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Im neu gewählten Europaparlament könnten die "Antieuropäer" ein Drittel aller Abgeordneten stellen

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Analyse zur Europawahl: Vormarsch der "Antieuropäer"

Die Angst in der EU vor ihren Gegnern ist greifbar. "Europe is under attack", sagt Parlamentspräsident Tajani. Wie groß ist die Gefahr, dass "Antieuropäer" die EU von Straßburg aus zurückbauen?

Eine Datenanalyse des britischen Senders Sky News prognostizierte Ende März auf Basis von Umfragen: 233 der (nach einem Brexit) 705 Sitze im Europaparlament könnten von populistischen Abgeordneten aller politischen Richtungen eingenommen werden.

Die meisten kämen aus Italien (61), Frankreich (31), Polen (24), Deutschland (17) sowie Ungarn und Spanien (jeweils 16). Daraus ergäbe sich die breite Front an Populisten, die insgesamt ein Drittel aller Abgeordneten stellen könnten – gegenüber (grob geschätzt) einem Fünftel im derzeitigen Europaparlament. Relativ zur Gesamtzahl der Abgeordneten, die ein Land jeweils nach Brüssel schickt, liegen Italien (61 von 76) und Ungarn (16 von 21) beim Anteil der EU-Gegner vorne.

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EU-Gegner von rechts und links

Auch wenn die Zahlen zu hoch gegriffen scheinen, die Sky-Untersuchung hat einen Vorteil: Sie bezieht nicht nur Populisten von rechts ein, sondern auch die von links und solche, die sich keiner Richtung zuordnen lassen. Dieser Aspekt wird anderswo oft ausgeblendet. Populisten von rechts sehen die Souveränität der Länder durch Organisationen wie die EU in Gefahr. Sie fordern den Rückbau der Union zugunsten starker Nationalstaaten. Die Vorstellungen reichen von einem "Europa als Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner Staaten", wie die AfD es will, bis hin zur ersatzlosen Auflösung der EU.

Aber auch durch offizielle Papiere des Parteienzusammenschlusses Europäische Linke geistert der Begriff "Souveränität der Völker", wenngleich aus anderen Motiven. Der Zwiespalt, der die Europapartei zusätzlich plagt, wird an dem Gegensatz zwischen ihrem Vorsitzenden, dem erklärten EU-Befürworter Gregor Gysi, und dessen ehemaligen Schatzmeister Diether Dehm deutlich, einem ausgewiesenen "Antieuropäer".

Umbruch rechtsaußen

Auf der rechten Seite steht das Lager der EU-Gegner vor dem Umbruch. Schuld daran ist der Brexit, so er denn stattfindet. Das Ausscheiden der rechtspopulistischen UKIP und der europaskeptischen britischen Konservativen, den Tories, versetzt den rechten EU-Gegnern im Europaparlament einen Dämpfer, wird sie aber nicht entscheidend schwächen. Bislang waren die Rechtsausleger in drei Fraktionen organisiert:

Als moderate Fraktion werden die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) hauptsächlich getragen von der polnischen Regierungspartei PiS und den britischen Konservativen. Diese zweite Stütze droht nun wegzubrechen. Den Fraktionsstatus dürfte der Brexit dennoch nicht in Gefahr bringen. Dafür sind die osteuropäischen Parteien in dieser Fraktion zu stark.

Radikaler positionieren sich die Fraktionen Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) und Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD). In der ENF sind der französische Rassemblement National (RN) und Italiens Lega Nord dabei – letztere dürfte nach der Wahl für Verstärkung sorgen.

Die EFDD wird dagegen wahrscheinlich zerfallen. Nach einem Ausscheiden der UKIP steht die italienische Fünf-Sterne-Bewegung dort ziemlich allein da. Im vergangenen Jahr schon stiegen die Schwedendemokraten zur EKR um.

Aus drei mach zwei – oder eins?

Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass es nach der Wahl rechtsaußen weitergeht wie gehabt. Zu erwarten ist entweder eine Zweierlösung: Die gemäßigten Kräfte ziehen in die EKR, die Fundamentalisten in die ENF, während sich die EFDD auflöst. Oder aber es entsteht eine breite Formation aller rechten EU-Gegner. Mit dieser Überlegung geht unter anderem der italienische Innenminister Matteo Salvini schwanger. In einer solchen Sammelfraktion könnte auch die ungarische Regierungspartei Fidesz mitmachen, die in der EVP nicht mehr wohlgelitten ist.

Es gibt – quer zu den beiden genannten – noch eine drittes Szenario: Die österreichische FPÖ denkt über eine breite Allianz mit Lega Nord, Fidesz und PiS nach. Die FPÖ entfernte sich zuletzt in der ENF immer weiter vom französischen RN unter Marine Le Pen. Möglicherweise könnte ein solches Bündnis auch unter das Dach der EKR schlüpfen, die dann die Schwächung durch den Rückzug der britischen Konservativen mehr als kompensiert hätte.

Wo reiht sich die AfD ein?

2014 zog die damals mehrheitlich national- und wirtschaftsliberal orientierte AfD mit sieben Abgeordneten ins Europaparlament ein. Sie fanden hauptsächlich in der moderaten EKR ihre Heimat. Nach Parteispaltungen und Radikalisierung verließen die meisten Abgeordneten die AfD. Deren Fähnlein hielt zuletzt allein Parteichef Jörg Meuthen hoch. Er fungiert seit Ende 2017 als Fraktionsvorsitzender der EFDD.

In welcher Fraktion die AfD nach der Wahl 2019 mitmachen könnte, ist offen. Zusammen mit der polnischen PiS wird es jedenfalls schwer gehen. Die beiden Parteien sind in ihrer Haltung zum russischen Präsidenten Putin – die AfD pro, die PiS contra – auf Konfrontation gebürstet.

Wie stark sind die EU-Gegner?

Ohne absolute Mehrheit im EU-Parlament werden die "Antieuropäer" das Parlament nicht blockieren können. Die rechten "Antieuropäer" würden aber in einer gemeinsamen, unter anderem durch die erwarteten Stimmenzuwächse vor allem in Italien gestärkten Großfraktion mehr Schlagkraft entfalten als es bisher der Fall war. Sie erhalten mehr Redezeit im Parlament, könnten mehr Abgeordnete in die Ausschüsse entsenden oder diese leiten.

Polarisierung und Lähmung

Insgesamt schreitet die Polarisierung zwischen ausgewiesenen Befürwortern der EU und ihren Gegnern fort – nun auch innerhalb des künftigen Parlaments. Zwar wird eine formelle Phalanx aus rechten und linken EU-Gegnern wegen großer ideologischer Vorbehalte nicht zustande kommen.

Die Konfrontation zwischen "Pro-" und "Antieuropäern" könnte das EU-Parlament jedoch lähmen, zumal die proeuropäische Koalition der konservativen EVP mit der sozialdemokratischen S&D Umfragen zufolge fürchten muss, erstmals seit 1979 die absolute Mehrheit zu verlieren. Wasser auf die Mühlen all jener, die der EU ohnehin vorwerfen zu langsam zu arbeiten.