Ein israelischer Polizeibeamter kniet während der Suche nach Verdächtigen
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Nach dem Hamas-Großangriff: Warum Israel so überrascht wurde

Je größer das Ausmaß des verheerenden Großangriffs der Hamas wird, desto intensiver fragt Israels geschockte Öffentlichkeit: Wie konnte das nur passieren? Warum wurden Regierung, Armee und Sicherheitsdienste so sehr überrascht? Was waren die Gründe?

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Nahezu ungläubig und zutiefst entsetzt musste Israels Bevölkerung in den Stunden und Tagen nach dem Beginn der verheerenden Hamas-Invasion in den Ortschaften rund um den Gaza-Streifen ein Schreckensszenario verfolgen, das es in diesem Ausmaß seit Staatsgründung 1948 noch nie gegeben hatte.

Hunderte bewaffnete Mitglieder der islamistischen Hamas drangen zeitgleich zu massivem Raketenbeschuss auf israelisches Staatsgebiet ein, zogen mordend durch Wohngebiete, verübten ein Massaker an 260 jungen Israelis auf offenem Gelände, verschleppten über 150 Menschen, von Kleinkindern bis zu Armeeoffizieren, in den Gaza-Streifen.

Fehleinschätzung der Hamas-Absichten

Polizei- und Armee-Stützpunkte wurden überfallen und ausgeschaltet, die Zivilbevölkerung war schutzlos auf sich allein gestellt. Erst nach zweieinhalb Tagen konnten Israels Streitkräfte und Polizei am Montagnachmittag im Süden des Landes Entwarnung geben. Von einem "kompletten Versagen" von Armee und Geheimdiensten ist landesweit in Medien und Öffentlichkeit die Rede. Wie konnte es dazu nur kommen?

Übereinstimmend kommen renommierte israelische Journalisten und Sicherheitsexperten, wie etwa Yossi Vetter oder Amos Harel von der Tageszeitung "Ha’aretz", zu der Schlussfolgerung: Die Netanjahu-Regierung einschließlich der beiden rechtsextremen Minister Ben Gvir und Smotrich habe schlichtweg in die falsche Richtung geschaut. Das gesamte Augenmerk habe sich auf den Siedlungsausbau im besetzten Westjordanland gerichtet.

Militär abgezogen und in andere Gebiete entsandt

Die militärischen Ressourcen seien ebenfalls zum Großteil auf den Schutz der israelischen Siedler und deren Infrastruktur in der Westbank verwendet worden. Statt die Armee-Einheiten der sogenannten Gaza-Division im Süden des Landes zu belassen, seien erhebliche Verbände abgezogen und in die besetzten Gebiete zwischen Dschenin und Hebron entsandt worden. "Das haben die ausgenützt," wie die Nachrichtenagentur Reuters eine Quelle aus den israelischen Sicherheitsdiensten zitiert.

Die Netanjahu-Regierung habe sich eingeredet, dass die Hamas nach dem letzten Waffengang im Jahr 2021 nicht an einer erneuten Konfrontation mit Israel interessiert sei. "Das war alles, was in den Armee-Briefings dazu gesagt wurde und was von den Analytikern nachgeplappert worden ist," schreibt Yossi Vetter in "Ha’aretz".

Geheimdienste "systematisch versagt"

Israels Regierung sei der Illusion erlegen, dass die vermeintlich "kriegsmüde Hamas" für wirtschaftlichen Anreize anfällig gewesen sei. Dazu zählten unter anderem eine erhöhte Anzahl von Arbeitsgenehmigungen für Palästinenser aus dem Gaza-Streifen, um in Israel und der Westbank arbeiten zu können. Dort können palästinensische Arbeiter das Zehnfache verdienen als im abgeriegelten Gaza-Streifen.

Israelische Geheimdienste, also der Inlandsgeheimdienst Shin Bet und die beiden Armee-Geheimdienste, hätten bei der Aufklärung und Bewertung ihrer Informationen über die Absichten der Hamas "systematisch versagt", so Uri Bar-Joseph, ein ehemaliger Politik-Professor der Uni Haifa, der sich ausführlich mit den israelischen Streitkräften beschäftigt hat.

Hamas hat Angriff zwei Jahre lang geplant

Die islamistische Palästinenser-Gruppierung habe eine lang andauernde Täuschung und Verschleierung ihrer wahren Absichten durchgeführt. Dies habe im Endergebnis dazu geführt, dass Israels Armee und Sicherheitsdienste so überrascht worden seien.

Unter Berufung auf nicht näher genannte "Hamas-nahe" Quellen sowie drei ebenfalls nicht genannte Quellen aus den israelischen Sicherheitsdiensten berichtet die Nachrichtenagentur Reuters: Die Hamas habe zwei Jahre lang ihre Angriffsplanungen vorangetrieben und verheimlichen können. Gleichzeitig hätte die Hamas Israel davon überzeugen können, an einem neuen Krieg nicht interessiert zu sein. "Und während der gesamten Zeit waren sie dabei, sich vorzubereiten", wie Reuters einen Armeesprecher zitiert.

Angebliche "Verweichlichung" der Hamas

Nach der letzten militärischen Konfrontation mit Israel 2021 hatte sich die Hamas vor weiteren Aktionen ferngehalten. Selbst als die zweite islamistische Palästinenser-Gruppierung, der Islamische Djhad, im Mai dieses Jahres Raketenangriffe auf Israel durchführte, hielt sich die Hamas zurück. Sogar in den Reihen der palästinensischen Autonomiebehörde, die von dem 87-jährige Mahmud Abbas einflusslos angeführt wird, sei über die angebliche "Verweichlichung" der Hamas gespottet worden.

Ab Mitte letzten Jahres, so gibt Reuters ein weiteres namentlich nicht genanntes Mitglied der israelischen Sicherheitsdienste wieder, habe Israel geglaubt, dass die Hamas eher daran interessiert sei, den 2,3 Millionen Einwohner zählenden palästinensischen Küstenstreifen "zu managen" als an einem neuen, verheerenden Krieg.

Netanjahu hat alle Warnungen ignoriert

Über Monate hinweg hatte Premierminister Benjamin Netanjahu alle Warnungen der Militärs, der Opposition und der Protestbewegung in den Wind geschlagen, wonach er das Land und damit auch die Armee durch dessen sogenannte "Justizreform" spalte und schwäche. Israels Verteidigungsminister Galant trat Ende März genau aus diesem Grund zurück, nur um stillschweigend von Netanjahu zwei Wochen später wieder ins Kabinett aufgenommen zu werden.

Auf jeder Massendemonstration gegen den befürchteten Abbau der Gewaltenteilung sprachen Ex-Generalstabschefs, Oppositionspolitiker, Reservisten mit stets der gleichen Botschaft: Sie würden den angeblichen Weg Israels in die Diktatur stoppen. Die Spaltung der Gesellschaft durch Netanjahu habe die Abschreckungsfähigkeit Israels verringert und den Feinden Israels den Eindruck von Schwäche vermittelt.

Regierungsmitglieder beschimpften die Armee

Zudem diskreditierten die rechtsextremen Minister Ben Gvir und Smotrich in aller Öffentlichkeit die Armee-Führung sowie hohe Offiziere als unpatriotisch und feige, weil sie angeblich nicht hart genug gegen die palästinensischen Bewohner im besetzten Westjordanland vorgingen. Auch die US-Regierung unter Präsident Joe Biden wurde von den – in Israels Medien nur "Pyromane"“ genannten – Ministern der extremen Rechten übel beschimpft. Israel "ist nicht der 51. Bundestaat der USA", belehrte Ben Gvir die wichtigste Schutzmacht Israels.

Für die Bildung dieser Koalition und das verhängnisvolle Vernachlässigen des originären Sicherheitsauftrags der Regierung trage letztendlich Netanjahu die Verantwortung, wie es seit Samstag in zahlreichen israelischen Kommentaren heißt. Ben Caspit, seit Jahrzehnten der führende Kommentar der Tageszeitung "Ma’ariv", bilanziert: Netanjahu habe vollmundig versichert, die Armee angewiesen zu haben, "die Hamas auszuschalten und die Wurzeln der Terrorbasis in Gaza auszureißen". Netanjahu habe das genaue Gegenteil erzielt. Jetzt "ist sein Scheitern unser Desaster geworden".

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