MVG-Mitarbeiter beim Warnstreik in München am 9. Oktober
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MVG-Mitarbeiter beim Warnstreik in München am 9. Oktober

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Tragen ÖPNV-Warnstreiks zu mehr Corona-Infektionen bei?

Fotos von überfüllten Bussen und wütende Tweets: In den sozialen Medien werfen Nutzer der Gewerkschaft Verdi vor, mit den wiederholten Warnstreiks im ÖPNV das Infektionsgeschehen in die Höhe zu treiben. Doch stimmt das? Ein #Faktenfuchs

Am Montag und Dienstag dieser Woche fuhren in vielen bayerischen Städten wieder einmal weder Busse noch Bahnen. Vier Mal wurde im vergangenen Monat der öffentliche Nahverkehr in Bayern bestreikt. Der Grund: Die Gewerkschaft Verdi fordert höhere Einkommen, bessere Arbeitsbedingungen und eine 35-Stunden-Woche für die rund 6.300 Fahrerinnen und Fahrer.

  • Dieser Artikel stammt aus 2020. Alle aktuellen #Faktenfuchs-Artikel finden Sie hier

Die Folgen bekamen die Fahrgäste vielerorts deutlich zu spüren. Wer nicht auf Fahrrad oder Auto umsteigen konnte, musste sich in größeren Städten wie München manchmal in überfüllte Busse und Bahnen zwängen, wie dieses Bild eines Twitter-Nutzers nahelegt. (Hinweis der Redaktion: Wir haben den Nutzer um das Originalfoto gebeten, um den Zeitpunkt der Aufnahme zu verifizieren, dieses aber bis zur Veröffentlichung des Textes noch nicht erhalten.)

Auch andere User sind wütend:

Doch ist die Befürchtung, die derzeit offenbar viele haben, berechtigt? Wie groß ist das Risiko, sich im ÖPNV mit Corona zu infizieren? Und steigen die Fallzahlen im Zusammenhang mit Warnstreiks?

Was die Zahlen sagen

In vielen bayerischen Städten wurde allein im vergangenen Monat drei- bis viermal gestreikt: am 29. September, am 09. Oktober halbtags, und dann noch einmal in dieser Woche am 26. Oktober. Mancherorts ging der Warnstreik auch noch am 27. Oktober weiter. Betroffen waren kleinere und größere Städte, darunter München, Nürnberg, Augsburg, Regensburg, Bamberg und Landshut.

Die letzten beiden Streiktage liegen noch zu kurz zurück, als dass sich mögliche Neuinfektionen bereits in den Infektions-Zahlen niederschlagen könnten. Aufgrund der Inkubationszeit und den zusätzlichen Verzögerungen beim Testen und der Meldung an die Gesundheitsämter und das Robert Koch-Institut (RKI), ist davon auszugehen, dass mögliche Infektionen sich erst etwa zehn bis 14 Tage später in den Daten niederschlagen.

Schaut man sich die Zahlen des RKI für den entsprechenden Zeitraum und die genannten Städte an, fällt auf, dass sie fast überall kontinuierlich gestiegen sind. Die folgende Tabelle zeigt den 7-Tage-Inzidenzwert (das heißt die Zahl der Neuinfektionen für die vorangegangenen sieben Tage pro 100.000 Einwohner) für die jeweilige Stadt - jeweils zehn und 14 Tage nach dem ersten (29.09.) und zweiten (09.10.) Streiktag (ST).

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Inzidenzwerte in von Warnstreiks betroffenen Städten

Auch ein Blick auf die täglichen Neuinfektionen, die das RKI für Deutschland wie folgt angibt, zeigt, dass die Zahlen in diesem Zeitraum stark stiegen.

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So entwickeln sich die Zahlen in Deutschland

Claudia Kohler, Datenjournalistin, die für den BR Corona-Zahlen analysiert, warnt allerdings davor, daraus voreilige Schlüsse auf einen Zusammenhang mit den Streiks zu ziehen: "Schaut man sich die Kurven für ganz Deutschland oder für einzelne Städte und Landkreise an, zeigt sich, dass die Zahlen bereits seit August an vielen Orten wieder mehr oder weniger kontinuierlich steigen."

Das heißt: Die Zahlen steigen also gerade nicht nur in den Städten, die bestreikt wurden. Zudem belege eine Korrelation nicht zwangsläufig einen Zusammenhang mit den Streiks – denn schließlich gibt es auch viele andere Gründe, warum die Zahlen derzeit wieder so schnell steigen.

Wie hoch ist das Ansteckungsrisiko im ÖPNV?

Allein über die Zahl der Neuinfektionen lässt sich die Frage, ob Streiks dazu beitrugen, also nicht beantworten. Wichtiger ist vielmehr zu klären, wie hoch das Ansteckungsrisiko im ÖPNV generell ist, ob Busse und Bahnen so überfüllt waren wie behauptet und wie sich das Ansteckungsrisiko bei Überfüllung verändert.

Für die erste Frage lässt sich sagen: Nach allem, was wir derzeit wissen, ist das Ansteckungsrisiko im ÖPNV nicht sehr hoch. Darauf deuten Daten des RKI hin und dafür sprechen auch die Bedingungen im ÖPNV. Zugleich weist das RKI aber auch immer wieder selbst darauf hin, dass Infektionen etwa in der Bahn womöglich untererfasst werden – "da in vielen Fällen die Identität eines Kontaktes im Nachhinein nicht mehr nachvollziehbar ist".

Zuletzt veröffentlichte das RKI am 20. Oktober eine neue Auswertung dazu, wo sich Menschen derzeit mit Corona infizieren. "Verkehrsmittel" spielten dabei nur eine verschwindend geringe Rolle, wie das Schaubild unten zeigt (Verkehrsmittel in rosa).

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Gemeldete Fälle in Deutschland nach Infektionsumfeld und Meldewoche

bDie Datengrundlage gibt das RKI derzeit leider nicht heraus, sodass die genaue Anzahl der Menschen, die sich zuletzt im Verkehr infiziert haben, nicht benannt werden kann. In einer früheren RKI-Erhebung mit Datenstand vom 11. August 2020 machten Infektionen in Bussen und anderen nicht weiter spezifizierten Verkehrsmitteln aber nur 80 Fälle aus – und damit weniger als 0,15 Prozent der betrachteten 55.141 Infektionen.

Insgesamt beschreibt das RKI das Ausbruchsgeschehen derzeit als "diffus": Zwar gebe es vermehrte "Häufungen in Zusammenhang mit privaten Feiern im Familien- und Freundeskreis". Zum Anstieg der Inzidenz trügen aber "nach wie vor auch viele kleinere Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen sowie Ausbrüche in Krankenhäusern, Einrichtungen für Asylbewerber und Geflüchtete, Gemeinschaftseinrichtungen, Kindertagesstätten und Schulen, verschiedenen beruflichen Settings sowie in Zusammenhang mit religiösen Veranstaltungen bei".

Warum Experten das Ansteckungsrisiko eher gering einschätzen

Es gibt jedoch noch andere Gründe, warum das Infektionsrisiko im ÖPNV als eher gering gilt. ÖPNV-Betriebe in verschiedenen bayerischen Städten, die der Faktenfuchs dazu befragt hat, verweisen zum Beispiel darauf, dass sich bisher kaum Mitarbeiter infiziert hätten.

Auch der Virologe Hendrik Streeck hält den ÖPNV in einem Gespräch mit der ZEIT nicht für eine besondere Gefahrenquelle. Der Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn erklärt: "Ich glaube, die Erfahrung lehrt uns auch über die letzten Monate, dass ÖPNV generell sehr sicher ist."

Corona-Regeln können im ÖPNV meist eingehalten werden

Die üblichen Corona-Schutzregeln (Abstand, Maskenpflicht, Hygiene, Lüften) können hier – teilweise mit Ausnahme der Abstandsregelung – im Normalfall gut eingehalten werden.

So gilt seit Ende April im ÖPNV eine allgemeine Maskenpflicht. Zwar schützen auch Masken nicht zu 100 Prozent, im ÖPNV wird die Maske aber – anders als etwa in privaten Räumen – nach Aussage mehrerer Verkehrsunternehmen vergleichsweise konsequent getragen. So teilten auf BR24-Anfrage die Sprecher der Verkehrsbetriebe in München, Nürnberg und Bamberg mit, die allermeisten Fahrgäste befolgten die Maskenpflicht in ihren Städten. In Nürnberg etwa trugen bei Kontrollen 98 Prozent der Fahrgäste eine Maske.

Häufiges Lüften und kurze Aufenthaltsdauer

Ein weiterer Faktor, auf den Verkehrsunternehmen hinweisen: Die Aufenthaltsdauer ist im ÖPNV vergleichsweise kurz. Anders als etwa im Fernverkehr sitzt man hier nicht mehrere Stunden neben derselben Person. Auch regelmäßiges Lüften ist im ÖPNV meist kein großes Problem. Die Türen von Bus und Bahn werden an fast jeder Haltestelle und damit normalerweise im Minutentakt geöffnet.

In allen Städten, in denen der Faktenfuchs nachgefragt hat, werden die Fahrer zudem von den Unternehmen angehalten, die Fenster – wenn möglich – regelmäßig zu öffnen und an den Wendepunkten und Endhaltestellen gründlich durchzulüften. Eine Sprecherin der Stadtwerke Bamberg weist am Telefon allerdings darauf hin, dass dies natürlich kaum kontrolliert werden könne.

Seit Beginn der Pandemie haben viele bayerische Verkehrsunternehmen außerdem zusätzliche Hygienemaßnahmen eingeführt. So teilt eine Sprecherin der Nürnberger VAG mit, ihr Unternehmen setze zu Stoßzeiten derzeit mehr Züge, Busse und Wagen ein als üblich. An den letzten beiden Streiktagen habe man sich nach den teils überfüllten Bussen des ersten Warnstreiks aber dafür entschieden, lieber gar keine Fahrten anzubieten als nur weniger, um keine zusätzlichen Infektionen zu riskieren.

Zudem würden bestimmte Bereiche der Fahrzeuge, die besonders viel angefasst werden, seit Beginn der Pandemie häufiger gereinigt als vorher. Oberflächen wie Haltestangen und Sitze sollen in Nürnberg zudem künftig in allen Fahrzeugen "mit einer antiviralen, antibakteriellen und antimikrobiellen Lösung" behandelt werden.

Waren Busse und Bahnen an den Streiktagen überfüllt?

Dennoch: Ganz ausschließen lässt sich eine Ansteckung im ÖPNV natürlich nicht. Und mit sinkenden Abständen steigt auch wieder das Risiko. Das bestätigt auch Dieter Hoffmann, stellvertretender Leiter des Instituts für Virologie an der TU München.

Entscheidend sei allerdings die Frage, ob Busse und Bahnen wirklich überfüllt waren. Schließlich sei auch denkbar, dass viele Passagiere seit Beginn der Pandemie ohnehin eher auf andere Verkehrsmittel ausweichen – und sich mit den Streikankündigungen auf die Ausfälle eingestellt hätten.

Richtig ist: Die ÖPNV-Nutzung hat mit Beginn der Corona-Epidemie im Frühjahr stark abgenommen. Teilweise sanken die Zahlen auf etwa 20 Prozent des Normalbetriebs, sagt Matthias Korte, Sprecher der Münchner Stadtwerke – weil viele Menschen im Homeoffice oder in Kurzarbeit waren, ihren Job verloren oder aus Sorge vor einer Infektion auf andere Verkehrsmittel umstiegen. In den letzten Monaten habe die Nutzung aber wieder stark zugenommen. Inzwischen liegt die Auslastung wieder bei 70 bis 75 Prozent des Normalbetriebes.

Passagiere hatten sich offenbar auf Streiks eingestellt

Fragt man die Sprecher der großen bayerischen Verkehrsgesellschaften konkret nach den Streiktagen, scheinen sich die Passagiere insgesamt gut auf die Streiks eingestellt zu haben. In manchen Städten wie Bamberg stand der öffentliche Nahverkehr an den Streiktagen ohnehin komplett still – hier sank das Ansteckungsrisiko also eher, als dass es gestiegen wäre. Auch in Nürnberg fuhren die Busse und Bahnen der VAG zumindest am zweiten und dritten Streiktag gar nicht aus. Am ersten Warnstreiktag im September seien die Busse des Ersatznetzes aber "sicherlich teilweise gut voll" gewesen, schreibt eine Sprecherin der VAG. Über den gesamten Tag betrachtet, sei die Auslastung sehr unterschiedlich gewesen.

Auch in München, so Matthias Korte, der Sprecher der Stadtwerke, sei die Situation "uneinheitlich" gewesen. Es habe "stärker und weniger stark ausgelastete Fahrzeuge" gegeben. Da der Streik frühzeitig angekündigt war, hätten sich die Fahrgäste aber zumindest darauf einstellen können.

In Regensburg, wo der komplette Stadtbusverkehr während der Streiktage ausfiel, sind die Menschen teilweise auf Regionalbuslinien ausgewichen, die auch in der Stadt Regensburg fahren: "Dies führt dazu, dass das Abstandsgebot im Bus vielfach nicht mehr eingehalten werden kann", so ein Sprecher des Landkreises Regensburg.

Gab es Infektionen im Zusammenhang mit den Streiks?

Der Faktenfuchs hat die Gesundheitsämter mehrerer bayerischer Städte gefragt, ob es im Zusammenhang mit Warnstreiks zu erhöhten Infektionszahlen gekommen sei. In keiner der Städte, die die Anfrage beantworteten – darunter München, Nürnberg, Augsburg, Regensburg und Landshut – ist ein solcher Zusammenhang bekannt. Das gilt auch da, wo es wie in München, Nürnberg oder Regensburg teilweise zu überfüllten Bussen und Bahnen kam.

Auch unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ÖPNV in München und Nürnberg gebe es bisher nur wenige Infektionen, teilen die Sprecher der beiden Verkehrsbetriebe auf Anfrage mit.

Fazit

In Erhebungen des RKIs zu der Frage, wo sich Menschen mit SARS-CoV-2 infizieren, spielten Verkehrsmittel bisher so gut wie keine Rolle. Allerdings weist das RKI selbst darauf hin, dass Ansteckungen etwa in der Bahn schwer nachzuvollziehen und daher möglicherweise untererfasst sind.

Zudem gelingt es den Gesundheitsämtern derzeit nur in etwa einem Viertel der Fälle, den Ort der Ansteckung zu identifizieren. In einigen Städten, die BR24 dazu befragte, kam es aufgrund der ÖPNV-Warnstreiks zu überfüllten Bussen oder Bahnen. Allerdings gab es auch Städte wie Bamberg, wo der ÖPNV an den Streiktagen komplett zum Erliegen kam. In Nürnberg entschied sich die VAG aufgrund der Erfahrungen am ersten Streiktag zuletzt, lieber gar keinen Ersatzbetrieb zur Verfügung zu stellen, als zu viele Menschen in überfüllte Busse zu lassen.

In keiner der befragten Städte hatten die Gesundheitsämter Hinweise darauf, dass es im Zusammenhang mit den Warnstreiks zu einem Anstieg der Infektionen gekommen ist. Auch unter den Mitarbeitern der ÖPNV-Betriebe ist keine Häufung der Infektionen bekannt. Ganz auszuschließen ist ein Ansteig der Infektionen aufgrund der Warnstreiks wegen der schwierigen Datenlage allerdings auch nicht.

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