Eine Frau auf dem Heimweg
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Die Angst aller Frauen: Gewaltsame Übergriffe auf dem Heimweg

Das Verbrechen an Sarah Everard in England hat den Blick auf ein gesellschaftliches Problem geschärft: Weltweit haben Frauen auf dem Heimweg Angst vor Übergriffen. Freundinnen schreiben sich, ob sie angekommen sind. Diese Initiativen könnten helfen.

Unter Hashtags wie #AreYouHome, #TextMeWhenYouGetHome und #ReclaimTheStreets diskutieren derzeit Zehntausende Menschen überall auf der Welt, wie sicher es für Frauen ist, allein in der Öffentlichkeit unterwegs zu sein. Ein Großteil dieser Frauen fühlt sich auf dem Nachhauseweg im Dunklen unwohl oder sogar bedroht – im Jahr 2021.

Unbegründet sind die Ängste nicht. In Europa erlebt jede zweite Frau ab 15 Jahren sexuelle Belästigung . In Deutschland wurde jede achte Frau schon Opfer sexueller Gewalt, etwa durch Vergewaltigung.

Akzeptierte Regeln für Frauen: umsehen, Kapuze, keine Kopfhörer

"Das hätte ich sein können, meine Freundinnen, jede", schreiben junge Frauen online über den Tod der Britin Sarah Everard. Sie berichten auf Twitter und Instagram, wie sie sich auf dem Heimweg ständig umsehen, um zu überprüfen, ob ihnen jemand folgt. Von ihren Gedanken, ob sie die Kopfhörer absetzen sollten, um im Falls eines Angriffs schneller reagieren zu können. Ob sie zur Sicherheit jemanden anrufen, zur Tarnung ihrer langen Haare die Kapuze aufsetzen, in der Mitte der Straße gehen, den Schlüssel lieber schon in der Hand halten sollten.

Die Frauen sprechen davon, dass für Frauen quasi immer eine nächtliche Ausgangssperre gelte und fordern alle Menschen dazu auf, sich für eine sichere Gesellschaft einzusetzen. Die Angst vor Übergriffen auf dem Heimweg dürfe nicht länger zu einem Frauenproblem herabgestuft werden.

England: Sarah Everard verschwand auf dem Heimweg

Auslöser dieser Diskussion ist das tödliche Verbrechen an einer jungen Frau in Großbritannien. Sarah Everard war am Abend des 3. März im Süden Londons verschwunden, als sie nach dem Besuch einer Freundin auf dem Weg nach Hause in ihre Wohnung ging. Vermutet wird, dass sie auf der Straße entführt wurde. Die 33-Jährige wurde tot in einem Waldstück in der Grafschaft Kent gefunden. Tatverdächtig ist ein 48 Jahre alter Polizist, der auf dem Rückweg von seiner Schicht gewesen sein soll, als er Sarah Everard begegnete.

Schutz durch Licht und Kameras

Damit sich Frauen in der Öffentlichkeit sicherer fühlen, setzt die britische Regierung seit dem Verbrechen auf mehr Überwachung und mehr Licht. Der britische Premier Boris Johnson kündigte an, das Geld für Kameras und bessere Straßenbeleuchtung auf gut 52 Millionen Euro aufzustocken. Das entspricht etwas mehr als einer Verdopplung der bisherigen Ausgaben. Zudem sollen Zivil-Polizisten in Bars und Nachtclubs Frauen beim Weggehen schützen.

Auch in Deutschland sorgte der Fall für Entsetzen und rief Forderungen nach mehr Schutz für Frauen hervor. Die Vorsitzende des Vereins "Heimwegtelefon", Conny Vogt, warnte davor, Straßenlaternen nachts aus Kostengründen einfach auszuschalten. Eine Lösung könne sein, die Lampen mit Bewegungsmeldern auszustatten.

Wie sich Männer richtig verhalten sollten

Auch Männer können Frauen auf dem Nachhauseweg mehr Sicherheit bieten. Unter den Hashtags #AreYouHome, #TextMeWhenYouGetHome und #ReclaimTheStreets gibt es konkrete Tipps, zum Beispiel: Haltet Abstand! Macht euch bemerkbar! Wechselt bei Dunkelheit die Straßenseite! Greift ein, wenn eine Frau belästigt oder bedroht wird – und auch in Situationen, die euch seltsam oder gefährlich vorkommen! Bietet immer eure Hilfe an!

Sicher nach Hause mit dem "Heimwegtelefon"

Beim "Heimwegtelefon" können Frauen unter der Berliner Telefonnummer 030 - 1207 4182 anrufen, wenn sie sich unterwegs unsicher fühlen. Am anderen Ende der Leitung helfen geschulte Männer und Frauen, die den Weg am Bildschirm mitverfolgen, Frauen auf besser beleuchtete Straßen losten oder im Fall einer konkreten Bedrohung mit einem zweiten Telefon den Notruf wählen, ohne den Kontakt zur Frau zu verlieren. Das "Heimwegtelefon" ist freitags und samstags von 18 bis 3 Uhr zu erreichen, von Sonntag bis Donnerstag von 18 bis 0 Uhr.

Frauen-Nacht-Taxis und der Code "Luisa ist hier!"

Weitere Initiativen zur Sicherheit im öffentlichen Raum sind Codewörter und finanziell bezuschusste Taxifahrten. Wer am Tresen von Kneipen und mancher Events sagt, "Luisa ist hier!", erklärt dem Personal, dass er oder sie Hilfe braucht und in einer zumindest unangenehmen Situation steckt. Die Angestellten wissen in den meisten Fällen direkt Bescheid und helfen diskret, indem sie die Betroffene oder den Betroffenen in den Personalbereich mitnehmen.

In einigen Städten wie München bekommen Frauen finanzielle Unterstützung, wenn sie zwischen 22 und 6 Uhr mit dem Taxi nach Hause fahren wollen.

Auch in anderen Ländern gibt es inzwischen vielfältige Konzepte und Initiativen zum Schutz von Frauen in der Öffentlichkeit. In Marokko sind Übergriffe auf Frauen ein Dauerthema, berichtet ARD-Korrespondentin Dunja Sadaqi: "Jede Frau in Marokko kennt sexuelle Belästigung im Alltag. Victimshaming ist ein großes Problem."

Marokko: Trillerpfeifen gegen Belästigung

Mehrere aktivistische Gruppen nahmen das Verbrechen an Sarah Everard zum Anlass, um weiter auf marokkanische Missstände aufmerksam zu machen. Die #MeToo-Bewegung etwa verteilte in den Straßen von Rabat, Marrakesch, Agadir & Co. Trillerpfeifen an Frauen und Männer, um ein sichtbares und hörbares Zeichen gegen Belästigung zu setzen.

Bis heute sensibilisiert die Bewegung unter dem Hashtag #masaktsch (übersetzt: "Ich schweige nicht") online und offline.

Italien und Kenia: Apps sorgen für mehr Sicherheit unterwegs

In Italien nutzen Frauen gerne die kostenlose App "Where" (übersetzt: "Wo"), berichtet ARD-Korrespondentin Marie von Mallinckrodt. Dort sind die Straßen gekennzeichnet, die andere Frauen für tagsüber, abends oder nachts empfehlen und die unter anderem gut beleuchtet sind. Eleonora Gargiuglio hat die App während eines Urlaubs in Lissabon erfunden, als sie nachts Angst auf dem Rückweg hatte.

Die App funktioniert für Turin, Mailand, Bologna, Rom, Neapel, Palermo, Catania und London. Bald sollen weitere europäische und internationale Orte folgen.

Aus Nairobi stammt die mittlerweile in neun Ländern weltweit aktive gemeinnützige Plattform "Ushadidi" (Swahili für "Zeugnis"). Programmiererinnen entwickelten diese App für Frauen, die bedroht werden, wie ARD-Korrespondentin Sabine Krebs erklärt. Nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2007 in Kenia wurden so gewalttätige Übergriffe und andere Notfälle dokumentiert und verfolgt. Heute dient die Software unter anderem dazu, Frauen zu helfen, über gewaltsame Übergriffe und sexuelle Belästigung zu berichten.

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