"Jade"-Mitarbeiterin Veronika Muscolino hilft Schülern bei ihrer Bewerbung.
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"Jade"-Mitarbeiterin Veronika Muscolino mit Jens (Name von der Redaktion geändert)

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Kein Abschluss, keine Ausbildung – was Jugendlichen hilft

Kein Abschluss, keine Ausbildung, kein Plan: Rund 47.500 Jugendliche beenden jährlich ihre Pflichtschulzeit ohne Mittelschulabschluss. Zugleich suchen viele Betriebe verzweifelt Fachkräfte. Was Kindern mit zusätzlichem Förderbedarf hilft.

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Veronika Muscolino ist Ideengeberin, Wegweiserin, Motivatorin und Bewerbungshelferin. Das gelb gestrichene Beratungszimmer der "Jade"-Sozialarbeiterin befindet sich in einem mehr als 100 Jahre alten Gebäude der Mittelschule am Gotzinger Platz im Münchner Stadtteil Sendling. "Jade" ist ein Kooperationsprojekt der Landeshauptstadt München, der Agentur für Arbeit, des Jobcenters München und des Staatlichen Schulamtes. Das Ziel: Jugendliche an die Hand nehmen.

"Ich habe wenig gelernt"

Vor ihr sitzt Jens, der in Wirklichkeit anders heißt. Im vergangenen Schuljahr ging der Junge noch auf eine andere Mittelschule in München. Seinen Quali, also den Qualifizierten Mittelschulabschluss, schaffte er nicht. "Die Klasse war irgendwie chaotisch", erinnert er sich. "Also man hatte nicht wirklich Unterricht. Aber das Problem war einfach auch meine Faulheit. Ich habe wenig gelernt."

Der 15 Jahre alte drahtige Junge macht gerne Kampfsport, verbringt viel Zeit mit seinen Freunden. Gute Noten stehen bei dem Teenager – wie bei vielen Jugendlichen in der Pubertät – nicht an oberster Stelle. Zudem war das vergangene Jahr schwierig für Jens Familie. Sein Vater starb. Nun kümmert sich seine Mutter um ihn. Die aus Bosnien stammende Frau ermutigte ihn, noch einmal beim Quali anzutreten.

47.500 Jugendliche ohne Mittelschulabschluss

2021 haben in Deutschland rund 47.500 Jugendliche ihre zwölfjährige Pflichtschulzeit beendet, ohne zumindest den Mittelschulabschluss zu erwerben. Das entspricht einem Anteil von etwas mehr als sechs Prozent an allen Gleichaltrigen. Nach einer Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung (externer Link) sind Jungen mit 60 Prozent häufiger betroffen als Mädchen, junge Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit mit gut 13 Prozent fast dreimal so oft wie deutsche Schüler. Jeder zweite Jugendliche ohne Mittelschulabschluss war in einer Förderschule. Wer keinen Abschluss hat, hat ein höheres Risiko, in gering bezahlten Jobs zu landen. Auch die Chancen auf eine Ausbildung sind deutlich schlechter.

Grafik: Schüler ohne Mittelschulabschluss nach Schularten

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Jeder zweite Jugendliche ohne Mittelschulabschluss war in einer Förderschule.

Auf der Suche nach einer Ausbildung

Jens möchte nach dem Quali eine Ausbildung machen – am liebsten als Kfz-Mechatroniker bei der Münchner Automobilhandelsorganisationen Mahag. Muscolino bereitet mit ihm seine Bewerbung vor. Während Muscolino mit Jens an seinem Anschreiben feilt, kommen immer wieder Schülerinnen und Schüler vorbei, wie die 16 Jahre alte Samira – auch sie heißt in Wirklichkeit anders. Das zurückhaltende Mädchen sucht einen Ausbildungsplatz als medizinische Fachangestellte. Die Schülerin wiederholt ebenfalls die Klasse. "Man denkt, das wird schon nicht so schwer. Ich kann das schon. Oder man schnuppert mal so ganz kurz rein ins Thema. Aber man lernt nicht wirklich", sagt sie rückblickend.

Veronika Muscolino gibt den Jugendlichen so wie jetzt Samira immer positives Feedback. Sie lobt, wenn sie Termine einhalten. Sie scannt und druckt Unterlagen für die Schülerinnen und Schüler aus, denn viele haben weder PC noch Drucker zu Hause. Nach gut zwei Stunden ist die Bewerbung von Jens fertig. Der Jugendliche will sie persönlich bei der Mahag vorbeibringen. Bevor Jens geht, rührt die Sozialarbeiterin noch die Werbetrommel für einen kostenlosen Nachhilfeunterricht im angeschlossenen Jugendtreff Zenetti-Treff des Jugendhilfeträgers. "Vielleicht kannst du dich dann zur nächsten Probe schon ein bisschen verbessern."

Kostenloser Nachhilfeunterricht im Jugendtreff

Der Nachhilfeunterricht ist im Münchner Schlachthofviertel. Jens ist nicht gekommen, dafür sitzen ein Junge und ein Mädchen mit Nachhilfelehrerin Kathi an einem langen Holztisch. Der 13 Jahre alte Burak geht in die 8. Klasse. Er ist zum ersten Mal hier. Der schüchterne Junge aus Istanbul ist erst seit vier Jahren in Deutschland. Im Moment schreibt er Dreier und Vierer. Damit ist er nicht zufrieden.

Nachhilfelehrerin Kathi versucht herauszufinden, wo Burak steht. Die 16 Jahre alte Meryam schreibt währenddessen eine Erörterung. Die junge Frau kam vor sieben Jahren aus dem Irak. Die Schülerin lernt seit einem Jahr ein- bis zweimal pro Woche im Jugendtreff, möchte im M-Zug den Realschulabschluss machen. "Ich hatte einen Viererschnitt und jetzt habe ich einen Einser-, Zweierschnitt." Nachhilfelehrerin Kathi lobt: "Sie ist aber auch superfleißig."

Welche Bedeutung hat Bildung?

Kathi lacht viel. Sie versucht, die Jugendlichen bei Laune zu halten. Viele Kinder kämen einmal und dann nie wieder, weil sie von Lehrern oder den Eltern geschickt werden, ihnen aber die Motivation fehle. "Und dann war das ein Hallo und ein auf Wiedersehen – und sie waren nie wieder gesehen." Die Jugendlichen bräuchten sehr viel Eigenantrieb, um ihre Noten zu verbessern. Auch spiele es eine große Rolle, welche Bedeutung Bildung in der Familie habe. Kathi: "Viele haben auch andere Probleme. Das heißt, sie leben halt in beengten Verhältnissen, da ist die Lernsituation vielleicht nicht optimal. Man merkt es schon, dass nicht alle diesen Münchner Standard leben."

Angebot für Jugendliche ohne Plan

Auch im JIBB (Junge Menschen in Bildung und Beruf) im Gebäude der Agentur für Arbeit bemühen sich Mitarbeiter um Jugendliche. In Nischen sitzen Berater. Zu ihnen können junge Menschen ohne Termin kommen – wenn sie die Schule geschmissen, keinen Abschluss, kein Praktikum, keine Ausbildung oder einfach: keinen Plan haben. Die Corona-Pandemie und das Homeschooling habe es für viele Jugendliche, die es sowieso schon schwer hatten, noch einmal schwerer gemacht, sagt Angelika Gössl, Koordinatorin bei JIBB.

Die erfahrene Beraterin erzählt von einem 16-Jährigen, der erst kürzlich vor ihr saß. Der Junge habe ständig die Schule geschwänzt, sei gewalttätig gewesen und von mehreren Schulen verwiesen worden. "Und auf die Frage, warum er das alles macht, kann als Erstes die Antwort: 'Ich brauche Aufmerksamkeit.' Also ich denke mir manchmal: Wo ist der Hilfeschrei früher nicht rechtzeitig gehört worden?" Der junge Mann ist inzwischen bei einem Fachdienst untergebracht, der zur Jugendhilfe gehört.

Stärken stärken in der berufsbezogenen Jugendhilfe

Projekte der berufsbezogenen Jugendhilfe gibt es nicht nur für Jungen, sondern auch für Mädchen. Das Projekt Azubine Plus im Stadtteil Obersendling richtet sich an 15- bis 25-Jährige. Projektleiterin Jorunn Kirchner erzählt, dass Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen die Teilnehmerinnen immer wieder ermutigen und ihre Stärken betonen: "Die wachsen zweisprachig auf, sehen das aber gar nicht als Ressource, weil es so normal ist."

Viele würden schon mit 15 Jahren eine sechsköpfige Familie managen. "Das ist natürlich brutal anstrengend. Vieles Persönliche fällt da hinten runter, aber grundsätzlich sind das Organisationstalente." Die 15 Jahre alte Dunja erzählt: "Ich war davor auf einer Mittelschule. Wenn man in einer größeren Klasse ist, kann man halt nicht ausführlich fragen. Hier ist es anders. Also man kann die wirklich so viel fragen, wie man will. Niemand ist genervt oder sowas."

Handwerk sucht händeringend Fachkräfte

Dunja könnte sich vorstellen, eine Ausbildung als Konditorin zu beginnen. Angesichts des Fachkräftemangels sind einige Firmen bereit, ihre Ansprüche herunterzuschrauben und auch Jugendliche auszubilden, die keinen oder keinen guten Abschluss haben. Allein im Handwerk leidet nach einer Erhebung der Bundesagentur für Arbeit inzwischen jeder dritte Berufszweig unter erheblichem Fachkräftemangel. Wirtschaftsvertreter werben deshalb in Schulen um mögliche neue Mitarbeiter.

Serkan Engin wirbt in Schulen für das Handwerk

Der 42-jährige Serkan Engin arbeitet für das Netzwerk Schulewirtschaft und für die Handwerkskammer für München und Oberbayern. Nun steht er im dunklen Anzug und in polierten Lederschuhen vor 22 Schülerinnen und Schülern der 10a in der Mittelschule in der Wittelsbacherstraße und wirbt für das Handwerk. Die Jugendlichen wollen in diesem Schuljahr den Mittleren Schulabschluss, also den Realschulabschluss machen. Ein paar wenige Schülerinnen und Schüler wollen Kfz-Mechatroniker oder Erzieherin werden, oder irgendwas mit IT machen. Doch die meisten Teenager haben andere Pläne – sie wollen auf die FOS, also die Fachoberschule.

"Ich bin ehemaliger Mittelschüler"

Als ein paar Schüler stören, redet Serkan Engin schnell Klartext: "Das war jetzt das letzte Mal, dass Du gelacht hast, das stört maximal", sagt er streng. "Ich hätte mir solche Leute (wie mich) früher gewünscht, denn ich bin ehemaliger Mittelschüler." Nun hören ihm die Schüler zu. Serkan Engin, Sohn türkischer Gastarbeiter, ist ein positives Beispiel dafür, dass das Bildungssystem durchlässig ist. Seine Eltern hätten viel gearbeitet, nach der Schule sei er oft bei den Nachbarn gewesen, erzählt er. "Das war für mich auch eine andere Welt, mit der ich zurechtkommen musste. Aber sie haben mir ein bisschen Hilfe gegeben: Nachhilfe."

Engin machte den Realschulabschluss nach und eine Lehre im Fachgroßhandel – inzwischen ist er Betriebswirt.

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Serkan Engin besucht Schulen und wirbt für das Handwerk

Bildungschancen von Faktoren wie Herkunft abhängig

Viele der Schülerinnen und Schüler in der 10a sprechen – so wie Serkan Engin früher – zuhause eine andere Sprache. Laut Statistik haben in Bayern gut 44 Prozent der Kinder an Mittelschulen Migrationshintergrund. An Gymnasien sind es nur rund 15 Prozent. Forscher kritisieren seit langem, dass die Bildungschancen von Kindern stark von Faktoren wie Herkunft, Bildung und Einkommen der Eltern abhängig sind. Die Pisa-Studie habe erneut gezeigt, dass die Entkopplung von der Bildungsherkunft der Eltern nicht gelinge, sagt Susan Seeber, Professorin für Wirtschaftspädagogik an der Universität Göttingen. "Wir haben nicht ein Migrationsproblem, sondern wir haben ein Förderproblem von bildungsferneren Kindern und Jugendlichen."

Über Praktikum zum Job?

Für Schüler mit eher schlechten Noten ist es oft schwierig, einen Ausbildungsplatz zu finden. "Jade"-Mitarbeiterin Muscolino freut sich deshalb, dass sie einen ihrer Schüler für ein freiwilliges Praktikum an Daimler Truck in Garching-Hochbrück bei München vermitteln konnte. Nun kommt es darauf an, wie sich der Jugendliche im Betrieb macht. Doch der Schüler meldet sich am Morgen krank. Kurzfristige Absagen kämen häufiger als früher vor, sagt Teammeister Stefan Kratzl von Daimler Truck. "Man sagt eher mal schneller ab, man ist eher krank. Es tut schneller was weh, das ist heutzutage schon deutlich mehr."

Chance für lernschwächere Schüler

Natürlich möchte das Unternehmen Schüler mit guten Abschlussnoten gewinnen, aber wenn die Motivation stimmt und die Bewerber handwerklich geschickt sind, bekommen auch schwächere Schüler eine Chance – und wenn nötig, auch Nachhilfeunterricht. In der riesigen Werkhalle wird geschraubt und gehämmert. Der 20-jährige Münchner Robin schreibt in Kürze seine Abschlussprüfung als Kfz-Mechatroniker. Der ehemalige Realschüler hörte in der 9. Klasse auf. "Ich tue mir in der Theorie nicht so leicht, aber dafür würde ich sagen, dass ich praktisch ganz versiert bin", sagt Robin. Sein Chef nickt: "Ja, da ist er super."

Viele Angebote, aber zu wenige Personal

Der Schüler, der nicht aufgetaucht ist, hat seine Chance verspielt. Robin hat seinen Abschluss geschafft und arbeitet nun als Geselle. Jens hat ein Praktikum bei der Mahag ergattert – und auch eine Lehrstelle. Auch seine Mitschülerin Samira machte bei einem Praktikum einen so guten Eindruck, dass sie ein Angebot für eine Ausbildung als medizinische Fachangestellte erhalten hat. Lehrerinnen, "Jade"-Mitarbeiter, Schulsozialarbeiter, Nachhilfelehrerinnen, Berufsberater, berufsbezogene Projekte – es gibt viel Unterstützung für Jugendliche, die zusätzliche Hilfe brauchen.

Auch Michael Hopp, Lehrer der 10a, findet, dass es sehr gute Angebote gibt, aber: "Es fehlt an Personal. Ganz klar, da braucht man nicht reden. Die Klassen müssten kleiner werden", betont er. Außerdem bräuchte es aus seiner Sicht mehr Förderung für Kinder, die Probleme in Deutsch haben. Aber: "Förderlehrer fehlen halt ohne Ende und eben auch reguläres Lehrpersonal."

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