Drei Passanten mit Tüten in Stachanow am 10. Mai 2023
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Preis des Krieges: Russische Einwohner flüchten nach Artilleriebeschuss

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"Feind ist stärker als wir": In Russland wachsen Wut und Frust

Propagandisten warnen vor Machtkämpfen und einer "Destabilisierung", fordern eine dringliche Mobilisierung weiterer Soldaten und sind überzeugt, dass es für Putin "nicht gut läuft". Dessen Sprecher räumt ein: "Im Westen haben sie gute Waffen."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Inzwischen ist sogar von einer wilden "Flucht" der russischen Truppen aus der Nähe der umkämpften Stadt Bachmut die Rede: Militärblogger zeigen sich fassungslos über die "schlechten Nachrichten" von einem Frontabschnitt, der seit Monaten die Schlagzeilen beherrscht. Der russische Söldnerführer Prigoschin hatte die Öffentlichkeit mit der Meldung aufgescheucht, "leider" gelängen den ukrainischen Truppen Gegenstöße. Jetzt sprach er in einer Video-Botschaft vom "Worst-Case-Szenario": "Die Gebiete, die viele Monate lang mit dem Blut und dem Leben unserer Kameraden erobert wurden, die jeden Tag Dutzende oder Hunderte von Metern vorrückten, werden heute kampflos von denen aufgegeben, die unsere Flanken halten sollten."

Es war allerdings nicht klar, ob das nur taktisches Gerede war, das die Aufmerksamkeit der "Patrioten" fesseln sollte. Das amerikanische "Institute for the Study of War" sprach einstweilen nur von "begrenzten Gegenangriffe" der Ukraine, die "wahrscheinlich erfolgreich" verlaufen seien.

"Ich dachte, Prigoschin übertreibt, aber es stellte sich heraus, dass er sich nicht nur wichtig machte", so ein russischer Blogger unter Berufung auf Informationen von der Front. Die russische Armeeführung sei "völlig unfähig, die Schlacht unter Kontrolle zu halten und über die tatsächliche Lage zu informieren". Russische Soldaten hätten sich so fluchtartig rückwärts bewegt, dass "diejenigen, die nicht entkommen konnten von nachrückenden Panzern zerquetscht" worden seien. Andere russische Blogger waren weniger aufgeregt und sprachen von "lokalen taktischen Aktionen" der Ukrainer. Allerdings hatten Selbstmord-Videos von Wagner-Söldnern in aussichtsloser Lage bei Bachmut schon genug Aufruhr erzeugt. Das alles trägt nicht gerade dazu bei, die Stimmung in Russland aufzuhellen.

"Wir haben Personalprobleme"

"Man muss bedenken, dass der Feind viel stärker ist als wir. Wir können hier nicht so vorgehen, dass jeder nur an sich selbst denkt, das wird überhaupt nicht funktionieren. Daher ist eine Mobilisierung erforderlich", sagte der ehemalige Chef der russischen Weltraumbehörde und jetzige viel beschäftigte Kriegs-Propagandist Dmitri Rogosin mit seltener Offenheit kürzlich in einem Moskauer Radiosender: "Wir haben Personalprobleme, denn unsere Jungs werden verwundet und getötet. Wir verlieren kampfbereite Soldaten, die müssen ersetzt werden." Damit bestätigte Rogosin den Alarmismus von Prigoschin, der seit Wochen über fehlende Rekruten klagt.

Rogosin hofft auf "kolossale Reserven" an Freiwilligen und forderte ersatzweise eine weitere Mobilisierungswelle. Gerüchteweise spielt er mit dem Gedanken, eine Konkurrenz-Truppe zu Prigoschins "Wagner"-Einheiten aufzustellen, zumal er den Söldnerchef bei einem Telefonat als "Schurken" und "Kriegsgewinnler" bezeichnet haben soll.

Peskow: "Ziele teilweise erreicht"

Selbst der Kreml hat offenbar den Eindruck, dass es verdächtig "langsam" vorangeht an der Front. Jedenfalls mühte sich Putins Sprecher Dmitri Peskow in einem Gespräch mit einem serbischen TV-Sender wortreich um Erklärungen. Es sei alles "sehr, sehr schwierig" und Russlands Soldaten führten seiner Meinung nach noch gar keinen "Krieg", so die skurrile Argumentation: "Das ist doch was ganz anderes, es bedeutet die totale Zerstörung der Infrastruktur, von Städten und so weiter. Das machen wir nicht." Im Übrigen habe der Westen "gute Waffen".

Peskow gab zu, dass es speziell im umkämpften Bachmut eine "ziemlich emotionale Situation" gebe, womit er auf Berichte über ukrainische Gegenstöße und die aggressive Kritik von Prigoschin an den russischen Streitkräften reagierte. Immerhin: "Teilweise" habe Russland seine Ziele erreicht, jetzt gehe es darum, den Gegner "auf ausreichende Distanz" zu halten. Das ist so ziemlich das bescheidenste Kriegsziel, das seit dem 24. Februar 2022 vom Kreml ausgegeben wurde.

Verwunderung löste Peskow mit dem Hinweis aus, jeder mache jetzt eine "traumatische Zeit" durch. Im Übrigen sorgte er für jede Menge ironische Kommentare, nachdem er behauptet hatte, Putin könne in seinem direkten Umfeld keine Personen ertragen, die "nicht über das erforderliche Maß an Wissen" verfügten. Es sei schwer, mit dem Präsidenten "Schritt zu halten", was "Schnelligkeit und Entschlossenheit" betreffe.

"Gibt es Grund zur Sorge?"

Kommentator Alexej Moschkow wagte sich für das russische Portal "VN-News" weit aus dem Fenster, als er seine jüngste Kolumne unter dem Titel schrieb: "Wie der 9. Mai zeigte, dass es für Russland an der 'ukrainischen Front' nicht gut läuft". Konkret kritisierte er, dass der Kreml keine Angaben über die Verwundeten und Toten in der russischen Armee mache: "Daraus können wir schließen, dass sich die Lage an der Front für die Streitkräfte der Russischen Föderation nicht optimal entwickelt." Außerdem sei es blamabel gewesen, das zum "Tag des Sieges" am 9. Mai wohl nur deshalb eine Handvoll ausländischer Staatschefs nach Moskau angereist sei, weil China darauf gedrängt habe, um Putins Image zu verbessern.

Die "Signale" seien ausgesprochen enttäuschend, so Moschkow: "Gibt es Grund zur Sorge? Der Kreml behauptet stets, alles laufe nach Plan. Nun, so ist es. Allerdings möchte ich mir diesen Plan zumindest mit einem Auge ansehen, sonst kommt ein irgendwie unangenehmes Gefühl auf, was wohl der letzte Punkt dieses Plans sein mag."

"Nicht schlauer als ein Filzstiefel"

Im Netz meinten russische Blogger auf dem Portal der St. Petersburger Zeitung "Fontanka", der Kriegsplan des Kremls sei wohl so geheim, dass er sogar dessen Urhebern unbekannt bleibe. Es drohe der "Anfang vom Ende", war zu lesen, Peskow sei wohl nicht "schlauer als ein Filzstiefel". Mancher hatte nach eigener Aussage bereits "Gänsehaut", andere kamen sich vor wie im "Comedy Club - der Blödsinn ist vollkommen". Aufschlussreich auch der Satz: "Es ist unklar, warum sie den Krieg angefangen haben, es ist unklar, wie sie ihn beenden wollen." Der Kreml stochere "im Nebel".

Einer der Diskutanten vertrat die Ansicht, Peskow halte sich an die bewährte Propaganda-Regel: "Je monströser Du lügst, desto leichter werden sie Dir glauben." Einer Wortmeldung war zu entnehmen, dass es jetzt sogar unerwünscht sei, aus dem letztjährigen Aufruf des Offiziersverbands an Putin zu zitieren: "Was habe ich Illegales getan? Es wurde nur das geschrieben, was inzwischen tatsächlich eingetreten ist - allerdings sagt Peskow, dass sie damit nicht gerechnet hätten. Für die Offiziere gilt das nicht." Das zielte auf Peskows Interview-Aussage, es sei bei Kriegsbeginn "schwer vorstellbar" gewesen, dass die NATO die Ukraine derart entschieden unterstütze.

Zur allgemeinen Verwirrung trug der russische Luftwaffen-General Sergej Lipovoi bei, der auf einer Pressekonferenz behauptet hatte, am 9. Mai habe es "100 Drohnenangriffe" der Ukraine auf Moskau gegeben, doch alle Objekte seien abgeschossen worden. Als diese "Nachricht" höchstes Befremden auslöste, nachdem Peskow zuvor mitgeteilt hatte, es habe "keine Angriffsversuche" gegeben, räumte Lipovoi ein, sein "Wissen" den Fantasie-Texten irgendwelcher Blogger entnommen zu haben. Das war sicherlich keine vertrauensbildende Maßnahme, was die Autorität der russischen Generäle betrifft.

"Proteststimmung in sicheren Kanälen"

Sogar eines der rabiatesten Propaganda-Medien, das Portal "Tsargrad", erlaubt sich mit Blick auf den Dauerkrach zwischen Generälen und Söldnerchef Jewgeni Prigoschin neuerdings Selbstzweifel: "Wenn die Fakten so sind, können öffentliche Widersprüche bei der Führung einer speziellen Militäroperation nur dem Feind zugute kommen. Der Versuch, diese Widersprüche im politischen Kampf im eigenen Land im Krieg einzusetzen, ist fast kriminell."

Es drohe eine "Destabilisierung", so die Analyse, die Meinungsverschiedenheiten hätten "negative Auswirkungen" auf die öffentliche Meinung. Unter Berufung auf Quellen aus der russischen Präsidialverwaltung schreibt "Tsargrad", dort mühten sich die Apparatschiks, die aufkommende "Proteststimmung" in "sichere Kanäle zu lenken". Sinnvoller sei es allemal, die Stabilität aufrechtzuerhalten, große Teile Russlands beobachteten den Krieg lediglich "von der Seitenlinie aus". Der "Glaube an den endgültigen Sieg" sei aktuell gefährdet.

"Es wird eine Katastrophe sein"

Russische Wirtschaftsfachleute zeigten sich unterdessen bestürzt über die Haushaltslage: Das Defizit wächst mit beunruhigendem Tempo, weil einerseits die Öl- und Gaseinnahmen wegen der sinkenden Weltmarktpreise rasant rückläufig sind, andererseits die Ausgaben für den Krieg außer Kontrolle geraten. "Noch ist das keine Katastrophe, denn es sind noch Reserven vorhanden. Aber am Ende des Jahres wird es eine Katastrophe sein", zitiert die "Moscow Times" den Bloomberg-Analysten Alexej Isakow.

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