Die belgische Stadt Gent verfügt über die größte autofreie Zone Europas.
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Die belgische Stadt Gent verfügt über die größte autofreie Zone Europas.

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Autofreie Städte - was München von Gent lernen kann

Die meisten Menschen wünschen sich ruhigere, grünere Städte – doch viele Maßnahmen in diese Richtung werden durch Klagen gestoppt. Warum polarisieren Klimaprojekte so sehr? Und wie haben es Städte wie Gent geschafft, nahezu autofrei zu werden?

Über dieses Thema berichtet: Theo.Logik am .

Viele Menschen wünschen sich mehr Klimaschutz. Doch wenn es an die Umsetzung konkreter Maßnahmen geht, etwa Autos aus Innenstädten zu verbannen, wenn Spielplätze für Kinder auf Parkplätzen angelegt oder Windräder in Dorfnähe gebaut werden sollen, dann sind Proteste vorprogrammiert. Beispiele sind der erst vor Kurzem ausgebrochene Streit um eine begrünte Straße in München oder die Diskussionen um eine autofreie Berliner Friedrichstraße. Manches wurde durch Klagen inzwischen gerichtlich gestoppt.

Größte autofreie Zone Europas im belgischen Gent

Doch es gibt auch Beispiele, wie Klimaprojekte konstruktiv angegangen und erfolgreich umgesetzt wurden. So verfügt das belgische Gent seit sechs Jahren über die größte autofreie Zone Europas.

Davor sah es ganz anders aus, erinnert sich Filip Watteeuw, stellvertretender Bürgermeister und Verkehrsdezernent der Stadt mit mehr als 250.000 Einwohnern: "Gent war wie viele andere Städte in Europa, mit vielen Autos und deshalb auch mit vielen Staus, Gefahren für Fußgänger und Radler, mit einer schlechten Luftqualität und unglaublich viel Lärm."

Seit April 2017 ist die Altstadt von Gent komplett autofrei. Drumherum ist die Stadt in sechs Zonen eingeteilt, in die man nur über ein Ringstraßensystem hinein- und wieder hinausfahren darf. Viele Genter nehmen deshalb inzwischen lieber gleich das Rad, die öffentlichen Verkehrsmittel oder gehen zu Fuß, sagt Ann Plas, die Büroleiterin von Filip Watteeuw. Die Zahl der Haushalte mit Autos ging – verglichen mit 2015 – um gut 25.000 zurück. Der Autoanteil im Stadtverkehr hat sich von 55 auf 39 Prozent reduziert, der Radverkehr hat sich fast verdoppelt. Es gibt 30 Prozent weniger Unfälle, weniger CO₂-Ausstoß, die Luftqualität hat sich verbessert und es gibt weniger Lärm.

"Wenn es um Mobilität geht, dann wird’s emotional"

Umgesetzt haben Verkehrsdezernent Filip Watteeuw und sein Team das alles innerhalb eines Wochenendes, nach fast drei Jahren Vorbereitung. Und die waren nicht immer leicht: "Es gab raue Debatten. Bei öffentlichen Diskussionen haben sich Menschen gegenseitig angeschrien und beleidigt. Ich habe sogar Morddrohungen bekommen und stand sechs Wochen unter Polizeischutz", erinnert sich Watteeuw.

"Wenn es um Mobilität geht, dann wird’s emotional, weil man die Gewohnheiten von Menschen ändert." Verkehrsdezernent Filip Watteeuw

Auch in Deutschland wird derzeit vielerorts hochemotional gestritten, über die Umsetzung klimapolitischer Maßnahmen, ob das nun autofreie und grünere Innenstädte oder der Ausbau von Windenergie ist. Ein Verkehrsversuch im hessischen Gießen wurde kürzlich gerichtlich gestoppt, genauso wie das Vorhaben, die Berliner Friedrichstraße autofrei zu machen.

Klimamaßnahmen polarisieren

In München wurde in einer Straße Rollrasen gelegt, wo zuvor Parkplätze waren, und auch hier gab es laute Proteste. Die Klimamaßnahmen polarisieren, obwohl sich die Mehrheit in Deutschland einig darüber ist, dass der Klimawandel menschengemacht ist und gestoppt werden muss.

Ein Widerspruch? Nur scheinbar, sagt die Hamburger Soziologieprofessorin Katharina Zimmermann. Sie hat Konflikte rund um Klimaprojekte erforscht und herausgefunden, dass es in den Debatten weniger um Klimapolitik, als um größere soziale Fragen geht. "Die Leute streiten darüber, wie sie sich eigentlich die Gesellschaft vorstellen. Da geht’s dann darum, wer in einer Gesellschaft bestimmen sollte, welche Rechte, welche Freiheiten habe ich, wer soll wie viel beitragen, wer gewinnt und wer verliert?", analysiert sie. All diese Fragen würden immer unterschwellig mitschwingen.

Was bei den Protesten gegen grüne Projekte eine große Rolle spiele, sagt Katharina Zimmermann, sei das Gefühl vieler Menschen, moralisch bewertet zu werden: "Da geht es dann darum, wie wird das Leben, das ich führe, von anderen beurteilt. Wie sehe ich mich im Verhältnis zur Gesellschaft, zu dem, was gerade passiert."

Expertin: Klimadebatte in Deutschland ist hochmoralisch aufgeladen

Katharina Zimmermann und ihr Forschungsteam haben festgestellt: Die Klimadebatte in Deutschland ist hochmoralisch aufgeladen. Thematisiert werde im Zusammenhang mit Klimaschutz vor allem individuelles Verhalten. Die Verantwortung globaler Industrien oder die Frage nach sozialen Ungerechtigkeiten blieben oft außen vor. Fleisch essen oder nicht? Autofahren, ja oder nein? Warm oder kalt duschen? Viele Bürger seien überfordert von dem Gefühl, jeden Tag tausend kleine Entscheidungen treffen zu müssen.

Sie hätten herausgefunden, so Zimmermann, dass viele sich wünschten, dass ihnen dieser Entscheidungsdruck abgenommen werde. "Es geht eben viel darum, dass diese Moralisierung herausgenommen wird und auch der Druck auf das individuelle Verhalten. Wenn ich sage, es gibt ein gutes Verhalten und ein schlechtes Verhalten, dann sind natürlich diejenigen, denen es leicht fällt, sich gut zu verhalten – die vielleicht auch guten Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln haben –, auch wieder die moralischen Gewinner und die anderen die moralischen Verlierer."

Populisten wie der AfD spielt das Thema in die Hände

Die Tatsache, dass strukturell Benachteiligte sich oft auch moralisch als Verlierer fühlten, dass sie den Eindruck haben, von der Politik im Stich gelassen zu werden oder nicht allzu viel erwarten zu können, das spiele populistischen Parteien in die Hände: "Das ist etwas, was die AfD dann sehr stark aufgreift. Wir sehen das auch in anderen europäischen Ländern. Dass eben die Abwertung von Lebensverläufen populistisch aufgegriffen wird."

Der Fokus der Klimadebatte dürfe sich nicht nur auf Fragen des individuellen Verzichts konzentrieren, meint Katharina Zimmermann. Politiker müssten klar benennen, dass Klimaschutz nicht immer eine Win-win-Situation für alle sein könne. Generell müsse mehr konstruktiv gestritten werden: Was ist eigentlich ein gutes Leben, warum ist ein bestimmtes Verhalten moralisch besser oder schlechter?

Klimaschutz nicht als einziges Argument: "Man muss Resultate unmittelbar spüren"

Im belgischen Gent wurde dieser Streit über zweieinhalb Jahre öffentlich ausgetragen. Der Klimaschutz war damals nicht alleiniges Argument für die Verbannung der Autos aus der Innenstadt, sagt Filip Watteeuw: "Ich glaube, es ist wichtig, dass die Menschen die Resultate einer politischen Maßnahme auch unmittelbar spüren können. In Gent merkten die Menschen: Es ist ruhiger, es ist sicherer, die Luft ist gesünder. Dass das alles auch den CO₂-Fußabdruck der Stadt verbesserte, das war erstmal nicht das, was zu fühlen war."

Deshalb sei es wichtig, die richtigen Argumente zu nutzen, sagt Watteeuw: mehr Sicherheit auf den Straßen für Radler und Kinder zum Beispiel. So könne man die Leute überzeugen. Und noch etwas gibt der Verkehrsdezernent zu bedenken: Die Gegner gemeinnütziger, klimafreundlicher Projekte seien oft eine Minderheit, aber eben um vieles lauter als die Befürworter. Es lohne sich deshalb, den Streit auszuhalten.

"Am ersten autofreien Tag in Gent fragte mich ein Journalist, ob er mich interviewen könne, und zwar bei einer gemeinsamen Radtour durch die Stadt", erzählt Filip Watteeuw. "Ich hatte Bedenken, dass man mich anpöbeln würde und sah schon die Negativschlagzeilen vor mir. Ich habe mich dann doch getraut. Und als wir durch die Stadt radelten, kamen spontan Leute auf mich zu, gratulierten mir für das Projekt und sagten 'Sehr gut, Daumen hoch' und sowas." Dafür seien aber zweieinhalb Jahre harter Diskussionen nötig gewesen, so Watteeuw. "Die Gegner sind immer laut und machen Krach. Aber es lohnt sich, darauf zu schauen, was nach dem Krach kommen kann."

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