Zerstörte Häuser im Gaza-Streifen
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Zerstörte Häuser im Gaza-Streifen

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Angriff auf Israel: Wer ist die Hamas und was will sie?

Der terroristische Großangriff der Hamas hat den lange schwelenden Nahostkonflikt in einen Krieg verwandelt. Die Attacke trifft Israel und die Welt unvorbereitet. Wer ist die Hamas, was bezweckt sie, woher bekommt sie Geld und Waffen? Ein FAQ.

Der terroristische Angriff der Hamas hat den Staat Israel in seinen Grundfesten erschüttert. Die israelische Armee fliegt seitdem Luftangriffe im Gaza-Streifen und bereitet offenbar eine Bodenoffensive vor, um die Hamas zu bekämpfen. Doch wer ist die Terrorgruppe genau und welche Ziele verfolgt sie? Fragen und Antworten.

Islamischer Eifer: Wer ist die Hamas ?

Hamas: Die Abkürzung steht im Arabischen für "Islamische Widerstandsbewegung" - zugleich bedeutet das Wort "Glaubenseifer" oder "Kampfgeist". Die sunnitisch-islamistisch geprägte Organisation ist in ihrem Selbstverständnis die politische Vertretung der Palästinenser und eine Befreiungsbewegung. Hamas setzt auf den bewaffneten Kampf, erkennt das Existenzrecht Israels nicht an und hat die Vernichtung des jüdischen Staates als Ziel ausgegeben. Der Iran und andere Staaten des Nahen Ostens instrumentalisieren die Hamas als Handlanger ihrer geopolitischen Interessen in der Region.

Die EU und die USA stufen die Hamas als Terrororganisation ein. In der Praxis wirft die scharfe Verurteilung der Hamas bei gleichzeitiger finanzieller Unterstützung der Palästinenser Fragen auf; zudem ist die europäische Haltung bisher nicht einheitlich und die deutsche Position wenig konsequent: Hierzulande sind hamas-nahe Gruppierungen wie Samidoun - die Organisatoren der antiisraelischen Jubelfeier in Berlin - und die "Palästinensische Gemeinschaft Deutschland" (PGD) bisher nicht verboten. Ob sich das ändern soll, wird gerade diskutiert.

Wohltaten und Terror: Wie hat die Hamas sich entwickelt?

Ihre ideologischen Wurzeln hat die Palästinenser-Organisation seit 1987 in der ägyptischen Muslimbruderschaft. Sie war zunächst eine Wohltätigkeitsorganisation, wurde immer politischer und entwickelte sich zum Rivalen der gemäßigteren Fatah-Partei von Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas. Ihr soziales Engagement brachte der Hamas viel Sympathie auf der palästinensischen Straße, gerade im verarmten Gaza-Streifen.

2006 gewann Hamas die bisher letzten Wahlen in den palästinensischen Gebieten. Ein Jahr später übernahm sie nach Kämpfen gegen die Fatah, die bis heute die palästinensischen Autonomiegebiete im Westjordanland kontrolliert, die Macht im Gaza-Streifen. Im Inneren herrscht die Bewegung seither zunehmend autoritär; politische Gegner werden unterdrückt und verfolgt.

Nach außen verfolgt die Hamas ihre antiisraelischen Ziele ohne Rücksicht auf - auch eigene - Verluste. Zu schweren militärischen Auseinandersetzungen kam es 2008, 2012, 2014 und 2021. Beim bisher folgenschwersten Gaza-Krieg im Sommer 2014 wurden mehr als 2.200 Palästinenser und 74 Israelis getötet.

Rat, Politbüro, Brigaden: Wie ist die Hamas organisiert?

Die Struktur der Hamas ist undurchsichtig und besteht aus zahlreichen teils öffentlichen, teils geheimen Teilorganisationen. An der Spitze steht der Schura-Rat - nach westlichem Verständnis die Legislative der Bewegung, zuständig für die Festlegung von Zielen, Strategie und Programm. Der Schura-Rat ernennt das Politbüro, dessen Mitglieder zum Teil im Ausland sitzen, als ausführende Instanz. Alle Führungskader sind ausschließlich männlich besetzt.

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Yahya Sinwar, Militärführer und zweiter Kopf der Hamas in Gaza, bei einer Rede am Al-Quds- Tag (Jerusalem-Tag) am 14. April

Zahlreiche Unterorganisationen kümmern sich um religiöse Erziehung in den Moscheen und die Propaganda, um die Eintreibung von Spendengeldern, um soziale Aufgaben. Der engere Führungszirkel der Hamas wird auf mehrere hundert Mitglieder geschätzt.

Zentral ist der im Untergrund operierende militärische Arm der Bewegung, angeführt von den Kassam-Brigaden. 1992 gegründet und nach einem von den Briten 1935 getöteten Scheich benannt, den die Hamas als Märtyrer verehrt. Sie gelten als Drahtzieher Dutzender Terroranschläge in Israel. Als Reaktion auf die Zweite Intifada ab 2000 gelang es Israel, den Kassam-Ableger im Westjordanland entscheidend zu schwächen. Im Gaza-Streifen hingegen ist die militärische Macht der Hamas auch mit Unterstützung aus dem Ausland zuletzt wieder stark gewachsen - wie stark, zeigen die Überraschungsangriffe der vergangenen Tage.

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Zwei Ansichten vom Krieg: Israelische Truppen bergen Tote aus einem zerbombten Haus in Kfar Aza.

Katar, Iran und Schmuggelbanden: Wie finanziert die Hamas ihre Aktivitäten?

Militärisch hat die Bewegung über die Jahre immer weiter aufgerüstet, ihr Raketenarsenal ebenso ausgebaut wie unterirdische Tunnelanlagen zum Schutz vor Luftangriffen sowie die Truppenstärke der Kassam-Brigaden beständig erhöht.

Wichtigster finanzieller Unterstützer der Hamas ist das Golfemirat Katar. Wie groß die finanzielle Bedeutung Katars ist, lässt sich daran ermessen, dass - wie die Zeitung The Jewish Chronicle berichtete - eine Verzögerung der monatlichen Zahlung im Juli 2023 dazu geführt haben soll, dass palästinensische Behörden im Gaza-Streifen ihren Mitarbeitern kein Gehalt auszahlen konnten.

Während Katar seine Schecks offiziell für zivile Zwecke auszahlt, liefert der Iran als erklärter Todfeind Israels nach Einschätzung westlicher Nachrichtendienste neben finanzieller Hilfe auch Rüstungsgüter und militärisches Know-How, und zwar sowohl an die Hamas als auch an die libanesische Hisbollah. Experten gehen davon aus, dass viele der zuletzt abgefeuerten Raketen unter iranischer Anleitung im Gaza-Streifen hergestellt wurden.

Andere ehemalige Unterstützer der Hamas wie Ägypten und die Türkei haben ihre Zahlungen offiziell schon lange eingestellt. Verifizieren lässt sich das derzeit nicht - ebenso wenig wie Spekulationen über eine Beteiligung russischer Wagner-Söldner. Zwei andere Einnahmequellen der Hamas haben Ermittlungen von BR Recherche und ARD Plusminus indes schon 2016 aufgedeckt: Produktpiraterie - also den Vertrieb gefälschter Markenware - und Schmuggel. Der Terrorismusforscher Jean-Charles Brisard ging damals davon aus, dass allein der Zigarettenschmuggel ein Fünftel zur Finanzierung internationaler Terrorgruppen beiträgt.

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Ein palästinensischer Junge inmitten Trümmern in Chan Yunis, Gaza

Schockeffekt und Mobilisierung: Was bezweckt die Hamas mit ihrem Großangriff gerade jetzt?

Die Attacke kam nicht eben aus "heiterem Himmel", aber unerwartet und aus dem Hinterhalt. Und sie ist ein Schock für die israelische Gesellschaft, vergleichbar mit dem 11. September für die USA. Auf die letzte militärische Niederlage der Hamas im Mai 2021 folgten zwei Jahre der trügerischen Ruhe, in denen die Hamas vordergründig am Wiederaufbau arbeitete und weitgehend auf offene Angriffe aus dem Gaza-Streifen verzichtete. Die rechts-religiöse Regierung Netanjahu in Israel wiederum fokussierte sich auf die zweite Frontlinie des Landes mit den Palästinensern - den radikalen Ausbau jüdischer Siedlungen im Westjordanland. Zudem hielt der Verfassungskonflikt um die heftig umstrittene Justizreform der Regierung mitsamt Massendemonstrationen und Generalstreik das Land in Atem.

Das alles erklärt nicht die Ahnungslosigkeit von Armee und Nachrichtendiensten - Israels Inlandsgeheimdienst Schin Beth galt bislang als einer der effektivsten Sicherheitsapparate der Welt. Es erklärt aber zum Teil, warum die Hamas den Angriff gerade jetzt eröffnet. Zudem kann die Hamas gegenüber der zuletzt schlagkräftigeren Terrormiliz Islamischer Djihad die Muskeln spielen lassen. Und auch dem "Hauptsponsor Iran" kommt der Termin entgegen, versucht das vom Westen geächtete Regime derzeit doch, den zuletzt Israel gegenüber eher kompromissbereiten Rivalen Saudi-Arabien als "islamische Schutzmacht "auszustechen.

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Solidaritätsdemonstration für die Hamas und Palästina in Sanaa, Jemen am 7. Oktober 2023

Eine Rolle spielt auch, dass sich die Lebensverhältnisse im Gaza-Streifen zuletzt - auch in Folge der Hardliner-Politik von Benjamin Netanjahu - Richtung Hoffnungslosigkeit verschlechtert haben. Arbeitsplätze, Krankenhäuser, Bunker: Es fehlt an allem, auch an Frauen- und Freiheitsrechten, die die radikalislamischen Behörden eingeschränkt haben. Als "Wohltäterin" trat zuletzt weniger die Hamas als das UN-Palästinenserhilfswerk UNWRA in Erscheinung.

Jetzt aber feiert die Hamas wieder einen "Triumph" über das verhasste Israel, der in weiten Teilen der islamischen Welt von Dhaka, Bangladesch bis Teheran, Iran begrüßt wird. Das zuletzt im Schatten anderer Groß-Krisen verschwundene Palästinenserproblem ist wieder auf der Tagesordnung der Weltpolitik. Dass die terroristische Provokation in den nächsten Wochen noch unzählige Tote auf beiden Seiten fordern und eine Lösung des Nahost-Konflikts in noch weitere Ferne gerückt sein dürfte, steht auf einem anderen Blatt, das die Hamas nicht interessiert.

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