Die Silhouette des Kohlekraftwerks Zolling (Lkr. Freising)
Bildrechte: picture alliance / blickwinkel/W. Willner | W. Willner

Die deutschen Kohlekraftwerke laufen in diesem Jahr seltener als zuvor.

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Trotz Atomausstieg: Deutschland verbrennt weniger Kohle und Gas

Der Strompreis in Deutschland ist inzwischen wieder so niedrig wie zuletzt im Sommer 2021 – trotz Atomausstieg. Die fossilen Energieträger Kohle und Gas haben damit nichts zu tun, sondern Wind und Sonne. Ergänzt durch "Dein Argument".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die erneuerbaren Energien haben im Juli 64 Prozent des Stromverbrauchs in Deutschland abgedeckt – ein neuer Rekord, der vor allem durch die bisher beste Windstromausbeute in einem Juli möglich wurde. Das hat an mehreren Tagen zu sehr niedrigen und teils sogar negativen Strompreisen geführt. Auch in Bayern, denn der Süden profitiert vom starken Ausbau der Windkraft in Norddeutschland. In der Bundesrepublik gelten nach wie vor einheitliche Einkaufspreise für Strom, obwohl die EU eine Aufteilung in mehrere Strompreiszonen prüfen lässt.

Strompreis wieder billiger als vor Russlands Überfall auf Ukraine

Dieser Börsenstrompreis sinkt in Deutschland seit einem Jahr ziemlich kontinuierlich – und diese Entwicklung hält auch nach dem Abschalten der letzten Atomkraftwerke Ende April weiter an. Der Strompreis an der Börse ist inzwischen wieder so niedrig wie zuletzt im Sommer 2021 – lange vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine.

Timo Kern, Leiter "Energiesystem und Märkte" an der Münchner Forschungsstelle für Energiewirtschaft, erwartet, dass diese Entwicklung weiter anhält: "Wir sehen am Terminmarkt, dass der Strompreis auch für die Jahre 2024 bis 2026 tendenziell weiter zurückgeht."

Weniger Stromverbrauch, mehr Erneuerbare und Importe

Für diese Entwicklung gibt es mehrere Gründe, erläutert Bruno Burger, der am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) die Datenbank "Energy Charts" betreut. Zum einen sinkt der Stromverbrauch in Deutschland seit zwei Jahren kontinuierlich.

Zum anderen wird immer mehr Wind- und Sonnenstrom produziert – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern europaweit. Dadurch kann Deutschland günstigen, erneuerbaren Strom auch aus Nachbarländern importieren. Den meisten Strom bezog Deutschland im zweiten Quartal 2023 laut Bundesnetzagentur aus Dänemark, nämlich knapp 40 Prozent der Importmenge - gefolgt von Norwegen mit gut 16 Prozent.

Frankreichs Reaktoren laufen wieder

Danach folgt Frankreich: Es hat inzwischen wieder die meisten seiner Atomreaktoren am Netz – aber das Land produziert inzwischen ebenfalls deutlich mehr Strom aus Wind und Sonne als in den vergangenen Jahren. Dass die Bundesrepublik im Sommer Strom aus Frankreich importiert, ist schon lange üblich. Im zweiten Quartal 2023 waren es knapp 16 Prozent des gesamten nach Deutschland eingeführten Stroms. Lediglich 2022 mussten deutsche Kraftwerke aushelfen, weil ein Großteil der französischen Atommeiler wegen Wartungsrückständen und Korrosion von Leitungen stillstand.

💬 Mitdiskutieren lohnt sich: Die folgende Passage hat die Redaktion aufgrund eines Kommentars des Nutzers"Karl_Willi" im Rahmen des BR24 Projekts "Dein Argument" ergänzt.

Es gibt keine Statistik, aus der sich der Anteil erneuerbarer Energien an dem in den letzten Monaten nach Deutschland importierten Strom direkt ablesen lässt. Einen Hinweis kann allerdings der Strommix in den Herkunftsländern geben – jeweils für das zweite Quartal 2023. Hauptlieferant Dänemark gewann seinen Strom in dieser Zeit zu 85,4 Prozent aus erneuerbaren Quellen, hauptsächlich aus Windkraft. Norwegen weist 99,4 Prozent erneuerbaren Strom aus, der Löwenanteil davon Wasserkraft. Frankreich produzierte seinen Strom in diesem Zeitraum zu 28,6 Prozent aus erneuerbaren Energien und zu 66,8 Prozent mit Kernkraft. Aufschluss über den grenzüberschreitenden Handel und den jeweiligen Strommix gibt die Plattform Energy Charts von Fraunhofer ISE. 💬

Deutschland kann Kohlekraftwerke stillstehen lassen

"Prinzipiell hat Deutschland genügend Kraftwerksreserven, um sich jederzeit selbst zu versorgen", stellt Burger klar. Allerdings gibt es derzeit so viel billigeren Strom auf dem Markt, dass die deutschen Kohle- und Gaskraftwerke nur noch selten laufen müssen. Im Juli produzierten sie laut Burger so wenig Strom wie schon sehr lange nicht mehr.

Im Mai, dem Monat nach dem deutschen Atomausstieg, wurde so wenig Steinkohle nach Deutschland importiert wie in keinem Maimonat seit 2004 – mit Ausnahme des Corona-Jahres 2020.

Der Winter kann die Bilanz nicht mehr verhageln

Im kommenden Winter werden die fossilen Kraftwerke in Deutschland allerdings wieder häufiger im Einsatz sein – weil dann europaweit der Strombedarf höher ist und die Photovoltaik weniger Strom liefert. Wie häufig genau, hängt auch stark vom Wetter ab. Dennoch ist sich Burger schon jetzt sicher, dass die Emissionen des Stromsektors heuer niedriger werden als vergangenes Jahr und wahrscheinlich auch niedriger als 2021.

Er bewertet die Lage auf dem deutschen Strommarkt nach dem Atomausstieg positiv: "Dieses Jahr erreichen wir vielleicht eine ausgeglichene Import-Export-Bilanz und haben zusätzlich den Zubau bei der Solar- und Windenergie. Am Ende können wir damit den Atomausstieg kompensieren und gleichzeitig den Einsatz fossiler Energien und deren CO₂-Emissionen reduzieren."

Mit Kernkraft noch sauberer und billiger?

Ökonomen wie die Wirtschaftsweise Veronika Grimm von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hatten sich dagegen immer wieder für eine weitere Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke ausgesprochen. Mit dem Argument, dass durch ein solchermaßen größeres Angebot der Preis von Strom sinken und auch Treibhausgas eingespart würde.

Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Markus Söder hatte vor einigen Tagen angekündigt, nach einem möglichen Wahlsieg im Bund 2025 einen Wiedereinstieg in die Atomkraft anzustreben, "wenn die Energiekrise dann noch da ist". Außerdem kündigte Söder an, Bayern werde auf die Kernfusion setzen.

Energiewirtschaft widerspricht Söder

Widerspruch erntete Söder von der bayerischen Energiewirtschaft. Bayern habe sich das Ziel gegeben, bis 2040 klimaneutral zu werden, hieß es vom Verband der bayerischen Energie- und Wasserwirtschaft (VBEW): "Ganz egal wie man zur Kernkraft stehen mag, sie steht uns in Deutschland bis 2040 nicht zur Verfügung, von der Kernfusion mal ganz zu schweigen".

Bedeutung der Atomkraft relativ gering

Timo Kern von der Forschungsstelle für Energiewirtschaft machte im Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk deutlich, dass die Bedeutung der Kernkraft für das deutsche Energiesystem vergleichsweise gering sei: "Aus Sicht des Gesamtsystems sind knapp vier Gigawatt der letzten Atomkraftwerke im Vergleich zu der Spitzenlast an Strom von etwa 80 Gigawatt natürlich nur ein Bruchteil." Durch den Hochlauf der erneuerbaren Energien sei "ganz klar ersichtlich, dass der Atomausstieg zu verkraften ist".

Was bleibt, ist allerdings der Bedarf nach gesicherter Leistung für Zeiten mit wenig Wind und Sonne. Diese Aufgabe, die derzeit noch von Kohle- und Erdgaskraftwerken erfüllt wird, sollen nach den Plänen der Bundesregierung im Energiesystem der Zukunft Wasserstoff-Kraftwerke übernehmen. Eine Ausschreibung für solche "H2-Ready-Kraftwerke" soll 2024 stattfinden.

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