Am 10. April 2023 stellen sich Soldaten vor einer zerschossenen Fassade auf
Bildrechte: Valentin Sprinchak/Picture Alliance

Im Einsatz: Wagner-Söldner in Bachmut

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"Sie werden ihn stoppen": Kreml entsetzt über Söldner-Chef

Seit der Privatarmee-Betreiber Prigoschin einen nicht näher bezeichneten "Opa" als "komplettes Arschloch" beschimpfte, fragt sich ganz Russland, wen er damit meinte. Seine Antwort ist überraschend - und sein Schicksal hängt wohl am seidenen Faden.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Wer ist der einfältige "Opa", den Söldner-Chef Jewgeni Prigoschin ausgerechnet am "Tag des Sieges", dem 9. Mai, als "komplettes Arschloch" schmähte? Nur eines ist über den rätselhaften Großvater bekannt: Er glaubt, dass alles in bester Ordnung ist, fährt Russland mit seiner Realitätsverweigerung aber gerade an die Wand. Das jedenfalls war dem Wutanfall von Prigoschin zu entnehmen, und für ziemlich viele Russen steht seitdem fest: Er zielte direkt auf Präsident Putin.

Kampferprobte Blondine als „Opa“?

Gefragt, wen er denn gemeint habe, gab Prigoschin in einer seiner üblichen Audio-Nachrichten eine ausweichende bis absurde Antwort: Jeder könne sich aussuchen, wer der Richtige sei - entweder Armeechef Waleri Gerassimow oder Generaloberst Michail Mizinsew, die beide nicht in der Lage gewesen seien, ausreichend Munition zur Verfügung zu stellen, oder aber auch die frühere TV-Schönheit und Zirkusakrobatin Natalja Khim, die sich derzeit als "Verteidigerin des Landes" nützlich macht. Auf die Blondine, die sich gern in Uniform und schusssicherer Weste fotografieren lässt, wäre beim "Ratespiel" um den "Opa" allerdings wohl niemand gekommen.

Gegenüber russischen Journalisten hatte Prigoschin geklagt, die Treffen, bei denen über die Versorgung mit Munition beraten werde, dauerten im Kreml jeweils „den ganzen Tag“, konkret fünf bis zehn Stunden: „Wir kratzen das Nötigste zusammen.“ Er werde „seit vielen Jahren“ verfolgt, so der Oligarch, es seien allerdings immer neue Gegner, erst der inhaftierte Regime-Kritiker Alexej Nawalny, dann „die Amerikaner“.

So, wie es aussieht, verliert der Kreml allmählich die Geduld mit Prigoschin, der als Putins früherer Caterer und höchst erfolgreicher Militär-Unternehmer bisher in aller höchstem Ansehen stand. Doch jetzt sinkt sein Stern, und aus dem umkämpften Bachmut kommen für ihn beunruhigende Nachrichten: Dort wackelt die Front, russische Einheiten sollen wegen der hohen Zahl der Gefallenen und fehlender Ausrüstung auf dem Rückzug sein. Damit erklären jedenfalls ausländische Beobachter die Nervosität des Söldnerchefs.

„Leiser sterben für die Gäste“

Kremlsprecher Dmitri Peskow behauptete, in der Regierungszentrale hätten die Verantwortlichen von Prigoschins Gefühlsausbruch am 9. Mai gar nichts mitbekommen: „Wie Sie wissen, hatten wir viele Gäste und viele Veranstaltungen in Moskau.“ Dazu meinten russische Netzkommentatoren, das erinnere an den sprichwörtlichen „Vogel Strauß“, der seinen Kopf bekanntlich in den Sand steckt, um bei herannahender Gefahr nichts zu hören und zu sehen. Andere fragten sich, wie es sein könne, dass Russland Krieg führe und die Elite gleichzeitig zu nichts komme, weil sie „so viel feiern“ müsse. Vermutlich sollten die Soldaten „leiser sterben“, um die Gäste nicht aufzuschrecken: „Kein Wunder, dass sich heutzutage so wenig Leute freiwillig melden.“

Es war auch die ironisch gemeinte These zu lesen, Prigoschin habe bestimmt US-Präsident Joe Biden gemeint: „Wen denn sonst? Denken Sie mal nach.“ Jemand behauptete, Peskow sei dermaßen mit der Parade auf dem Roten Platz beschäftigt gewesen, dass er den „Zusammenbruch der Front“ übersehen habe. Seine „dumme Ausrede“ schade der Autorität des Kremls. Es gebe dann noch die naheliegende Möglichkeit, dass Putin und seine Leute „aus Urlaubsgründen“ von Prigoschins Attacke nichts mitbekommen hätten.

„Wichtigste siegreiche Kraft“

Das gewöhnlich gut unterrichtete russische Exil-Portal „Meduza“ will unterdessen von Gewährsleuten aus dem Kreml erfahren haben, dass die Geduld mit Prigoschin allmählich ein Ende hat: „Er verfolgt sein eigenes Projekt – [den Kampf um] Bachmut, und er tut alles dafür. Aber das ist ein persönliches Anliegen, um Einfluss auf das Verteidigungsministerium zu gewinnen, damit die Wagner-Truppe die wichtigste siegreiche Kraft wird.“ Während den einen klar ist, dass mit dem „Opa“ niemand anderes als Putin gemeint war, sagt eine weitere Quelle von „Meduza“, das könne keineswegs als „direkter Angriff“ gewertet werden.

Bisherige Förderer von Prigoschin im engsten Umfeld von Putin sollen auf Distanz gegangen sein, darunter der Oligarch Juri Kowaltschuk und der Chef der Nationalgarde, Wiktor Solotow. Die Propagandisten seien bereits vorgewarnt worden, Prigoschin müsse demnächst als „Landesverräter“ gebrandmarkt werden, wenn er sich weiter vom Kreml-Kurs „absondere“. Eine „kremlnahe“ Stimme wird mit dem Satz zitiert: „Solange die Wagner-Söldner dort [an der Front] sind, besteht für Prigoschin kaum Gefahr, er hat die Möglichkeit, er hat einen kurzen Draht zum Präsidenten. Aber wenn es so weitergeht, werden die offiziellen Sicherheitskräfte ihn auf jeden Fall stoppen.“

Kreml warnt vor „unvorhersehbaren Folgen“

Noch Ende April hatte der stellvertretende Präsident des russischen Parlaments, Sergej Newerow, vorgeschlagen, Prigoschin wegen des beklagten Munitionsmangels vorzuladen und über dessen öffentliche Äußerungen zu diskutieren. Der Söldnerchef hatte die Duma als „besten Ort“ für eine Aussprache bezeichnet. Kritiker hatten allerdings zu bedenken gegeben, das Parlament dürfe im Streit zwischen Prigoschin und der Armee nicht „Partei ergreifen“. Der Kreml habe hinter den Kulissen signalisiert, eine Anhörung könne „unvorhersehbare Folgen“ haben, wollte das Wirtschaftsblatt „Kommersant“ erfahren haben.

Derweil sorgte Kremlsprecher Dmitri Peskow mit einem bizarren Interview für einen serbischen Sender für Verwirrung. Dort sprach er von einer "sehr, sehr schwierigen Situation" der russischen Truppen und nannte die Lage in Bachmut "ziemlich emotional". Ukrainische Soldaten versuchten "ständig durchzubrechen", außerdem hätten sie ihre Stellungen "sehr stark befestigt", was die allgemeine Nervosität erkläre. Ohne Prigoschin namentlich zu erwähnen, behauptete Peskow, alle Einheiten vor Bachmut hätten "dasselbe Ziel".

Politologe Andrej Kolesnikow sagte dem im Ausland erscheinenden Portal „Currenttime“, Prigoschin sehe sich längst nicht mehr als „Putins Koch“, sondern verstehe sich als „unabhängige Figur“: „Seine Leute sterben in Massen, er verheimlicht es nicht.“ Der Unternehmer erhöhe „gerne seinen Einsatz“: „Solange die Behörden ihn in gewissem Maße als Arbeitskräftelieferanten für den Hof Seiner Majestät benötigen, werden sie ihn akzeptieren, weil er effektiv ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass er nicht in dem Moment von der Straße geholt wird, in dem er nicht mehr gebraucht wird.“

„Einige wollen natürlich Frieden“

Kolesnikow zog eine aufschlussreiche Parallele zum Ersten Weltkrieg: „Die Katastrophe dauert schon seit über einem Jahr an. Und wenn wir den Ersten Weltkrieg nehmen, kam es etwa ein Jahr nach Kriegsbeginn auf russischer Seite zu Unzufriedenheit mit der Art und Weise, wie die Feindseligkeiten geführt wurden. Nach zwei Jahren gab es viele unzufriedene Menschen. Einige wollten natürlich Frieden, andere wollten jedoch aktivere Feindseligkeiten und warfen der Führung, dem Zaren und der Kaiserin Unfähigkeit vor. Genau das Gleiche könnte jetzt passieren. Und die Zahl der Prigoschins könnte zunehmen.“ Putin allerdings sei ein „Beobachter“, der es grundsätzlich mit Rache nicht eilig habe. Die werde irgendwann „kalt serviert“.

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