Immer weniger studieren auf Lehramt. Dabei nimmt die Zahl der Schüler zu: bis 2035 um 15% laut BLLV.

Im Video: Lehrermangel - Piazolo im BR24live

Michael Piazolo (Freie Wähler), bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus
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Michael Piazolo (Freie Wähler)

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